Neue Ukrainegedichte von Birgit Müller-Wieland
Für den Münchner Auftakt des ukrainisch-deutschen Schriftsteller*innentreffens „Eine Brücke aus Papier“ 2022 berichteten Kateryna Mishchenko (Kyjiw) und Natalka Sniadanko (Lwiw) vor einigen Tagen im neuen Gasteig HP8 von den Auswirkungen des Krieges auf ihr Schreiben, Denken und Empfinden. Die Münchner Autorin Birgit Müller-Wieland beteiligte sich an ihrem Dialog mit neuen Ukrainegedichten. Das Literaturportal Bayern stellt vier ihrer Gedichte vor. Mit freundlicher Genehmigung der Autorin.
*
Tscherniwzi/Czernowitz/Cernàuti/Tschernowzy/Czerniowce
In Erinnerung an Olha Kobyljanska und Selma Meerbaum-Eisinger
Wo ich hinkomme
verstehe ich kein Wort
im Theater fremdle mit den Gerüchen
aber die Augen die Augen gehen mir
über den Samt den roten streichen
die Hände das Gold die Lüster
wie in Salzburg! in Klagenfurt! und
draußen die ukrainische Dichterin
die Goethe liebte bronzeschwarz
und Nietzsche
Wo ich herkomme
verstehe ich dort am leuchtenden Rand
der Monarchie vor der betrunkenen Kirche
der Gedenktafel am Atemhaus in der
Synagoge die nicht mehr arbeitet und da
wo Kinder planschen im Pruth jetzt
ist November hier hustet das Mädchen
Selma hinter Tüchern in den Arkaden
Dichterin deutscher Sprache für immer
ungeschützt
Lwiw 1998
Was weiß man eigentlich vom Land
aus dem man kommt was von der Stadt
in der die Straßen Häuser habsburggelb
ermüdet fremd die vorgestreckte Hand
an alten Frauen Kopftuch Maiglöckchen Flieder
vor dem Bahnhof Dom hier ist der Markt eine der vielen
Synagogen waren einmal Blicksturz
jetzt Asphalt die Männer am Boden
liegen Essiggurken Brot
nicht alt sind zahnlos ihre Beine mal links mal rechts
mal alles in anderen Ländern geblieben
Auf Bleistiftspitzen zittern Mädchen vorbei
mit Röcken so hell die Haare fliegen dunkel
im Kastanienblütenmai und wir aus dem Westen
verzaubert immer verzaubert und reglos
wie Reptilien in wechselnden Kriegen
Briefmarke 125 Jahre seit der Errichtung des geodätischen Zeichens „Mitte Europas“ in Dilowe
Europas Herz I
war ein Kiosk mit Raja Horodetska
in der Straße des Friedens
Bin in Österreich geboren
Schule in der Tschechoslowakei
Mutter geworden in Ungarn
Näherin in der Sowjetunion
Alt in der Ukraine
Immer hier geblieben
in der Mitte Europas
Nie einen Schritt weg
vom Innersten
europäischer
Zeit
[Quelle: Die Mitte. Film von Stanislaw Mucha, 2004.]
Europas Herz II
1 Schlafende Landschaft:
Schafe waren es die unseren Bus hinderten
Gänse Pferdewägen Kuhhufe in Schlaglöchern
Gegend mit Betonstelen Fliederwäldern Fugen
aus schnatterndem Gras kreischendem Holz Gold
Kuppeln wie Sonnenbälle am Horizont
und Keuschen geduckt hinterm nervösen Zaun
dornröschenreich
2 Ausstieg in Dilowe:
Was hier schlägt
ist die Mitte Europas
Herz leuchtend weiß
strahlend türkis
das Denkmal
locus perennis
der dauerhafte
genaue der
ewige
Ort
Birgit Müller-Wieland, 1962 in Oberösterreich geboren, studierte Germanistik und Psychologie in Salzburg und promovierte anschließend über Peter Weiss. Die Autorin von Gedichten, Prosa, Essays und Libretti erhielt für ihre Veröffentlichungen zahlreiche Auszeichnungen. Sie lebt in Berlin und München. Ihr Roman Flugschnee wurde 2017 für den Deutschen Buchpreis nominiert. Zuletzt erschien ihr Roman Vom Lügen und vom Träumen im Otto Müller Verlag, Salzburg (2021).
Neue Ukrainegedichte von Birgit Müller-Wieland>
Für den Münchner Auftakt des ukrainisch-deutschen Schriftsteller*innentreffens „Eine Brücke aus Papier“ 2022 berichteten Kateryna Mishchenko (Kyjiw) und Natalka Sniadanko (Lwiw) vor einigen Tagen im neuen Gasteig HP8 von den Auswirkungen des Krieges auf ihr Schreiben, Denken und Empfinden. Die Münchner Autorin Birgit Müller-Wieland beteiligte sich an ihrem Dialog mit neuen Ukrainegedichten. Das Literaturportal Bayern stellt vier ihrer Gedichte vor. Mit freundlicher Genehmigung der Autorin.
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Tscherniwzi/Czernowitz/Cernàuti/Tschernowzy/Czerniowce
In Erinnerung an Olha Kobyljanska und Selma Meerbaum-Eisinger
Wo ich hinkomme
verstehe ich kein Wort
im Theater fremdle mit den Gerüchen
aber die Augen die Augen gehen mir
über den Samt den roten streichen
die Hände das Gold die Lüster
wie in Salzburg! in Klagenfurt! und
draußen die ukrainische Dichterin
die Goethe liebte bronzeschwarz
und Nietzsche
Wo ich herkomme
verstehe ich dort am leuchtenden Rand
der Monarchie vor der betrunkenen Kirche
der Gedenktafel am Atemhaus in der
Synagoge die nicht mehr arbeitet und da
wo Kinder planschen im Pruth jetzt
ist November hier hustet das Mädchen
Selma hinter Tüchern in den Arkaden
Dichterin deutscher Sprache für immer
ungeschützt
Lwiw 1998
Was weiß man eigentlich vom Land
aus dem man kommt was von der Stadt
in der die Straßen Häuser habsburggelb
ermüdet fremd die vorgestreckte Hand
an alten Frauen Kopftuch Maiglöckchen Flieder
vor dem Bahnhof Dom hier ist der Markt eine der vielen
Synagogen waren einmal Blicksturz
jetzt Asphalt die Männer am Boden
liegen Essiggurken Brot
nicht alt sind zahnlos ihre Beine mal links mal rechts
mal alles in anderen Ländern geblieben
Auf Bleistiftspitzen zittern Mädchen vorbei
mit Röcken so hell die Haare fliegen dunkel
im Kastanienblütenmai und wir aus dem Westen
verzaubert immer verzaubert und reglos
wie Reptilien in wechselnden Kriegen
Briefmarke 125 Jahre seit der Errichtung des geodätischen Zeichens „Mitte Europas“ in Dilowe
Europas Herz I
war ein Kiosk mit Raja Horodetska
in der Straße des Friedens
Bin in Österreich geboren
Schule in der Tschechoslowakei
Mutter geworden in Ungarn
Näherin in der Sowjetunion
Alt in der Ukraine
Immer hier geblieben
in der Mitte Europas
Nie einen Schritt weg
vom Innersten
europäischer
Zeit
[Quelle: Die Mitte. Film von Stanislaw Mucha, 2004.]
Europas Herz II
1 Schlafende Landschaft:
Schafe waren es die unseren Bus hinderten
Gänse Pferdewägen Kuhhufe in Schlaglöchern
Gegend mit Betonstelen Fliederwäldern Fugen
aus schnatterndem Gras kreischendem Holz Gold
Kuppeln wie Sonnenbälle am Horizont
und Keuschen geduckt hinterm nervösen Zaun
dornröschenreich
2 Ausstieg in Dilowe:
Was hier schlägt
ist die Mitte Europas
Herz leuchtend weiß
strahlend türkis
das Denkmal
locus perennis
der dauerhafte
genaue der
ewige
Ort
Birgit Müller-Wieland, 1962 in Oberösterreich geboren, studierte Germanistik und Psychologie in Salzburg und promovierte anschließend über Peter Weiss. Die Autorin von Gedichten, Prosa, Essays und Libretti erhielt für ihre Veröffentlichungen zahlreiche Auszeichnungen. Sie lebt in Berlin und München. Ihr Roman Flugschnee wurde 2017 für den Deutschen Buchpreis nominiert. Zuletzt erschien ihr Roman Vom Lügen und vom Träumen im Otto Müller Verlag, Salzburg (2021).