Arbeitsstipendium des Freistaats Bayern 2022 an Thomas Lang
Lyrik, Comics und Romane: Am 28. September 2022 wurden in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste 22 Schriftstellerinnen und Schriftsteller von Kunstminister Markus Blume mit den Förder- und Arbeitsstipendien des Freistaates Bayern ausgezeichnet. Unter den geförderten Publikationsvorhaben finden sich Lyrik-, Erzähl- und Comicbände ebenso wie die Geschichte einer potenziellen Amour fou sowie eine im 19. Jahrhundert angesiedelte gesellschaftskritische „biofiction“. Das Literaturportal Bayern stellt in den kommenden 11 Wochen jeweils zwei der Preisträgerinnen und Preisträger mit einem Porträt, der Laudatio und einem Textauszug vor.
*
Thomas Lang, 1967 in Nümbrecht geboren, lebt in München. Er studierte Literaturwissenschaft in Frankfurt am Main und arbeitet als freier Autor, Lehrer für Kreatives Schreiben und Online-Redakteur, derzeit für das Literaturportal Bayern. Lang hat sechs Romane und eine Erzählung publiziert, zuletzt Freinacht im Berlin Verlag (2019). Für seine Arbeit ausgezeichnet wurde er u.a. mit dem Literaturstipendium der Stadt München (1999), dem Bayerischen Kunstförderpreis und dem Marburger Literaturpreis (2002), dem Ingeborg-Bachmann-Preis (2005), dem Arbeitsstipendium des Freistaats Bayern und dem Stipendium der Villa Aurora (2010), dem Stipendium des Deutschen Literaturfonds (2016/17) sowie dem Aufenthaltsstipendium des Internationalen Künstlerhauses Villa Concordia (2020).
Laudatio von Dr. Peter Czoik:
In seinem aktuellen Romanprojekt Der treibende Riese lässt Thomas Lang den Erzähler August Heimbürger, Migrant aus Deutschland und jüngerer Bruder des historisch verbürgten, in Amerika erfolgreichen Zauberers „Herr Alexander“, in die Nähe des amerikanischen Schriftstellers Herman Melville rücken, den dieser als den besseren großen Bruder sieht, da er August seinerzeit aus einer großen Peinlichkeit herausgeholfen hat. Die Form der „biofiction“ nutzt Lang nicht nur als Vehikel für die biografische Annäherung an die schillernde Person Melvilles, sondern auch um einen mitunter kritischen Blick auf die sich rasant entwickelnde amerikanische Gesellschaft jener Zeit und ihre Themen, Fantasien und Verrücktheiten, aber auch Probleme zu werfen. Kolonialismus, das Verhältnis von Mensch und Tier sind hier wichtige Stichworte. Die Welt, in die der Erzähler eintaucht, ist eine ebenso ruhe- wie mitleidlose Welt. „Als würden wir durch die Hölle fahren“, empfindet August die Fahrt mit der Eisenbahn zur nächsten Vorstellung. Allein in der auratischen Erscheinung Melvilles scheint für August dieses Leiden zeitweise aufgehoben.
© Peter von Felbert
Auszug aus Der treibende Riese (Romanvorhaben)
[…] Zum Höhepunkt des Abends wurde Alexanders Tod von eigener Hand. Ich hatte ihn gebeten, darauf zu verzichten, denn nichts in seinem Repertoire erforderte größere Genauigkeit als diese Nummer, deren Gelingen ganz vom perfekten Schauspiel abhing. Die Hitze und das hektische Planen neuer Show-Teile im Vorfeld schienen mir keine guten Voraussetzungen zu sein. Mein Bruder wollte nicht hören.
Um ihm Zeit zur Vorbereitung zu geben, führte ich zunächst die Ringwanderung auf. Das konnte ich allein tun. In den mittleren Zuschauerreihen war mir ein Mann aufgefallen, in dessen Augen der Ozean zu wettern schien. Ein dunkler Bart umrahmte sein Gesicht, wie ihn zu der Zeit meist Seeleute trugen. Seinen Rock hatte er über die Stuhllehne gehängt, als wäre er zu Hause. Ich erkannte ihn wieder. Er war der Verfasser des Südseeromans, der ein oder zwei Mal unsere Werkstatt aufgesucht hatte. Obwohl er ein berühmter Mann war, heftete er seine Augen an unser Tun wie ein Kind. Ich dachte, dass er der Sinnestäuschung auf die Spur kommen wolle. In jedem Publikum gibt es solche Charaktere, denen es nicht um den Kitzel zu tun ist. Sie wollen unbedingt verstehen, dahinter kommen, auch wenn der Genuss dabei zum Teufel geht.
An seiner Seite saß eine junge Frau mit dunklem, von der Brennschere gelockten Haar und einem strengen Scheitel. Wie er besaß sie helle Augen, doch ihre Haut war milchig weiß. Die Lider hingen etwas über, der Mund war gerade und ein bisschen breit, die Unterlippe voll. Der prominenteste Gesichtsteil war mit Abstand ihre Nase. Sie bestimmte die Gesamterscheinung einer Frau, nach der sich meines Erachtens nicht viele Männer umdrehen würden. Die beiden saßen so eng beieinander, dass ihre Schultern sich berührten. Sie flüsterten sich häufig etwas zu. Die Zuschauer in dieser Sitzreihe schienen sich übrigens allesamt zu kennen.
Ich hatte längst den kleinen Ring erspäht, der an dem Finger dieser Schönheit blitzte. Meiner Furcht vor dem berühmten Mann trotzend, trat ich so nah als möglich an das Paar heran.
„Darf ich um Ihren Ring bitten, Ma’am?“
Sie zögerte.
„Sie werden ihn unbeschadet zurückerhalten.“
Ich sah, wie er die Hand schützend vor sie schob. Sie blickten sich kurz an. Er gab ihr kein Zeichen; sie schien auch keines zu erwarten. Von selbst entschloss sie sich, streifte den Ring vom Finger und reichte ihn mir. Ich lobte ihren Mut und ließ den kleinen Stein im Saallicht blitzen. Mr. Melville krempelte auf einmal seine Ärmel auf. Seine Arme waren braun und muskulös wie die eines körperlich tätigen Mannes. Ich merkte, wie die Augen der Frauen im Saal plötzlich nicht mehr auf mir ruhten. Sie wanderten zu diesem Mann, hefteten sich auf die kräftigen Arme, die herrlichen Schultern. Er tat, als bemerke er nichts.
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Lyrik, Comics und Romane: Am 28. September 2022 wurden in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste 22 Schriftstellerinnen und Schriftsteller von Kunstminister Markus Blume mit den Förder- und Arbeitsstipendien des Freistaates Bayern ausgezeichnet. Unter den geförderten Publikationsvorhaben finden sich Lyrik-, Erzähl- und Comicbände ebenso wie die Geschichte einer potenziellen Amour fou sowie eine im 19. Jahrhundert angesiedelte gesellschaftskritische „biofiction“. Das Literaturportal Bayern stellt in den kommenden 11 Wochen jeweils zwei der Preisträgerinnen und Preisträger mit einem Porträt, der Laudatio und einem Textauszug vor.
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Thomas Lang, 1967 in Nümbrecht geboren, lebt in München. Er studierte Literaturwissenschaft in Frankfurt am Main und arbeitet als freier Autor, Lehrer für Kreatives Schreiben und Online-Redakteur, derzeit für das Literaturportal Bayern. Lang hat sechs Romane und eine Erzählung publiziert, zuletzt Freinacht im Berlin Verlag (2019). Für seine Arbeit ausgezeichnet wurde er u.a. mit dem Literaturstipendium der Stadt München (1999), dem Bayerischen Kunstförderpreis und dem Marburger Literaturpreis (2002), dem Ingeborg-Bachmann-Preis (2005), dem Arbeitsstipendium des Freistaats Bayern und dem Stipendium der Villa Aurora (2010), dem Stipendium des Deutschen Literaturfonds (2016/17) sowie dem Aufenthaltsstipendium des Internationalen Künstlerhauses Villa Concordia (2020).
Laudatio von Dr. Peter Czoik:
In seinem aktuellen Romanprojekt Der treibende Riese lässt Thomas Lang den Erzähler August Heimbürger, Migrant aus Deutschland und jüngerer Bruder des historisch verbürgten, in Amerika erfolgreichen Zauberers „Herr Alexander“, in die Nähe des amerikanischen Schriftstellers Herman Melville rücken, den dieser als den besseren großen Bruder sieht, da er August seinerzeit aus einer großen Peinlichkeit herausgeholfen hat. Die Form der „biofiction“ nutzt Lang nicht nur als Vehikel für die biografische Annäherung an die schillernde Person Melvilles, sondern auch um einen mitunter kritischen Blick auf die sich rasant entwickelnde amerikanische Gesellschaft jener Zeit und ihre Themen, Fantasien und Verrücktheiten, aber auch Probleme zu werfen. Kolonialismus, das Verhältnis von Mensch und Tier sind hier wichtige Stichworte. Die Welt, in die der Erzähler eintaucht, ist eine ebenso ruhe- wie mitleidlose Welt. „Als würden wir durch die Hölle fahren“, empfindet August die Fahrt mit der Eisenbahn zur nächsten Vorstellung. Allein in der auratischen Erscheinung Melvilles scheint für August dieses Leiden zeitweise aufgehoben.
© Peter von Felbert
Auszug aus Der treibende Riese (Romanvorhaben)
[…] Zum Höhepunkt des Abends wurde Alexanders Tod von eigener Hand. Ich hatte ihn gebeten, darauf zu verzichten, denn nichts in seinem Repertoire erforderte größere Genauigkeit als diese Nummer, deren Gelingen ganz vom perfekten Schauspiel abhing. Die Hitze und das hektische Planen neuer Show-Teile im Vorfeld schienen mir keine guten Voraussetzungen zu sein. Mein Bruder wollte nicht hören.
Um ihm Zeit zur Vorbereitung zu geben, führte ich zunächst die Ringwanderung auf. Das konnte ich allein tun. In den mittleren Zuschauerreihen war mir ein Mann aufgefallen, in dessen Augen der Ozean zu wettern schien. Ein dunkler Bart umrahmte sein Gesicht, wie ihn zu der Zeit meist Seeleute trugen. Seinen Rock hatte er über die Stuhllehne gehängt, als wäre er zu Hause. Ich erkannte ihn wieder. Er war der Verfasser des Südseeromans, der ein oder zwei Mal unsere Werkstatt aufgesucht hatte. Obwohl er ein berühmter Mann war, heftete er seine Augen an unser Tun wie ein Kind. Ich dachte, dass er der Sinnestäuschung auf die Spur kommen wolle. In jedem Publikum gibt es solche Charaktere, denen es nicht um den Kitzel zu tun ist. Sie wollen unbedingt verstehen, dahinter kommen, auch wenn der Genuss dabei zum Teufel geht.
An seiner Seite saß eine junge Frau mit dunklem, von der Brennschere gelockten Haar und einem strengen Scheitel. Wie er besaß sie helle Augen, doch ihre Haut war milchig weiß. Die Lider hingen etwas über, der Mund war gerade und ein bisschen breit, die Unterlippe voll. Der prominenteste Gesichtsteil war mit Abstand ihre Nase. Sie bestimmte die Gesamterscheinung einer Frau, nach der sich meines Erachtens nicht viele Männer umdrehen würden. Die beiden saßen so eng beieinander, dass ihre Schultern sich berührten. Sie flüsterten sich häufig etwas zu. Die Zuschauer in dieser Sitzreihe schienen sich übrigens allesamt zu kennen.
Ich hatte längst den kleinen Ring erspäht, der an dem Finger dieser Schönheit blitzte. Meiner Furcht vor dem berühmten Mann trotzend, trat ich so nah als möglich an das Paar heran.
„Darf ich um Ihren Ring bitten, Ma’am?“
Sie zögerte.
„Sie werden ihn unbeschadet zurückerhalten.“
Ich sah, wie er die Hand schützend vor sie schob. Sie blickten sich kurz an. Er gab ihr kein Zeichen; sie schien auch keines zu erwarten. Von selbst entschloss sie sich, streifte den Ring vom Finger und reichte ihn mir. Ich lobte ihren Mut und ließ den kleinen Stein im Saallicht blitzen. Mr. Melville krempelte auf einmal seine Ärmel auf. Seine Arme waren braun und muskulös wie die eines körperlich tätigen Mannes. Ich merkte, wie die Augen der Frauen im Saal plötzlich nicht mehr auf mir ruhten. Sie wanderten zu diesem Mann, hefteten sich auf die kräftigen Arme, die herrlichen Schultern. Er tat, als bemerke er nichts.