„Die Muttergeschichte lässt sich nicht ändern“. Text von Dmitrij Kapitelman
„Deine Heimat ist dort, woher Deine Traumata stammen“ – so lautete eine Veranstaltung der Villa Concordia in Zusammenarbeit mit dem Literaturportal Bayern, die am 20. September 2022 im Internationalen Künstlerhaus in Bamberg stattfand. Vier in der Ukraine geborene, später im deutschsprachigen Raum angekommene Schriftsteller*innen – Jan Himmelfarb, Dmitrij Kapitelman, Tanja Maljartschuk und Halyna Petrosanyak – zeigten einen Abend lang in Lesung und Gespräch, wie fest das Band der Herkunft schnürt, insbesondere wenn ihr Land sich verteidigen muss. Die Moderation hielt Verena Nolte. Die Veranstaltung wurde mit finanziellen Mitteln des Bayerischen Staatsministeriums für Wissenschaft und Kunst gefördert.
Die folgenden Aufzeichnungen, die unter dem Eindruck einer Reise auf die Krim 2019 geschrieben wurden, las Dmitrij Kapitelman und wir veröffentlichen sie mit freundlicher Genehmigung des Autors.
*
Die Muttergeschichte lässt sich nicht ändern
Historische Ereignisse sind wie Eltern: Niemand kann sie sich aussuchen, alle gehen aus ihnen hervor. Gehen zwangsläufig mit ihnen mit, manchmal an ihnen ein, früher oder später ohne sie weiter – bleiben aber unumgänglich von ihnen geprägt.
„Die Krim ist russisch! Sie war schon immer russisch! Putin hat recht!“, sagte meine Mutter 2014 zur Annexion der ukrainischen Halbinsel. Ihr Fernseher mit den russischen Staatswahrheiten sagte das ebenfalls. Dieses billige Gerät, das einen die Weltsicht kosten kann, stand schon seit vielen Jahren bei ihr in Leipzig. Direkt über der Kücheneckbank stand es, damit auch ja keiner vergisst, die Wahrheiten mehrmals täglich einzunehmen.
Aber wo standen wir, zwanzig Jahre nachdem unsere Familie Kyjiv, nachdem wir die Ukraine verlassen hatten? (Allein diese ukrainische Schreibweise des Stadtnamens würde sie aufbringen.) Offenbar bestanden Mutter und Sohn inzwischen aus verschiedenen Welten: „Amerika lässt Russland doch gar keine andere Wahl! Du verstehst das als westverblendeter Mensch eben nicht!“
„Dobry Den“ (guten Tag), ich bin Dmitrij, aus Kiew, ein Sohn des Westens. Nach dem russischen Einmarsch schien es nichts Wichtigeres mehr zwischen Mutter und Sohn zu geben als die Krim, das Völkerrecht oder die Lage der Tataren. Und es wurde nie mehr wie zuvor zwischen uns. Politische Gespräche, auch über ganz andere Themen, blieben unmöglich. Zumindest von gegenseitigem Verdacht belegt. In manchen Belangen sind Mütter und Söhne eben unverwandt, tröstete ich mich mit der Zeit. Dann lieben wir einander eben feindlich weiter, tröstete ich mich. Ändern lässt sie sich ohnehin nicht, die Mutter / die Geschichte, tröstete ich mich. Ich verstehe, wie befremdlich sich diese distanzierten Sätze lesen müssen. Wie viel Ungesagtes in ihnen liegt, jenseits alles Politischen. Sicher auch eine gewisse Lächerlichkeit: einst nackter, schutzloser Säugling an Mamas Brust, nun den schonungslosen Souverän mimen.
Ich möchte diese Aufzeichnungen aber ohnehin für eine etwas andere Entbindung nutzen. Und von meiner Reise auf die Krim erzählen. Eine sehr verwirrende, grautönig komplizierte Reise, an die ich seitdem unzählige Male zurückdenken musste. Deutlich spürend, dass da eine Lehre an mir zieht, bis ich bereit bin, sie zu ziehen.
Eine Reise, die mich vorübergehend zum Zweifel zwang, ob ich nicht zumindest auf einem Auge westverblendet sein könnte. (Wer weiß, ein wenig wünscht man sich wahrscheinlich immer, dass die eigene Mutter mit ihren Urteilen recht behält. Oder zumindest ein gutes Recht hat, sich zu irren.) Erst der 24. Februar 2022 begrub diese Zweifel endgültig.
Wir schreiben das Jahr 2019. Wolodimir Selenski kann noch nicht ahnen, wie sehr er die Rolle seines Lebens gefunden hat. Und verspricht bei Amtsantritt, den elenden Krieg im Osten des Landes zügig zu beenden. Von diesem Krieg ist in der Stoliza gar nicht so viel zu spüren. Die ukrainischen Nachrichten beginnen noch nicht einmal mehr mit dem Frontbericht.
Gut, wer den Uber-Fahrern länger zuhört, erfährt oft, dass sie aus dem Donbass geflohen sind. Und die Immobilienpreise sind deutlich gestiegen, ebenfalls wegen der vielen Binnenflüchtlinge aus dem Osten. Ein bisschen mehr Folklore trägt die Stadt auf, Nationaltrachten. In zentralen U-Bahn-Stationen hängen Plakate der kämpfenden Heldensoldaten aus. Aber sonst? Jung ist Kiew, fröhlich und frei über den Chreschtschatik flanierend, Festivals feiernd. Ja, im Sommer fließt sogar ein wenig Euphorie im Dnipro mit.
Ich hingegen bin zu ganz trockenen Angelegenheiten in Kiew, wegen Dokumenten für meine Ausbürgerung. „Bearbeitung dauert 2 bis 80 Tage“, taxieren die sehr elegant gekleideten, jungen Sachbearbeiterinnen der Hauptstadt. Viel Zeit. Auf der Suche nach Möglichkeiten, diese sinnvoll zu füllen, erfahre ich, dass es nur eine einzige Staatsbürgerschaft weltweit gibt, dank der man ohne Extra-Visumsantrag auf die russische Krim reisen kann – die ukrainische Staatsbürgerschaft. Ironie ist gar kein Ausdruck.
Sobald ich beschließe, zur Halbinsel der vollen Unversöhnlichkeit aufzubrechen, fühlt sich mein Herz an, als würde es Liegestütze machen. Peitschender Puls, selbst fünf Jahre später. Flüge gibt es wegen der Sanktionen keine mehr. Aber der Nachtzug nach Nowoolexijiwka verkehrt noch. Etwa siebzehn Stunden, 700 Kilometer ins ukrainische Niemandsland. Von dort aus gilt es dann, einen Fahrer zur militarisierten Grenze zu finden. Das ist nicht legal und letztlich leichter als gedacht.
Im verblassenden Blau der Morgenstunden schreien die Schleuser bereits heiser: „Hinter die Grenze! Hinter die Grenze!“ Mit zwei älteren Damen und einer jungen Frau husche ich hektisch in den grauen Skoda eines Mannes namens Michail. Dieser rast geisteskrank, aber spricht seelenruhig: „Bald ist Schichtwechsel an der Grenze, dann dauert alles länger. Wir müssen uns beeilen!“
Nachdem die Sonne ihren Antrag auf Tagesbeschäftigung vollständig ausgefüllt hat, wird links ein wenig Meerzunge sichtbar, die sich dürr und hechelnd in die staubige Sandküste legt. Außerdem ein Zelt für jene, die die Grenze zu Fuß überqueren. Barrikaden, Zäune, Stacheldraht, zuerst in Ukraine-, dann Russlandfarben gestrichene Container. Alle hier sind angespannt. Selbst die Spatzen, die sich ringsherum auf fette Brotkrumen stürzen.
„Falls die Grenzposten fragen, wir sind alle Freunde, die einen Ausflug nach Simferopol machen. Auf gar keinen Fall verraten, dass ihr mich für die Fahrt bezahlt, klar?“ Michail blickt sich bei diesem Satz prüfend im Auto um. Ein Blinder würde erkennen, dass hier keine Freunde sitzen. Ganz im Gegenteil, meine drei Mitinsassinnen fangen an, über die Annexion zu streiten. Ihre Pässe dabei wie Pistolen für den Ernstfall umklammernd: „Ich habe die Krim immer als russisch empfunden, die haben mir die Ukraine aufgezwungen!“
Das höre ich nicht so gern. Sehr kurze Beine, eine unangenehm belehrende Stimmlage und einen zerfledderten ukrainischen Pass hat die ältere Dame, die das sagt. Moment mal, woher haben die Spatzen hier Brot? Die Krumen gab es bestimmt nicht, als das hier noch eine schlichte Niemandslandstraße ohne Militärgrenze war.
„Manchen Leuten bedeutet der Pass in ihrer Tasche etwas! Schon einmal etwas von Patriotismus gehört?“, echauffiert sich die junge Frau. Sie fuchtelt mit ihrem strahlend neuen, biometrischen Pass der Ukraine.
„Anpassen muss man sich, anpassen“, kräht die dritte Dame besserwisserisch vom Vordersitz.
„Anpassen, anpassen, anpassen. Hätte ich nach dem Referendum nicht sofort einen russischen Pass beantragt, ich hätte meine kranke Mutter vor ihrem Tod nicht mehr gesehen!“
„Unterwerfen nennt man das! Wie Hunde!“, schießt es erbittert aus der jungen Frau zurück.
„Wen nennen Sie hier Hündin, Fräulein?!“
Ob es wohl eher russische oder ukrainische Soldaten sind, die den Grenzspatzen Brot streuen? Oder die wartenden Zivilisten aus ihren Autofenstern? Ja, ich versuche die Unstimmigkeiten zu überhören. Fast kindisch. Wieso bin ich seit bald dreißig Stunden zu einem Ort unterwegs, der mir Peitschpuls einbrockt? Wäre es nicht leichter gewesen, Mama anzurufen?
„Bitte, bitte, bitte, nur keine politischen Diskussionen im Auto!“, interveniert Michail. Und fährt, seit Stunden stehend, fort: „Ich bin dafür, dass alles nicht noch schlimmer wird! Das ist meine politische Position. Diese ganzen Grenzen, diese ganzen Gesetze, ich brauche langsam einen Psychiater! Und ich sage euch, die Grenzbeamten hier sind genauso durch! Von denen wird keiner viel älter als vierzig! Können wir nicht einmal von etwas Schönem sprechen? Von Liebe?“
V.l.n.r: Dmitrij Kapitelman, Tanja Maljartschuk, Verena Nolte, Halyna Petrosanyak, Jan Himmelfarb. Lesung am 20. September 2022 in Bamberg. Foto: Joseph Beck
Kuschen vor dem Milizionär
Es wird so still im Skoda, dass man die Grenzspatzen schlingen hören kann. Michail (in Wahrheit heißt er Mohammed, ein Krimtatar) schaltet das Autoradio an, und eine Frau singt stellvertretend für alle von Liebe. Die widerstreitenden Meinungen zur Bestimmung der Krim mögen verwirrend gewesen sein. Wenig westkompatibel auch in ihrer komplizierten Vielschichtigkeit. Aber zumindest habe ich an jenem Morgen verstanden, wieso die kitschigste Pop-Musik stets auch die erfolgreichste ist.
Der russische Grenzmilizionär, der uns bereits in der glühenden Mittagssonne heranzitiert, gleicht tatsächlich einer abgekämpften Autoritäts-Attrappe, so wie es Michail beschrieb. Ein hochgewachsener Mittdreißiger, der zuvor mit halbtoten Augen die Sachen eines kleinen Mädchens durchsucht hat, bis auf die Disney-Dose. Er spricht schwerfällig, aber scharf. Sichtlich selbst vom Befehlston ermattet. Das können weder die voluminösen Schulterpolster noch die schneidig gebügelten Hosenbeine seiner grünen Uniform kaschieren. Und dennoch kuschen alle vor ihm, alle drei Staats-Streiterinnen aus unserem Auto buckeln. Ich genauso.
In Sewastopol, wo nach der deutschen Nazibarbarei nur neun Gebäude unbeschädigt blieben (historische Verantwortung, eine wichtige Sache), wird mir bald ein anderer abgeschlaffter Milizionär Angst einflößen. Nicht unbedingt Angst, eher Misstrauen. Ich betrete abends die Lobby des Hotels Ukraina (auf der besetzten Krim). Wo der Fernseher über der Bar zeigt, wie die Moskauer Polizei Schäferhunde auf Demonstranten hetzt.
Das waren die guten Zeiten, als es noch so viele Demonstranten in Russland gab, dass die Sondereinheit Omon Hunde gebraucht hat. Der Polizist in der Hotellobby starrt erst zum Fernseher, dann zu mir und murmelt: „Das wird Putin auch mit uns hier machen, falls wir aufmucken.“ Warum ist er so vertrauensselig? Könnte eine Falle sein.
An der Militärgrenze standen wir letztlich sieben Stunden. Und die Aufenthaltserlaubnis ist sehr genau begrenzt worden. Selbst eine SIM-Karte auf der Krim zu kaufen, erforderte eine halbe nachrichtendienstliche Erfassung, Youtube lässt sich zeitweise nicht aufrufen. Ich sage daher nichts und gehe auf mein Zimmer. Schaue erst eine Wiederholung des ukrainischen Dancing with the Stars mit Selenski, der einen respektablen Rumba aus der Hüfte reckt.
Und dann Krim TV. Nachrichten: „Ein defektes Abwasserrohr läuft vor Sewastopol ins Schwarze Meer aus. Seit sechzehn Jahren besteht das Leck bereits. Die Verschmutzung ist so massiv, dass sie aus dem Weltall zu erkennen ist, wie diese Aufnahmen eines Satelliten zeigen.“ Meine Fresse! Sechzehn Jahre? Vom Weltall aus zu sehen?! Wie ist das möglich, denke ich und komme mir ein wenig westlich in meinem Funktionalitätsfuror vor.
Am Ende kommt alles raus, predigt meine Mutter immer. Vera, die einen russischen Vater hatte, den sie kaum je kannte. In der Moldau geboren wurde, als junge Frau in die Ukraine migrierte und Russisch spricht. Letztgenanntes sei ihr in der Ukraine oft verübelt worden. Was Vera allerdings erst betont, seit ihr russischer Fernseher das täglich tausendfach betont. „Wsjo wilesit“, sagt sie, alles kriecht hoch, alle versenkte Lüge schießt irgendwann doch wieder an die Oberfläche. Und ich hoffe dann immer in einer ganz bestimmten Hinsicht, dass sie recht behält in ihrer Küchenecke.
Da das Leck unter ukrainischer Regentschaft aufbrach, wird selbstverständlich die korrupte Ukraine beschuldigt. Allerdings zeigen sowohl die schmutzige Gegenwart als auch ein wenig Gegenrecherche, dass die neuen russischen Regenten in ihren fünf Jahren absolut nichts gegen das Desaster unternommen haben (und dass Geld versickert ist, welches für die riesige Reparatur budgetiert war).
Nun herrsche jedenfalls absolutes Badeverbot an den Stränden Sewastopols, besonders bei Westwind. Ich gehe noch einmal in die Lobby, um den zutraulich rebellischen Ordnungshüter zu fragen, ob er etwas von der Umwelthavarie wisse. Aber er schlummert schon so süss in seinem Securitysessel.
Am nächsten Morgen beschließe ich, selbst nachzusehen, und fahre zu den Stränden der Stadt. Gemessen an meinem peitschenden Puls geht es dabei in Wahrheit weder um Wasserqualität noch die Krim. Aber dieses Eingeständnis schlage ich aus meinem Herzen. Mutterland ist überall für die, die mit ihren Müttern keinen gemeinsamen Grund finden.
In den Straßen, an den Einkaufszentren, Busstationen, Theatern und sogar Kirchen sind erdrückend viele Wahlplakate von Einiges Russland aufgehängt. Sie wellen sich in der Hitze der Krim und geben den Kandidaten Putins ein paar lustige, entstellende Falten auf die Fressen.
Der Chrustalny-Strand scheint indes absolut nichts von seiner Beliebtheit beim Badevolk eingebüßt zu haben. Sicher, hier und da steht ein kleines Schild am Rande, auf dem warnend geschrieben steht, dass das Wasser kontaminiert sei.
Zufälligerweise ist diese negative Botschaft in blau-gelben Farben gehalten. „Aber es sieht gar nicht kontaminiert aus“, rufen die Planschenden selig. „Und es riecht auch gar nicht kontaminiert“, präzisieren sie auf Nachfrage hin, sich wohlig abtrocknend und in saftige Melonenstreifen beißend. Ich bin hier ein wunderliches Westwiesel, in viel zu ernsten, dicken schwarzen Diesel-Jeans, so mitten in der Sommerwonne.
Gut, mag ja sein, dass man jetzt nicht gleich tot umfällt. Aber wenigstens der Bademeister wird doch über den Grad der Verschmutzung informiert sein. Oder? „Ja, bin ich“, meint der relativ junge und doch leicht angegraute Bademeister trocken. Und schweigt sich aus, von seinem Holzhäuschen herab. Prima. Ja – das ist das Gegenteil von Nein. „Ja, und da sehen Sie zu, wie die ganzen Leute weiter mit ihren Kindern hier baden? Wie gefährlich ist das Wasser denn nun wirklich kontaminiert?“
„Ich habe mein mobiles Labor heute leider zu Hause vergessen. Sonst würde ich Ihnen natürlich die Mikroben vorzählen.“
Ich gebe auf und drehe schon ab, doch da scheint jemanden die eigene spitze Zunge ins Gewissen gepikt zu haben. Etwas gewissenhafter und auch leiser schiebt der Herr nach: „Sie fragen mich nach der Qualität des Meerwassers. Aber schauen Sie sich mal unsere gefluteten Keller an, schauen Sie sich mal an, wie die Leute hier leben. Wie die Krankenhäuser und Verwaltungen aussehen. Da passt man sich noch an ganz anderes an als an das Meerwasser.“ Kaum hat er das ausgesprochen, geraten die Augen des Bademeisters kurz in ein ängstliches Schwimmen. Als habe er zu offen mit einem zutraulichen Milizionär gesprochen. Er verstummt.
„Da passt man sich noch an ganz anderes an.“ Wieder das Wort Anpassung, wie bereits an der Grenze. Ich trage es vor mir her, abends durch die wunderschönen Strandpromenaden Sewastopols irrlichternd. Wo die Leute mit ungebrochener Lebensfreude märchenhaften Krimwein direkt aus Fässern kaufen und in Plastikflaschen abgießen, getrocknete Schwertfische schlemmen, ihren Kindern riesige Luftballons kaufen, an Glücksrädern drehen und ausgelassen die immer noch gleichen sowjetischen Lieder singen wie früher. Wo die Straßen immer noch nach Lenin, Puschkin und Gagarin benannt sind. Und eine Menge Leute hinter vorgehaltener Hand bilanzieren: 2014 haben wir eine korrupte Regierung mit einer anderen getauscht. Das war's. Und nun passen wir uns an.
Von einem weltpolitischen Umbruch ist hier, wo er sich doch ereignet hat, nichts zu spüren, denke ich. Und überlege, wie es dann sein kann, dass meine Mutter und ich in Leipzig über die Krim streiten, während die Leute auf der Krim längst wieder Muscheln lutschen und sich des ganz eigenen Lebens erfreuen, unter welcher Fahne auch immer. Vielleicht verstehe ich wirklich nichts von Osteuropa, und meine Mutter / die Geschichte wusste etwas, was ich nicht west-weiß.
Nein, das tat sie nicht. Leider. In diesen blutigen Tagen, da Putin es mit leblosen Augen auf den Tod der Ukraine abgesehen hat, ist es klarer denn je. Wir hätten die Annexion, diesen ersten Eskalationsschritt, viel härter bekämpfen müssen. Anpassung ist, wie so viele menschliche Eigenschaften, etwas Relatives. Nur weil Unrecht irgendwann im Alltag absinkt, heißt das nicht, dass es am Grund nicht weitergiftet. Auch weil die, die das Unrecht anmahnen, oft genug gleich mitertränkt werden.
Deutschland hat auch nach 2014 weiter Gas von Putin gekauft und dafür neue Pipelines um die Ukraine herumgebaut. Sogar Waffen an Russland geliefert, während es Frieden verhandelte. Das Baden im kontaminierten Wohlstand ging weiter. Bloß, irgendwann kommt es eben alles hoch, um meine liebe Mutter zu zitieren. Erst war es die Krim, dann der Donbass, Syrien, die gesamte Ukraine, und gegenwärtig ist jeder Tag ohne Atombombe ein kleiner Sieg. So habe ich es meiner Mutter neulich auch aufgezählt und sie gebeten, den Fernseher leiser zu stellen, damit sie mich hören kann.
Audio (Textauszug):
© Dmitrij Kapitelman
Dmitrij Kapitelman, 1986 in Kiew geboren, lebt heute in Berlin. Er kam als Achtjähriger mit seinen Eltern nach Deutschland, studierte Politikwissenschaft in Leipzig und Journalismus in München. 2016 erschien sein autobiografischer Roman Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters bei Hanser Berlin, 2021 erschien Eine Formalie in Kiew ebendort. Kapitelman tritt unter dem Künstlernamen Dheema auch als Musiker auf.
„Die Muttergeschichte lässt sich nicht ändern“. Text von Dmitrij Kapitelman>
„Deine Heimat ist dort, woher Deine Traumata stammen“ – so lautete eine Veranstaltung der Villa Concordia in Zusammenarbeit mit dem Literaturportal Bayern, die am 20. September 2022 im Internationalen Künstlerhaus in Bamberg stattfand. Vier in der Ukraine geborene, später im deutschsprachigen Raum angekommene Schriftsteller*innen – Jan Himmelfarb, Dmitrij Kapitelman, Tanja Maljartschuk und Halyna Petrosanyak – zeigten einen Abend lang in Lesung und Gespräch, wie fest das Band der Herkunft schnürt, insbesondere wenn ihr Land sich verteidigen muss. Die Moderation hielt Verena Nolte. Die Veranstaltung wurde mit finanziellen Mitteln des Bayerischen Staatsministeriums für Wissenschaft und Kunst gefördert.
Die folgenden Aufzeichnungen, die unter dem Eindruck einer Reise auf die Krim 2019 geschrieben wurden, las Dmitrij Kapitelman und wir veröffentlichen sie mit freundlicher Genehmigung des Autors.
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Die Muttergeschichte lässt sich nicht ändern
Historische Ereignisse sind wie Eltern: Niemand kann sie sich aussuchen, alle gehen aus ihnen hervor. Gehen zwangsläufig mit ihnen mit, manchmal an ihnen ein, früher oder später ohne sie weiter – bleiben aber unumgänglich von ihnen geprägt.
„Die Krim ist russisch! Sie war schon immer russisch! Putin hat recht!“, sagte meine Mutter 2014 zur Annexion der ukrainischen Halbinsel. Ihr Fernseher mit den russischen Staatswahrheiten sagte das ebenfalls. Dieses billige Gerät, das einen die Weltsicht kosten kann, stand schon seit vielen Jahren bei ihr in Leipzig. Direkt über der Kücheneckbank stand es, damit auch ja keiner vergisst, die Wahrheiten mehrmals täglich einzunehmen.
Aber wo standen wir, zwanzig Jahre nachdem unsere Familie Kyjiv, nachdem wir die Ukraine verlassen hatten? (Allein diese ukrainische Schreibweise des Stadtnamens würde sie aufbringen.) Offenbar bestanden Mutter und Sohn inzwischen aus verschiedenen Welten: „Amerika lässt Russland doch gar keine andere Wahl! Du verstehst das als westverblendeter Mensch eben nicht!“
„Dobry Den“ (guten Tag), ich bin Dmitrij, aus Kiew, ein Sohn des Westens. Nach dem russischen Einmarsch schien es nichts Wichtigeres mehr zwischen Mutter und Sohn zu geben als die Krim, das Völkerrecht oder die Lage der Tataren. Und es wurde nie mehr wie zuvor zwischen uns. Politische Gespräche, auch über ganz andere Themen, blieben unmöglich. Zumindest von gegenseitigem Verdacht belegt. In manchen Belangen sind Mütter und Söhne eben unverwandt, tröstete ich mich mit der Zeit. Dann lieben wir einander eben feindlich weiter, tröstete ich mich. Ändern lässt sie sich ohnehin nicht, die Mutter / die Geschichte, tröstete ich mich. Ich verstehe, wie befremdlich sich diese distanzierten Sätze lesen müssen. Wie viel Ungesagtes in ihnen liegt, jenseits alles Politischen. Sicher auch eine gewisse Lächerlichkeit: einst nackter, schutzloser Säugling an Mamas Brust, nun den schonungslosen Souverän mimen.
Ich möchte diese Aufzeichnungen aber ohnehin für eine etwas andere Entbindung nutzen. Und von meiner Reise auf die Krim erzählen. Eine sehr verwirrende, grautönig komplizierte Reise, an die ich seitdem unzählige Male zurückdenken musste. Deutlich spürend, dass da eine Lehre an mir zieht, bis ich bereit bin, sie zu ziehen.
Eine Reise, die mich vorübergehend zum Zweifel zwang, ob ich nicht zumindest auf einem Auge westverblendet sein könnte. (Wer weiß, ein wenig wünscht man sich wahrscheinlich immer, dass die eigene Mutter mit ihren Urteilen recht behält. Oder zumindest ein gutes Recht hat, sich zu irren.) Erst der 24. Februar 2022 begrub diese Zweifel endgültig.
Wir schreiben das Jahr 2019. Wolodimir Selenski kann noch nicht ahnen, wie sehr er die Rolle seines Lebens gefunden hat. Und verspricht bei Amtsantritt, den elenden Krieg im Osten des Landes zügig zu beenden. Von diesem Krieg ist in der Stoliza gar nicht so viel zu spüren. Die ukrainischen Nachrichten beginnen noch nicht einmal mehr mit dem Frontbericht.
Gut, wer den Uber-Fahrern länger zuhört, erfährt oft, dass sie aus dem Donbass geflohen sind. Und die Immobilienpreise sind deutlich gestiegen, ebenfalls wegen der vielen Binnenflüchtlinge aus dem Osten. Ein bisschen mehr Folklore trägt die Stadt auf, Nationaltrachten. In zentralen U-Bahn-Stationen hängen Plakate der kämpfenden Heldensoldaten aus. Aber sonst? Jung ist Kiew, fröhlich und frei über den Chreschtschatik flanierend, Festivals feiernd. Ja, im Sommer fließt sogar ein wenig Euphorie im Dnipro mit.
Ich hingegen bin zu ganz trockenen Angelegenheiten in Kiew, wegen Dokumenten für meine Ausbürgerung. „Bearbeitung dauert 2 bis 80 Tage“, taxieren die sehr elegant gekleideten, jungen Sachbearbeiterinnen der Hauptstadt. Viel Zeit. Auf der Suche nach Möglichkeiten, diese sinnvoll zu füllen, erfahre ich, dass es nur eine einzige Staatsbürgerschaft weltweit gibt, dank der man ohne Extra-Visumsantrag auf die russische Krim reisen kann – die ukrainische Staatsbürgerschaft. Ironie ist gar kein Ausdruck.
Sobald ich beschließe, zur Halbinsel der vollen Unversöhnlichkeit aufzubrechen, fühlt sich mein Herz an, als würde es Liegestütze machen. Peitschender Puls, selbst fünf Jahre später. Flüge gibt es wegen der Sanktionen keine mehr. Aber der Nachtzug nach Nowoolexijiwka verkehrt noch. Etwa siebzehn Stunden, 700 Kilometer ins ukrainische Niemandsland. Von dort aus gilt es dann, einen Fahrer zur militarisierten Grenze zu finden. Das ist nicht legal und letztlich leichter als gedacht.
Im verblassenden Blau der Morgenstunden schreien die Schleuser bereits heiser: „Hinter die Grenze! Hinter die Grenze!“ Mit zwei älteren Damen und einer jungen Frau husche ich hektisch in den grauen Skoda eines Mannes namens Michail. Dieser rast geisteskrank, aber spricht seelenruhig: „Bald ist Schichtwechsel an der Grenze, dann dauert alles länger. Wir müssen uns beeilen!“
Nachdem die Sonne ihren Antrag auf Tagesbeschäftigung vollständig ausgefüllt hat, wird links ein wenig Meerzunge sichtbar, die sich dürr und hechelnd in die staubige Sandküste legt. Außerdem ein Zelt für jene, die die Grenze zu Fuß überqueren. Barrikaden, Zäune, Stacheldraht, zuerst in Ukraine-, dann Russlandfarben gestrichene Container. Alle hier sind angespannt. Selbst die Spatzen, die sich ringsherum auf fette Brotkrumen stürzen.
„Falls die Grenzposten fragen, wir sind alle Freunde, die einen Ausflug nach Simferopol machen. Auf gar keinen Fall verraten, dass ihr mich für die Fahrt bezahlt, klar?“ Michail blickt sich bei diesem Satz prüfend im Auto um. Ein Blinder würde erkennen, dass hier keine Freunde sitzen. Ganz im Gegenteil, meine drei Mitinsassinnen fangen an, über die Annexion zu streiten. Ihre Pässe dabei wie Pistolen für den Ernstfall umklammernd: „Ich habe die Krim immer als russisch empfunden, die haben mir die Ukraine aufgezwungen!“
Das höre ich nicht so gern. Sehr kurze Beine, eine unangenehm belehrende Stimmlage und einen zerfledderten ukrainischen Pass hat die ältere Dame, die das sagt. Moment mal, woher haben die Spatzen hier Brot? Die Krumen gab es bestimmt nicht, als das hier noch eine schlichte Niemandslandstraße ohne Militärgrenze war.
„Manchen Leuten bedeutet der Pass in ihrer Tasche etwas! Schon einmal etwas von Patriotismus gehört?“, echauffiert sich die junge Frau. Sie fuchtelt mit ihrem strahlend neuen, biometrischen Pass der Ukraine.
„Anpassen muss man sich, anpassen“, kräht die dritte Dame besserwisserisch vom Vordersitz.
„Anpassen, anpassen, anpassen. Hätte ich nach dem Referendum nicht sofort einen russischen Pass beantragt, ich hätte meine kranke Mutter vor ihrem Tod nicht mehr gesehen!“
„Unterwerfen nennt man das! Wie Hunde!“, schießt es erbittert aus der jungen Frau zurück.
„Wen nennen Sie hier Hündin, Fräulein?!“
Ob es wohl eher russische oder ukrainische Soldaten sind, die den Grenzspatzen Brot streuen? Oder die wartenden Zivilisten aus ihren Autofenstern? Ja, ich versuche die Unstimmigkeiten zu überhören. Fast kindisch. Wieso bin ich seit bald dreißig Stunden zu einem Ort unterwegs, der mir Peitschpuls einbrockt? Wäre es nicht leichter gewesen, Mama anzurufen?
„Bitte, bitte, bitte, nur keine politischen Diskussionen im Auto!“, interveniert Michail. Und fährt, seit Stunden stehend, fort: „Ich bin dafür, dass alles nicht noch schlimmer wird! Das ist meine politische Position. Diese ganzen Grenzen, diese ganzen Gesetze, ich brauche langsam einen Psychiater! Und ich sage euch, die Grenzbeamten hier sind genauso durch! Von denen wird keiner viel älter als vierzig! Können wir nicht einmal von etwas Schönem sprechen? Von Liebe?“
V.l.n.r: Dmitrij Kapitelman, Tanja Maljartschuk, Verena Nolte, Halyna Petrosanyak, Jan Himmelfarb. Lesung am 20. September 2022 in Bamberg. Foto: Joseph Beck
Kuschen vor dem Milizionär
Es wird so still im Skoda, dass man die Grenzspatzen schlingen hören kann. Michail (in Wahrheit heißt er Mohammed, ein Krimtatar) schaltet das Autoradio an, und eine Frau singt stellvertretend für alle von Liebe. Die widerstreitenden Meinungen zur Bestimmung der Krim mögen verwirrend gewesen sein. Wenig westkompatibel auch in ihrer komplizierten Vielschichtigkeit. Aber zumindest habe ich an jenem Morgen verstanden, wieso die kitschigste Pop-Musik stets auch die erfolgreichste ist.
Der russische Grenzmilizionär, der uns bereits in der glühenden Mittagssonne heranzitiert, gleicht tatsächlich einer abgekämpften Autoritäts-Attrappe, so wie es Michail beschrieb. Ein hochgewachsener Mittdreißiger, der zuvor mit halbtoten Augen die Sachen eines kleinen Mädchens durchsucht hat, bis auf die Disney-Dose. Er spricht schwerfällig, aber scharf. Sichtlich selbst vom Befehlston ermattet. Das können weder die voluminösen Schulterpolster noch die schneidig gebügelten Hosenbeine seiner grünen Uniform kaschieren. Und dennoch kuschen alle vor ihm, alle drei Staats-Streiterinnen aus unserem Auto buckeln. Ich genauso.
In Sewastopol, wo nach der deutschen Nazibarbarei nur neun Gebäude unbeschädigt blieben (historische Verantwortung, eine wichtige Sache), wird mir bald ein anderer abgeschlaffter Milizionär Angst einflößen. Nicht unbedingt Angst, eher Misstrauen. Ich betrete abends die Lobby des Hotels Ukraina (auf der besetzten Krim). Wo der Fernseher über der Bar zeigt, wie die Moskauer Polizei Schäferhunde auf Demonstranten hetzt.
Das waren die guten Zeiten, als es noch so viele Demonstranten in Russland gab, dass die Sondereinheit Omon Hunde gebraucht hat. Der Polizist in der Hotellobby starrt erst zum Fernseher, dann zu mir und murmelt: „Das wird Putin auch mit uns hier machen, falls wir aufmucken.“ Warum ist er so vertrauensselig? Könnte eine Falle sein.
An der Militärgrenze standen wir letztlich sieben Stunden. Und die Aufenthaltserlaubnis ist sehr genau begrenzt worden. Selbst eine SIM-Karte auf der Krim zu kaufen, erforderte eine halbe nachrichtendienstliche Erfassung, Youtube lässt sich zeitweise nicht aufrufen. Ich sage daher nichts und gehe auf mein Zimmer. Schaue erst eine Wiederholung des ukrainischen Dancing with the Stars mit Selenski, der einen respektablen Rumba aus der Hüfte reckt.
Und dann Krim TV. Nachrichten: „Ein defektes Abwasserrohr läuft vor Sewastopol ins Schwarze Meer aus. Seit sechzehn Jahren besteht das Leck bereits. Die Verschmutzung ist so massiv, dass sie aus dem Weltall zu erkennen ist, wie diese Aufnahmen eines Satelliten zeigen.“ Meine Fresse! Sechzehn Jahre? Vom Weltall aus zu sehen?! Wie ist das möglich, denke ich und komme mir ein wenig westlich in meinem Funktionalitätsfuror vor.
Am Ende kommt alles raus, predigt meine Mutter immer. Vera, die einen russischen Vater hatte, den sie kaum je kannte. In der Moldau geboren wurde, als junge Frau in die Ukraine migrierte und Russisch spricht. Letztgenanntes sei ihr in der Ukraine oft verübelt worden. Was Vera allerdings erst betont, seit ihr russischer Fernseher das täglich tausendfach betont. „Wsjo wilesit“, sagt sie, alles kriecht hoch, alle versenkte Lüge schießt irgendwann doch wieder an die Oberfläche. Und ich hoffe dann immer in einer ganz bestimmten Hinsicht, dass sie recht behält in ihrer Küchenecke.
Da das Leck unter ukrainischer Regentschaft aufbrach, wird selbstverständlich die korrupte Ukraine beschuldigt. Allerdings zeigen sowohl die schmutzige Gegenwart als auch ein wenig Gegenrecherche, dass die neuen russischen Regenten in ihren fünf Jahren absolut nichts gegen das Desaster unternommen haben (und dass Geld versickert ist, welches für die riesige Reparatur budgetiert war).
Nun herrsche jedenfalls absolutes Badeverbot an den Stränden Sewastopols, besonders bei Westwind. Ich gehe noch einmal in die Lobby, um den zutraulich rebellischen Ordnungshüter zu fragen, ob er etwas von der Umwelthavarie wisse. Aber er schlummert schon so süss in seinem Securitysessel.
Am nächsten Morgen beschließe ich, selbst nachzusehen, und fahre zu den Stränden der Stadt. Gemessen an meinem peitschenden Puls geht es dabei in Wahrheit weder um Wasserqualität noch die Krim. Aber dieses Eingeständnis schlage ich aus meinem Herzen. Mutterland ist überall für die, die mit ihren Müttern keinen gemeinsamen Grund finden.
In den Straßen, an den Einkaufszentren, Busstationen, Theatern und sogar Kirchen sind erdrückend viele Wahlplakate von Einiges Russland aufgehängt. Sie wellen sich in der Hitze der Krim und geben den Kandidaten Putins ein paar lustige, entstellende Falten auf die Fressen.
Der Chrustalny-Strand scheint indes absolut nichts von seiner Beliebtheit beim Badevolk eingebüßt zu haben. Sicher, hier und da steht ein kleines Schild am Rande, auf dem warnend geschrieben steht, dass das Wasser kontaminiert sei.
Zufälligerweise ist diese negative Botschaft in blau-gelben Farben gehalten. „Aber es sieht gar nicht kontaminiert aus“, rufen die Planschenden selig. „Und es riecht auch gar nicht kontaminiert“, präzisieren sie auf Nachfrage hin, sich wohlig abtrocknend und in saftige Melonenstreifen beißend. Ich bin hier ein wunderliches Westwiesel, in viel zu ernsten, dicken schwarzen Diesel-Jeans, so mitten in der Sommerwonne.
Gut, mag ja sein, dass man jetzt nicht gleich tot umfällt. Aber wenigstens der Bademeister wird doch über den Grad der Verschmutzung informiert sein. Oder? „Ja, bin ich“, meint der relativ junge und doch leicht angegraute Bademeister trocken. Und schweigt sich aus, von seinem Holzhäuschen herab. Prima. Ja – das ist das Gegenteil von Nein. „Ja, und da sehen Sie zu, wie die ganzen Leute weiter mit ihren Kindern hier baden? Wie gefährlich ist das Wasser denn nun wirklich kontaminiert?“
„Ich habe mein mobiles Labor heute leider zu Hause vergessen. Sonst würde ich Ihnen natürlich die Mikroben vorzählen.“
Ich gebe auf und drehe schon ab, doch da scheint jemanden die eigene spitze Zunge ins Gewissen gepikt zu haben. Etwas gewissenhafter und auch leiser schiebt der Herr nach: „Sie fragen mich nach der Qualität des Meerwassers. Aber schauen Sie sich mal unsere gefluteten Keller an, schauen Sie sich mal an, wie die Leute hier leben. Wie die Krankenhäuser und Verwaltungen aussehen. Da passt man sich noch an ganz anderes an als an das Meerwasser.“ Kaum hat er das ausgesprochen, geraten die Augen des Bademeisters kurz in ein ängstliches Schwimmen. Als habe er zu offen mit einem zutraulichen Milizionär gesprochen. Er verstummt.
„Da passt man sich noch an ganz anderes an.“ Wieder das Wort Anpassung, wie bereits an der Grenze. Ich trage es vor mir her, abends durch die wunderschönen Strandpromenaden Sewastopols irrlichternd. Wo die Leute mit ungebrochener Lebensfreude märchenhaften Krimwein direkt aus Fässern kaufen und in Plastikflaschen abgießen, getrocknete Schwertfische schlemmen, ihren Kindern riesige Luftballons kaufen, an Glücksrädern drehen und ausgelassen die immer noch gleichen sowjetischen Lieder singen wie früher. Wo die Straßen immer noch nach Lenin, Puschkin und Gagarin benannt sind. Und eine Menge Leute hinter vorgehaltener Hand bilanzieren: 2014 haben wir eine korrupte Regierung mit einer anderen getauscht. Das war's. Und nun passen wir uns an.
Von einem weltpolitischen Umbruch ist hier, wo er sich doch ereignet hat, nichts zu spüren, denke ich. Und überlege, wie es dann sein kann, dass meine Mutter und ich in Leipzig über die Krim streiten, während die Leute auf der Krim längst wieder Muscheln lutschen und sich des ganz eigenen Lebens erfreuen, unter welcher Fahne auch immer. Vielleicht verstehe ich wirklich nichts von Osteuropa, und meine Mutter / die Geschichte wusste etwas, was ich nicht west-weiß.
Nein, das tat sie nicht. Leider. In diesen blutigen Tagen, da Putin es mit leblosen Augen auf den Tod der Ukraine abgesehen hat, ist es klarer denn je. Wir hätten die Annexion, diesen ersten Eskalationsschritt, viel härter bekämpfen müssen. Anpassung ist, wie so viele menschliche Eigenschaften, etwas Relatives. Nur weil Unrecht irgendwann im Alltag absinkt, heißt das nicht, dass es am Grund nicht weitergiftet. Auch weil die, die das Unrecht anmahnen, oft genug gleich mitertränkt werden.
Deutschland hat auch nach 2014 weiter Gas von Putin gekauft und dafür neue Pipelines um die Ukraine herumgebaut. Sogar Waffen an Russland geliefert, während es Frieden verhandelte. Das Baden im kontaminierten Wohlstand ging weiter. Bloß, irgendwann kommt es eben alles hoch, um meine liebe Mutter zu zitieren. Erst war es die Krim, dann der Donbass, Syrien, die gesamte Ukraine, und gegenwärtig ist jeder Tag ohne Atombombe ein kleiner Sieg. So habe ich es meiner Mutter neulich auch aufgezählt und sie gebeten, den Fernseher leiser zu stellen, damit sie mich hören kann.
Audio (Textauszug):
© Dmitrij Kapitelman
Dmitrij Kapitelman, 1986 in Kiew geboren, lebt heute in Berlin. Er kam als Achtjähriger mit seinen Eltern nach Deutschland, studierte Politikwissenschaft in Leipzig und Journalismus in München. 2016 erschien sein autobiografischer Roman Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters bei Hanser Berlin, 2021 erschien Eine Formalie in Kiew ebendort. Kapitelman tritt unter dem Künstlernamen Dheema auch als Musiker auf.