Zum 100. Todestag: Mori Ôgais Aufenthalt in München (4)
Am 9. Juli 1922, vor genau 100 Jahren, starb in Tôkyô in seinem Anwesen mit dem Namen Meerblick der Schriftsteller, Übersetzer, Arzt, Militär, Herausgeber, Generaldirektor der Kaiserlichen Museen und der Bibliothek sowie Vorsitzender der Japanischen Akademie der Künste Mori Rintarô. Rintarô (im Japanischen folgt der Vorname dem Nachnamen) ist besser bekannt unter seinem Dichternamen Ôgai, zu Deutsch „Möwenfern“.
In München hielt sich Mori Ôgai in den Jahren 1886 bis 1887 auf, während dieser Zeit konnte er sich der Oberaufsicht und Kontrolle der japanischen Botschaft entziehen. Er führte ein recht freies Studentenleben und kam zugleich in Kontakt mit Malern und Studenten der hiesigen Akademie der Künste. „Möwenfern in München“ – unter diesem Titel soll in den nächsten Wochen Ôgais Aufenthalt in der bayerischen Landeshauptstadt näher beleuchtet werden: Was hat er unternommen, und wo genau war er? Eine Reihe von Friedrich Ulf Röhrer-Ertl.
*
Restaurants & Protagonisten
Für Ôgais dritte Woche in München liegen nur drei kurze Einträge vor. Sonntag und Mittwoch geht es ins Restaurant. Am Sonntag mit einem japanischen Bekannten ins „St. Peter“, am Mittwoch mit „Offizieren des 2. Bayerischen Infanterieregiments im Lokal ‚Schottenhammel‘ in der Luitpoldstraße“.
St. Peter, das war das Café-Restaurant St. Peter (Italia) am damaligen Rindermarkt 2. Der Besitzer inserierte stolz: „täglich Concert, Vorstellung [...]. Für gute Küche, ausgezeichnetes Hackerbräu-Sommerbier, reine Weine, reelle Bedienung ist bestens gesorgt.“ Der „Schottenhammel“ Ôgais ist natürlich ein Restaurant der Münchener Hotelier- und Wirtedynastie Schottenhamel, die man heutzutage vor allem mit ihrem Festzelt auf dem Oktoberfest verbindet. Wahrscheinlich ist das Restaurant „Zu den Drei Mohren“ in der damaligen Luitpoldstraße 13 gemeint, das der Oberpfälzer Michael Schottenhamel 1867 übernommen hatte. Heute befindet sich hier der Elisenhof, schräg gegenüber vom Hauptbahnhof.
Für einen japanischen Autor ist Herr Möwenfern erstaunlich zurückhaltend, was die Beschreibung von Essen betrifft. Er listet penibel auf, wenn er ein (besseres) Restaurant besucht hat, aber was er dort aß und wie es ihm schmeckte, bleibt uns verborgen. Dabei gilt, was eine Madrider Verwandte von mir einst sagte: Uns Spanier und die Japaner eint eine Tatsache: alle anderen Völker der Erde essen, um zu leben, aber wir leben, um zu essen. Irgendwie scheint es mir, als hätten wir es auch hier mit einer Selbststilisierung Ôgais zu tun. Als Dichter, Militär, Asket will er nicht vom Essen reden; aber durch die Auflistung der Restaurants tut er es halt doch, zumindest indirekt.
Akademie der Bildenden Künste München zwischen 1890 und 1905.
Am Donnerstag der dritten Woche vermerkt Ôgai zum ersten Mal einen Besuch beim jungen Maler Harada Naojirô (1863-1899) in der Akademiestraße, also nahe an des damals frisch eröffneten neuen Akademiegebäudes. So wie Ôgai und die vielen anderen japanischen Ärzte, die in seinem Tagebuch auftauchen, zum Studium der neuesten medizinischen Erkenntnisse nach Deutschland und Europa geschickt wurden, hatte die japanische Regierung auch einige Maler in den Westen geschickt, die meisten davon freilich nach Italien und Frankreich. Harada dagegen hatte es 1884 nach München verschlagen, so dass er in der japanischen Kunstgeschichte ein bisschen ein Unikum darstellt. Für den Menschen, der die Matrikel der Akademie führte, sowieso. Der Eintrag Haradas zum 21. April 1884 besteht aus einem schwungvoll geführten Nachnamen und einem schüchternen Buchstabe für Buchstabe dazugemalten Vornamen. Man kann sich die Situation dazu gut vorstellen.
Der kurze Eintrag „Naojirôs Ölgemälde sind sehr gut“ lässt es noch nicht vermuten, aber Harada wird die seltene Ehre zuteil, namentlich zum Protagonisten (und stand-in für den Autor) zu werden, nämlich in der „Münchener“ der drei deutschen Novellen Ôgais. Obwohl, es ist äußerst selten, dass Herr Möwenfern von jemandem mit seinem Vornamen spricht. Eine Vertraulichkeit, selbst wenn sie erst bei einer späteren Überarbeitung eingeflossen sein dürfte, die als Understatement durchaus Bände spricht.
Was Herr Möwenfern den Rest der Woche getrieben haben mag? Wahrscheinlich ging er im Institut Pettenkofers seinen Studien nach. Dazu las er und, wie er in der vorhergehenden Woche en passant erwähnte, hatte auch noch angefangen, mit einem neuen japanischen Freund von ihm, Iwasa Shin, Stenographie zu lernen – vielleicht Gabelsbergerstenographie, wo sie schon in München waren.
Der 1865 geborene Iwasa Shin wird, wie auch Harada Naojirô, noch etliche Male im Tagebuch auftauchen, er ist einer der engsten Freunde Ôgais in München. Während die Verbindung zu Harada über Ôgais militärisches Netzwerk etabliert wurde (der Vater des Malers war Generalmajor in der japanischen Armee), hatte Iwasa Shin einen ähnlichen Hintergrund wie unser Herr Möwenfern selbst. Während Mori Ôgai aus einer Familie von Ärzten kam, die in der japanischen Feudalzeit der Edo-Periode (1603-1868) erbliche Hofärzte der Fürsten in Tsuwano waren, kam Iwasa aus einer Familie von kaiserlichen Hofärzten. Freilich, wie wir bald sehen werden – die jungen Männer waren in München vor allem auch das: junge Studierende, die ein Studentenleben führen wollten. Eines ihrer gemeinsamen Fotos – vielleicht aufgenommen, als sich ihre gemeinsame Zeit in München dem Ende neigte – zeigt sie denn auch recht keck nebeneinander posieren, Iwasa Shin zur Linken, Mori Ôgai zur Rechten und Harada Naojirô in der Mitte.
Eine weitere Aufnahme, die Naojirô und Ôgai in München zeigt (ca. 1885). Naojirô ist hier vorne in der Mitte, Ôgai rechts neben ihm zu sehen.
Swann, Thomas E. (1974): The Problem of Utakata no Ki. In: Monumenta Nipponica 29, Nr. 3, S. 263-281. URL: https://www.jstor.org/stable/2383668, (14.08.22).
Externe Links:Literatur von Mori Ôgai im BVB
Literatur über Mori Ôgai im BVB
Ôgai Bunko – Nachlass in der Bibliothek der Universität Tôkyô (jap., mit Digitalisaten)
Zum 100. Todestag: Mori Ôgais Aufenthalt in München (4)>
Am 9. Juli 1922, vor genau 100 Jahren, starb in Tôkyô in seinem Anwesen mit dem Namen Meerblick der Schriftsteller, Übersetzer, Arzt, Militär, Herausgeber, Generaldirektor der Kaiserlichen Museen und der Bibliothek sowie Vorsitzender der Japanischen Akademie der Künste Mori Rintarô. Rintarô (im Japanischen folgt der Vorname dem Nachnamen) ist besser bekannt unter seinem Dichternamen Ôgai, zu Deutsch „Möwenfern“.
In München hielt sich Mori Ôgai in den Jahren 1886 bis 1887 auf, während dieser Zeit konnte er sich der Oberaufsicht und Kontrolle der japanischen Botschaft entziehen. Er führte ein recht freies Studentenleben und kam zugleich in Kontakt mit Malern und Studenten der hiesigen Akademie der Künste. „Möwenfern in München“ – unter diesem Titel soll in den nächsten Wochen Ôgais Aufenthalt in der bayerischen Landeshauptstadt näher beleuchtet werden: Was hat er unternommen, und wo genau war er? Eine Reihe von Friedrich Ulf Röhrer-Ertl.
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Restaurants & Protagonisten
Für Ôgais dritte Woche in München liegen nur drei kurze Einträge vor. Sonntag und Mittwoch geht es ins Restaurant. Am Sonntag mit einem japanischen Bekannten ins „St. Peter“, am Mittwoch mit „Offizieren des 2. Bayerischen Infanterieregiments im Lokal ‚Schottenhammel‘ in der Luitpoldstraße“.
St. Peter, das war das Café-Restaurant St. Peter (Italia) am damaligen Rindermarkt 2. Der Besitzer inserierte stolz: „täglich Concert, Vorstellung [...]. Für gute Küche, ausgezeichnetes Hackerbräu-Sommerbier, reine Weine, reelle Bedienung ist bestens gesorgt.“ Der „Schottenhammel“ Ôgais ist natürlich ein Restaurant der Münchener Hotelier- und Wirtedynastie Schottenhamel, die man heutzutage vor allem mit ihrem Festzelt auf dem Oktoberfest verbindet. Wahrscheinlich ist das Restaurant „Zu den Drei Mohren“ in der damaligen Luitpoldstraße 13 gemeint, das der Oberpfälzer Michael Schottenhamel 1867 übernommen hatte. Heute befindet sich hier der Elisenhof, schräg gegenüber vom Hauptbahnhof.
Für einen japanischen Autor ist Herr Möwenfern erstaunlich zurückhaltend, was die Beschreibung von Essen betrifft. Er listet penibel auf, wenn er ein (besseres) Restaurant besucht hat, aber was er dort aß und wie es ihm schmeckte, bleibt uns verborgen. Dabei gilt, was eine Madrider Verwandte von mir einst sagte: Uns Spanier und die Japaner eint eine Tatsache: alle anderen Völker der Erde essen, um zu leben, aber wir leben, um zu essen. Irgendwie scheint es mir, als hätten wir es auch hier mit einer Selbststilisierung Ôgais zu tun. Als Dichter, Militär, Asket will er nicht vom Essen reden; aber durch die Auflistung der Restaurants tut er es halt doch, zumindest indirekt.
Akademie der Bildenden Künste München zwischen 1890 und 1905.
Am Donnerstag der dritten Woche vermerkt Ôgai zum ersten Mal einen Besuch beim jungen Maler Harada Naojirô (1863-1899) in der Akademiestraße, also nahe an des damals frisch eröffneten neuen Akademiegebäudes. So wie Ôgai und die vielen anderen japanischen Ärzte, die in seinem Tagebuch auftauchen, zum Studium der neuesten medizinischen Erkenntnisse nach Deutschland und Europa geschickt wurden, hatte die japanische Regierung auch einige Maler in den Westen geschickt, die meisten davon freilich nach Italien und Frankreich. Harada dagegen hatte es 1884 nach München verschlagen, so dass er in der japanischen Kunstgeschichte ein bisschen ein Unikum darstellt. Für den Menschen, der die Matrikel der Akademie führte, sowieso. Der Eintrag Haradas zum 21. April 1884 besteht aus einem schwungvoll geführten Nachnamen und einem schüchternen Buchstabe für Buchstabe dazugemalten Vornamen. Man kann sich die Situation dazu gut vorstellen.
Der kurze Eintrag „Naojirôs Ölgemälde sind sehr gut“ lässt es noch nicht vermuten, aber Harada wird die seltene Ehre zuteil, namentlich zum Protagonisten (und stand-in für den Autor) zu werden, nämlich in der „Münchener“ der drei deutschen Novellen Ôgais. Obwohl, es ist äußerst selten, dass Herr Möwenfern von jemandem mit seinem Vornamen spricht. Eine Vertraulichkeit, selbst wenn sie erst bei einer späteren Überarbeitung eingeflossen sein dürfte, die als Understatement durchaus Bände spricht.
Was Herr Möwenfern den Rest der Woche getrieben haben mag? Wahrscheinlich ging er im Institut Pettenkofers seinen Studien nach. Dazu las er und, wie er in der vorhergehenden Woche en passant erwähnte, hatte auch noch angefangen, mit einem neuen japanischen Freund von ihm, Iwasa Shin, Stenographie zu lernen – vielleicht Gabelsbergerstenographie, wo sie schon in München waren.
Der 1865 geborene Iwasa Shin wird, wie auch Harada Naojirô, noch etliche Male im Tagebuch auftauchen, er ist einer der engsten Freunde Ôgais in München. Während die Verbindung zu Harada über Ôgais militärisches Netzwerk etabliert wurde (der Vater des Malers war Generalmajor in der japanischen Armee), hatte Iwasa Shin einen ähnlichen Hintergrund wie unser Herr Möwenfern selbst. Während Mori Ôgai aus einer Familie von Ärzten kam, die in der japanischen Feudalzeit der Edo-Periode (1603-1868) erbliche Hofärzte der Fürsten in Tsuwano waren, kam Iwasa aus einer Familie von kaiserlichen Hofärzten. Freilich, wie wir bald sehen werden – die jungen Männer waren in München vor allem auch das: junge Studierende, die ein Studentenleben führen wollten. Eines ihrer gemeinsamen Fotos – vielleicht aufgenommen, als sich ihre gemeinsame Zeit in München dem Ende neigte – zeigt sie denn auch recht keck nebeneinander posieren, Iwasa Shin zur Linken, Mori Ôgai zur Rechten und Harada Naojirô in der Mitte.
Eine weitere Aufnahme, die Naojirô und Ôgai in München zeigt (ca. 1885). Naojirô ist hier vorne in der Mitte, Ôgai rechts neben ihm zu sehen.
Swann, Thomas E. (1974): The Problem of Utakata no Ki. In: Monumenta Nipponica 29, Nr. 3, S. 263-281. URL: https://www.jstor.org/stable/2383668, (14.08.22).