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20.10.2022, 00:00 Uhr
Kunstministerium
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© Thomas Gothier

Arbeitsstipendium des Freistaats Bayern 2022 an Jovana Reisinger

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Jovana Reisinger mit Kunstminister Markus Blume. © Wolfgang Maria Weber/StMWK

Lyrik, Comics und Romane: Am 28. September 2022 wurden in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste 22 Schriftstellerinnen und Schriftsteller von Kunstminister Markus Blume mit den Förder- und Arbeitsstipendien des Freistaates Bayern ausgezeichnet. Unter den geförderten Publikationsvorhaben finden sich Lyrik-, Erzähl- und Comicbände ebenso wie die Geschichte einer potenziellen Amour fou sowie eine im 19. Jahrhundert angesiedelte gesellschaftskritische „biofiction“. Das Literaturportal Bayern stellt in den kommenden 11 Wochen jeweils zwei der Preisträgerinnen und Preisträger mit einem Porträt, der Laudatio und einem Textauszug vor.

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Jovana Reisinger, 1989 in München geboren, ist Autorin, Regisseurin und bildende Künstlerin. Nach ihrem Abschluss in Kommunikationsdesign an der Hochschule für angewandte Wissenschaften München studierte sie Drehbuch an der Hochschule für Fernsehen und Film München (Diplom 2019) und erhielt zudem ein Diplom in Dokumentarfilmregie. Ihr Debütroman Still Halten wurde 2017 im Verbrecher Verlag veröffentlicht und 2018 mit dem Bayern 2-Wortspiele-Preis, einem Aufenthaltsstipendium im Literarischen Colloquium Berlin sowie 2019 mit einem Aufenthaltsstipendium des Goethe Institut China ausgezeichnet. Ihr zweiter Roman Spitzenreiterinnen erschien im Frühjahr 2021 ebenfalls im Verbrecher Verlag. Sie drehte diverse Kurzfilme, die in Ausstellungen und Festivals gezeigt wurden. Seit 2020 schreibt sie die Menstruations-Kolumne Bleeding Love für Vogue Germany. Als bildende Künstlerin trat sie vor allem mit ihrer Video-Installation Men in Trouble in den Vordergrund, die in mehreren Institutionen gezeigt wurde.

Laudatio von Dr. Sylvia Heudecker

Die Kurzgeschichte Zur schönen Aussicht ist eine von 15 Erzählungen, die Jovana Reisinger in einer Sammlung zu publizieren plant. Der Ort des Geschehens, eine exklusive Penthouse-Wohnung, symbolisiert in ihrer Lage hoch oben über dem Erdboden die soziale Position der Bewohner. „Der Mann“ ist beruflich extrem erfolgreich und ständig außer Haus, „die Frau“ pflegt und zeigt ihre Schönheit. Diese Grundkonstellation resultiert aus Reisingers Interesse an patriarchal geprägten Beziehungen, an trügerischen Sinnversprechen von Neoliberalismus und Kapitalismus. Die auktoriale Erzählinstanz gibt sich kühl, jenseits jeglicher Sympathie mit den Figuren, konzentriert darauf, die Entfremdung der beiden Protagonisten von der Welt und der eigenen Menschennatur zu registrieren. Die Geschichte löst das Rätsel des Verschwindens „der Frau“ in grotesker Weise. Die Autorin schafft literarischen Raum für Zynismus und Gesellschaftskritik, dabei überzeugt sie durch Stilsicherheit und ihre Lust am Fabulieren.

© Wolfgang Maria Weber/StMWK

Auszug aus Zur schönen Aussicht (Prosavorhaben Großes Zucker Sahne Dilemma)

Die Aussicht war aufreizend, regelrecht aufgeilend schön. Von so einer Aussicht träumen die Menschen. Sie ziert Broschüren und Kataloge von Hotelanlagen, Immobilienmaklern und taucht in Werbespots auf. Wer hier oben schläft, wer hier oben lebt, der hat es geschafft. Hier oben sind die Menschen glücklich. Sie brauchen keine Angst zu haben, sich sattsehen zu können. Sie sind Teil der herrschenden Klasse. Und die Zyniker und die Zweifler und die Ängstlichen und die Unsicheren sagen: Das ist so hoch, es gibt nur noch einen Weg: steil hinab ins Nichts, in den Beton, in die hübsche Gartenanlage, vielleicht in den Pool oder in den Obst- und Gemüsestand. Aber aus denen spricht nur der Neid. Denen wurde schwindelig vom Ausblick.

Die Frau, die hier täglich am Fenster stand, Hochhaus A1, 49. Stock, Penthouse, 300qm Wohnfläche, dachte weder über ihr Hochkommen noch über ihren Untergang nach. Die blickte stets nach draußen, als scherte sie weder die Vergangenheit noch die Zukunft, als ginge es nur um das Jetzt, die Gegenwart, die Erhabenheit der eigenen Situation. Da stand sie also, stets angezogen oder zumindest umhüllt von einem Seidenmantel, mehr als ein Jahr lang. Die Frau, so viel wussten die Anderen, war eine schöne Frau. Die Frau, die so viel wusste, war hübsch, ihr Style lag zwischen europäischer Eleganz und amerikanischer Lautstärke, zwischen reich und sehr reich, zwischen mutig und gelangweilt, zwischen einsam und unabhängig, die Grenzen verwischten. Die Konturen und das Make-up der Frau wurden immer unschärfer, unklarer, konturloser, unbestimmter.

Sie wurde unsichtbar. Sie ging verloren zwischen den Panoramafenstern und der Welt dahinter. Zwischen den Stunden, den Tagen, der Einsamkeit und der neugewonnenen Freiheit, zwischen einem Alles-kann-nichts-muss und einer Tatenlosigkeit, weil die Aufgaben fehlten.

Wo ist sie geblieben? Sie weiß es wohl, wir wissen es nicht.