Zum 100. Todestag: Mori Ôgais Aufenthalt in München (6)
Am 9. Juli 1922, vor genau 100 Jahren, starb in Tôkyô in seinem Anwesen mit dem Namen Meerblick der Schriftsteller, Übersetzer, Arzt, Militär, Herausgeber, Generaldirektor der Kaiserlichen Museen und der Bibliothek sowie Vorsitzender der Japanischen Akademie der Künste Mori Rintarô. Rintarô (im Japanischen folgt der Vorname dem Nachnamen) ist besser bekannt unter seinem Dichternamen Ôgai, zu Deutsch „Möwenfern“.
In München hielt sich Mori Ôgai in den Jahren 1886 bis 1887 auf, während dieser Zeit konnte er sich der Oberaufsicht und Kontrolle der japanischen Botschaft entziehen. Er führte ein recht freies Studentenleben und kam zugleich in Kontakt mit Malern und Studenten der hiesigen Akademie der Künste. „Möwenfern in München“ – unter diesem Titel soll in den nächsten Wochen Ôgais Aufenthalt in der bayerischen Landeshauptstadt näher beleuchtet werden: Was hat er unternommen, und wo genau war er? Eine Reihe von Friedrich Ulf Röhrer-Ertl.
*
Moris Stundenplan
Dass Herr Möwenfern in seiner fünften Woche in München sehr beschäftigt war, sieht man dem Tagebuch an. Abermals ist für die Woche nur ein Eintrag vorhanden: Am Montag kam Post aus der Heimat.
Was machte Herr Mori die ganze andere Zeit? Ziemlich sicher ging er zur Schule. Nicht irgendeine. Er war ja gezielt nach München gekommen, um sich (und damit erst indirekt und schließlich direkt die japanische Armee) in Sachen Hygiene auf den neuesten Stand zu bringen. Noch mehr als in Berlin oder Sachsen, seinen anderen Stationen in Deutschland, bedeutete das in München die Schulbank zu drücken.
Wie dieser Unterricht in Sachen Hygiene und auch das zugehörige Gebäude aussah, kann man gut an einer, man könnte sagen, Werbebroschüre sehen, die Max von Pettenkofer selbst 1882 in Braunschweig hatte drucken lassen. In „Das Hygienische Institut der Königl. Bayer. Ludwig-Maximilians-Universität München“ stellt er Gebäude und Unterricht darin im Detail vor.
Das großzügige zweistöckige Gebäude für Forschung und Lehre, das König Ludwig II. seinem Hygieniker Pettenkofer ab 1877 errichten ließ, verdankt sich einer typischen Professorenposse, wie sie heute noch stattfinden könnte: Pettenkofer hatte 1872 einen Ruf an die Universität Wien erhalten, verbunden mit der Aussicht auf ein eigenes Lehrgebäude. Mit diesem Ruf in der Hinterhand konnte er dem bayerischen Staat (der aufgrund der französischen Reparationen sowieso gerade dabei war, eifrig Geld einzunehmen) leicht überzeugen, im Gegenzug für seine Absage ein Gebäude im Wert von 180.000 Gulden bei kostenloser Bereitstellung des Grundstücks durch die Stadt München aus dem Kreuz zu leiern.
Es brauchte einige Umplanungen, um den Kostenrahmen einzuhalten, aber Oberbaurat Carl von Leimbach (1814-1891) erstellte schließlich ein Institutsgebäude, das beide Seiten zufriedenstellte, einen repräsentativen Neorenaissancebau, der im Hochparterre drei Laboratorien, im Obergeschoss zwei repräsentative Hörsäle, Sammlungssaal und physikalischen Versuchssaal enthielt, dazu Büros und andere Einrichtungen. Das bereits schlecht abgedruckte Foto des Instituts lässt das nur erahnen, aber ein Blick auf den zwar größeren, aber sehr ähnlich gestalteten Bau des ebenfalls von Leimbach errichteten Wilhelmsgymnasiums in der Maximiliansstraße kann uns einen Eindruck geben, wie das Gebäude ursprünglich ausgesehen hat. Insbesondere die Portale gleichen sich fast wie ein Ei dem anderen – beim nächsten Biopic über Pettenkofer (bzw. Ôgai) könnte man also so manche Szene auch am Tor oder im Treppenhaus in der Thierschstraße drehen.
In seiner Broschüre ergeht sich Pettenkofer denn auch vor allem voller Stolz über sein Gebäude und wie er allen Widrigkeiten zum Trotz einen Platz geschaffen hat, der ideal für Lehre, Forschung und als Anschauungsobjekt selbst dienen kann. Zwar ist die Hausmeisterwohnung im Keller, aber so gestaltet, dass sie hygienischer ist als so manche Wohnung in anderen Gebäuden. Die Toiletten sind noch nicht an die Kanalisation angeschlossen, aber eine dauerhaft brennende Gasflamme (Verbrauch: 80 Liter Steinkohlegas pro Stunde) reinigt die Luft im Fallrohr, die „Abtrittsanlage“ wäre damit geruchsfreier als ein Wasserklosett. Man wünscht sich, das Gebäude hätte Bomben und Nachkrieg „überlebt“, dann könnte man eine Gedenktafel am Abtritt anbringen.
Die Broschüre Pettenkofers listet auf vier Seiten die Themen des Hygienischen Praktikums auf, das von Mitte April bis Ende Juli an vier Wochentagen jeweils von 15-17 Uhr abgehalten wurde (nicht mehr von Pettenkofer selbst, sondern von seinen Assistenten, versteht sich). Auch Herr Möwenfern durchlief diesen Unterricht, wobei die kurze Unterrichtszeit etwas in die Irre führt, von den Praktikanten wurde erwartet, dass sie den Rest der Woche (die Versuchslaboratorien waren Montag bis Samstag ganztägig geöffnet) eigenständig Experimente durchführen.
Was lernte also Herr Möwenfern? Vor allem: Messen, Analysieren, Experimentieren. Wie Pettenkofer selbst es schätzte, listet der Plan wenig Theorie und viel Praxis auf. Untersucht wurden die Luft (physikalisch, chemisch, Luftzirkulation, Heizung), Wasser (physikalisch, chemisch, Filtration), Erde (natürlicher Boden vor Ort, Bodenproben), Fermente (Pilze und andere, Nährflüssigkeiten und Desinfektion), Nahrung und Ernährung aller Art, z.B. unter Punkt V.A.4 Getränke in folgender Reihenfolge (und Wichtigkeit): Bier (inklusive Fälschungen), Wein, andere alkoholische Getränke, Kaffee, Tee, Kakao. Schließlich noch Untersuchung von Kleidung, Wohnung (inklusive des wichtigen Pettenkoferschen Irrtums der „atmenden Wand“) und abschließend Begutachtung und Besichtigung großer öffentlicher Gebäude und Einrichtungen. Eine Menge Stoff also. Herrn Möwenfern ging es wie heute noch so manchen Studenten: Die ersten Wochen waren die anstrengendsten, danach konnte man wieder ans Genießen denken.
Wobei, wie wir noch sehen werden, unser Herr Möwenfern insbesondere den oben erwähnten Punkt V.A.4 zu schätzen wusste. Inklusive, wie konnte es anders sein, intensiver Eigenexperimentation.
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Am 9. Juli 1922, vor genau 100 Jahren, starb in Tôkyô in seinem Anwesen mit dem Namen Meerblick der Schriftsteller, Übersetzer, Arzt, Militär, Herausgeber, Generaldirektor der Kaiserlichen Museen und der Bibliothek sowie Vorsitzender der Japanischen Akademie der Künste Mori Rintarô. Rintarô (im Japanischen folgt der Vorname dem Nachnamen) ist besser bekannt unter seinem Dichternamen Ôgai, zu Deutsch „Möwenfern“.
In München hielt sich Mori Ôgai in den Jahren 1886 bis 1887 auf, während dieser Zeit konnte er sich der Oberaufsicht und Kontrolle der japanischen Botschaft entziehen. Er führte ein recht freies Studentenleben und kam zugleich in Kontakt mit Malern und Studenten der hiesigen Akademie der Künste. „Möwenfern in München“ – unter diesem Titel soll in den nächsten Wochen Ôgais Aufenthalt in der bayerischen Landeshauptstadt näher beleuchtet werden: Was hat er unternommen, und wo genau war er? Eine Reihe von Friedrich Ulf Röhrer-Ertl.
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Moris Stundenplan
Dass Herr Möwenfern in seiner fünften Woche in München sehr beschäftigt war, sieht man dem Tagebuch an. Abermals ist für die Woche nur ein Eintrag vorhanden: Am Montag kam Post aus der Heimat.
Was machte Herr Mori die ganze andere Zeit? Ziemlich sicher ging er zur Schule. Nicht irgendeine. Er war ja gezielt nach München gekommen, um sich (und damit erst indirekt und schließlich direkt die japanische Armee) in Sachen Hygiene auf den neuesten Stand zu bringen. Noch mehr als in Berlin oder Sachsen, seinen anderen Stationen in Deutschland, bedeutete das in München die Schulbank zu drücken.
Wie dieser Unterricht in Sachen Hygiene und auch das zugehörige Gebäude aussah, kann man gut an einer, man könnte sagen, Werbebroschüre sehen, die Max von Pettenkofer selbst 1882 in Braunschweig hatte drucken lassen. In „Das Hygienische Institut der Königl. Bayer. Ludwig-Maximilians-Universität München“ stellt er Gebäude und Unterricht darin im Detail vor.
Das großzügige zweistöckige Gebäude für Forschung und Lehre, das König Ludwig II. seinem Hygieniker Pettenkofer ab 1877 errichten ließ, verdankt sich einer typischen Professorenposse, wie sie heute noch stattfinden könnte: Pettenkofer hatte 1872 einen Ruf an die Universität Wien erhalten, verbunden mit der Aussicht auf ein eigenes Lehrgebäude. Mit diesem Ruf in der Hinterhand konnte er dem bayerischen Staat (der aufgrund der französischen Reparationen sowieso gerade dabei war, eifrig Geld einzunehmen) leicht überzeugen, im Gegenzug für seine Absage ein Gebäude im Wert von 180.000 Gulden bei kostenloser Bereitstellung des Grundstücks durch die Stadt München aus dem Kreuz zu leiern.
Es brauchte einige Umplanungen, um den Kostenrahmen einzuhalten, aber Oberbaurat Carl von Leimbach (1814-1891) erstellte schließlich ein Institutsgebäude, das beide Seiten zufriedenstellte, einen repräsentativen Neorenaissancebau, der im Hochparterre drei Laboratorien, im Obergeschoss zwei repräsentative Hörsäle, Sammlungssaal und physikalischen Versuchssaal enthielt, dazu Büros und andere Einrichtungen. Das bereits schlecht abgedruckte Foto des Instituts lässt das nur erahnen, aber ein Blick auf den zwar größeren, aber sehr ähnlich gestalteten Bau des ebenfalls von Leimbach errichteten Wilhelmsgymnasiums in der Maximiliansstraße kann uns einen Eindruck geben, wie das Gebäude ursprünglich ausgesehen hat. Insbesondere die Portale gleichen sich fast wie ein Ei dem anderen – beim nächsten Biopic über Pettenkofer (bzw. Ôgai) könnte man also so manche Szene auch am Tor oder im Treppenhaus in der Thierschstraße drehen.
In seiner Broschüre ergeht sich Pettenkofer denn auch vor allem voller Stolz über sein Gebäude und wie er allen Widrigkeiten zum Trotz einen Platz geschaffen hat, der ideal für Lehre, Forschung und als Anschauungsobjekt selbst dienen kann. Zwar ist die Hausmeisterwohnung im Keller, aber so gestaltet, dass sie hygienischer ist als so manche Wohnung in anderen Gebäuden. Die Toiletten sind noch nicht an die Kanalisation angeschlossen, aber eine dauerhaft brennende Gasflamme (Verbrauch: 80 Liter Steinkohlegas pro Stunde) reinigt die Luft im Fallrohr, die „Abtrittsanlage“ wäre damit geruchsfreier als ein Wasserklosett. Man wünscht sich, das Gebäude hätte Bomben und Nachkrieg „überlebt“, dann könnte man eine Gedenktafel am Abtritt anbringen.
Die Broschüre Pettenkofers listet auf vier Seiten die Themen des Hygienischen Praktikums auf, das von Mitte April bis Ende Juli an vier Wochentagen jeweils von 15-17 Uhr abgehalten wurde (nicht mehr von Pettenkofer selbst, sondern von seinen Assistenten, versteht sich). Auch Herr Möwenfern durchlief diesen Unterricht, wobei die kurze Unterrichtszeit etwas in die Irre führt, von den Praktikanten wurde erwartet, dass sie den Rest der Woche (die Versuchslaboratorien waren Montag bis Samstag ganztägig geöffnet) eigenständig Experimente durchführen.
Was lernte also Herr Möwenfern? Vor allem: Messen, Analysieren, Experimentieren. Wie Pettenkofer selbst es schätzte, listet der Plan wenig Theorie und viel Praxis auf. Untersucht wurden die Luft (physikalisch, chemisch, Luftzirkulation, Heizung), Wasser (physikalisch, chemisch, Filtration), Erde (natürlicher Boden vor Ort, Bodenproben), Fermente (Pilze und andere, Nährflüssigkeiten und Desinfektion), Nahrung und Ernährung aller Art, z.B. unter Punkt V.A.4 Getränke in folgender Reihenfolge (und Wichtigkeit): Bier (inklusive Fälschungen), Wein, andere alkoholische Getränke, Kaffee, Tee, Kakao. Schließlich noch Untersuchung von Kleidung, Wohnung (inklusive des wichtigen Pettenkoferschen Irrtums der „atmenden Wand“) und abschließend Begutachtung und Besichtigung großer öffentlicher Gebäude und Einrichtungen. Eine Menge Stoff also. Herrn Möwenfern ging es wie heute noch so manchen Studenten: Die ersten Wochen waren die anstrengendsten, danach konnte man wieder ans Genießen denken.
Wobei, wie wir noch sehen werden, unser Herr Möwenfern insbesondere den oben erwähnten Punkt V.A.4 zu schätzen wusste. Inklusive, wie konnte es anders sein, intensiver Eigenexperimentation.