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Tukan-Preis 2021 an Fridolin Schley. Laudatio von Dagmar Leupold

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Fridolin Schley präsentiert neben Stadtrat Florian Roth die Urkunde im Münchner Literaturhaus © Volker Derlath

Für seinen Roman Die Verteidigung (Hanser Berlin) bekam der Münchner Autor Fridolin Schley 2021 den Tukan-Preis zugesprochen. Zum zweiten Mal erhielt er damit den mit 6.000 Euro dotierten Preis für belletristische Neuerscheinungen von Münchner Autorinnen und Autoren. Fridolin Schleys Roman kreist um die Verteidigung des hohen NS-Beamten und Diplomaten Ernst von Weizsäcker durch seinen Sohn Richard, wobei der Autor uns, so die Jurybegründung, „mit der Frage konfrontiert, wie der Einzelne und seine Familie mit der Schuld umgehen“, und „das Ringen um die Wahrheit als lebenslangen Prozess“ zeigt. Am 27. September 2021 stellte Schley seinen Roman im Literaturhaus München vor.

Am 2. Juni 2022 wurde die pandemiebedingt verschobene öffentliche Preisverleihung im Literaturhaus nachgeholt. Wir veröffentlichen die Laudatio der Münchner Autorin Dagmar Leupold für Fridolin Schley.

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Lieber Frido, sehr geehrter Herr Dr. Roth, liebe Freundinnen und Freunde, meine sehr geehrten Damen und Herren,

es ist mir eine besondere Freude, heute die Laudatio auf Fridolin Schley für seinen Roman Die Verteidigung halten zu dürfen, denn ich hatte das Privileg, den Entstehungsprozess – vom „Keimling“ bis zum fertigen Buch – aus der Nähe zu begleiten. Seit einigen Jahren treffen wir uns sporadisch zu viert bei mir Zuhause – außer uns beiden gehören noch Andrea Heuser und Norbert Niemann mit zur Partie – und lesen einander aus den jeweiligen works in progress vor. Eines Abends, im ersten Corona-Jahr 2020, kam Fridolin freudig aufgeregt zum vereinbarten Treffen und kündigte an, er habe ein neues Projekt, das ihm unter den Nägeln brenne, Nürnberg 1947, einen Roman über Ernst und Richard von Weizsäcker, Vater und Sohn. Der Vater, Spitzendiplomat im Auswärtigen Amt unter Ribbentrop, NSDAP-Mitglied und SS-Brigadeführer, im sogenannten Wilhelmstraßenprozess als Kriegsverbrecher angeklagt. Der Sohn – und spätere Bundespräsident – ist, noch Student der Rechtswissenschaften, Assistent des Verteidigers Hellmut Becker.

Fridolin las uns die ersten Seiten vor (viel mehr gab es zu diesem Zeitpunkt noch nicht): Wir waren elektrisiert. Elektrisiert von dem schwebend-zögernden, auch feierlichen Ton – beinahe eines Introitus' – der in die maßgebliche Szenerie, den Nürnberger Gerichtssaal einführt. Kamera und Mikrophon sind die Aufnahmegeräte, mit denen von der ersten Seite an virtuos gearbeitet wird.

… tauchen auch andere Geräusche auf aus der Stille, steigt ein Lautgesumm auf […], der weite Raum unter ihm, seine rechten Winkel aus schweren Tischen, Stuhlreihen, angefügten Pulten, ihre Linien flächig verschwommen …

heißt es zu Beginn. Und schon sind wir mit allen Sinnen und geschärfter Wahrnehmung mitten drin, umso mehr, als Linse und akustischer Filter, Augen und Ohren, Richard, dem Sohn gehören, der in seiner Rolle als „Adlatus“ Hellmut Beckers weniger Akteur ist als vielmehr Beobachter. Und erinnernder, fragender und suchender Nachkomme. Elektrisiert waren wir auch von der Eleganz der Sprache, die sich unangestrengt, mit größter Genauigkeit Atmosphärisches und Fachsprachliches aneignet und einleuchtend, geradezu zwingend, Dokumentiertes und Erfundenes miteinander so verfugt und verschränkt, dass sofort deutlich wird, was die literarische Gestaltung eines geschichtlichen Stoffes von einer historiographischen unterscheidet: wir lesen nicht nur von den Geschehnissen und Verstrickungen, wir erfahren sie, mitdenkend, mitfühlend. Das Erfundene ist niemals Ausschmückung und Geschmacksverstärker, sondern trägt stets zur Erhellung bei – und bewirkt eine größere dramaturgische Stringenz. Als ein Beispiel für die Kraft der Fiktion sei hier die dem faktischen Prozessgeschehen zuwiderlaufende Entscheidung des Autors genannt, den Ankläger, Robert Kempner, die letzte Amtsrede Ernst von Weizsäckers, gehalten am 6. Mai 1945 im Vatikan, vor Gericht verlesen zu lassen. Kempner, der ehemalige preußische Beamte jüdischer Herkunft, 1933 in die Vereinigten Staaten emigriert, trägt die Rede des wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit Angeklagten vor. Eine Rede, die beinahe vollständig aus blinden Flecken und toten Winkeln besteht, eine Rede, in der vom Volk ohne Raum geraunt wird, von „Besatzungsmächten, die gewillt sind, unsere Wälder und Bergwerke auszubeuten.“

Das ist ein dramaturgischer Coup, der wie ein Kontrastmittel funktioniert, das man Patienten zur Sichtbarmachung pathologischer Veränderungen zuführt. Ebenfalls sichtbar wird durch die literarische Bearbeitung und die fiktionalen Umdisponierungen, dass der Nürnberger Gerichtssaal auch ein Theaterraum war, eine Bühne, auf der es nicht ausschließlich um Wahrheitsfindung, Aufklärung und angemessenes Strafmaß ging, sondern auch um das Anzetteln und Austragen von Intrigen und Interessenkonflikten; Tragödie und Posse zugleich.

Auf den ersten Blick wirkt Die Verteidigung wie ein Solitär in Schleys literarischem Werk. Dezidiert politisch im Sujet, mit einem historisch verbürgten Personal, zeitlich lange vor Schleys eigener Zeit angesiedelt. Im Debut von 2001, dem Roman Verloren, mein Vater geht es ebenso wie in den Erzählungen Schwimmbadsommer und dem wunderbaren Band Die achte Welt. Fünfzig Jahre Super 8 um autobiographisch Beglaubigtes, stets aber richtet sich der Blick auch hier auf den gesellschaftlichen Kontext. Die Protagonisten sind Fridolin Schleys Zeitgenossen, gehören, wie er, zu einem akademisch gebildeten Milieu. (Ausnahme: Die Langerzählung Ungesichter, die aus einer kürzeren Fassung für das Refugio-Projekt Die Hoffnung im Gepäck hervorging.) Auf den zweiten Blick jedoch erschließen sich Gemeinsamkeiten zur Verteidigung, sowohl in thematischer wie in struktureller und methodischer Hinsicht. Thema ist, dort wie hier, die Familie – sie ist, wie wir alle wissen, nicht immer ein Hort des Friedens und der innigen Gemeinschaft, sondern, mit Aleida Assmanns Worten, ein „Verkettungszusammenhang“. Man betritt, selbst im beschaulichen und saturierten Südwesten der Weltstadt mit Herz, Schauplatz vieler Erzählungen, vermintes Gelände. Und strukturell? Strukturell ist das Filmische allen Texten Fridolin Schleys eingeschrieben, der Kameraschwenk, das Zoomen aufs Detail, die panoramatische Totale – wenig verwunderlich bei einem Autor, der an der Hochschule für Film und Fernsehen studiert hat.

„Vielleicht versteht man die eigenen Väter niemals so gut wie in der Projektion ihrer Perspektive“ heißt es in dem Filmessay Die achte Welt – und das bringt konzis auf den Punkt, von wo aus auch Die Verteidigung startet, bei einer Projektion. Filmisch bedeutet allerdings weder Hochglanz und Glätte noch Zuverlässigkeit (die Bilder gern suggerieren) –, auch mit filmischen Mitteln kommt man dem nicht bei, was ich Einschätzungsunsicherheit nennen möchte und für den zentralen Antrieb in Fridolin Schleys Schreiben halte. Das ist keineswegs eine Schwäche, sondern die produktive Stärke seines geradezu investigativen Ansatzes. Das bohrende Nachfragen, das Abwägen und Zweifeln erfolgt nicht aus sicherer Distanz, sondern aus der großen Nähe eines Erzählers, der sich einfühlt. Wohlgemerkt einfühlt, nicht re-enacted. Gearbeitet wird bei der Einfühlung nicht mit Aromastoffen und Raumdeodorant (die im Genre des Historischen Romans gern großzügig eingesetzt werden), sondern mit Sorgfalt (der Recherche), Genauigkeit (der Figurenpsychologie) und Anschaulichkeit (der Sprachbilder und Beschreibungen). Ein Beispiel möge das illustrieren: Der Angeklagte W. ist allein in seiner Zelle und

… dachte an Carl Friedrichs Schilderungen der Sternenwelt, um alle Beklemmung von sich abfallen zu spüren, und es bedurfte bloß einer kleinen Drehung an der inneren Linse, um selbst in den kalten Steinfliesen ein pompejanisches Mosaik zu erkennen und im Metallabort einen griechischen Brunnen.

Das ist meisterlich, psychologisch raffiniert und überaus sinnfällig. Die fatale Neigung des Vaters – und Täters – zur Beschönigung wird hier nicht analytisch-begrifflich erfasst, sondern im Vorgang der Um- und Aufwertung der Zelle im Kontinuum eines großbürgerlichen Bildungshorizonts erfahrbar, erschließbar gemacht.

Laudatorin Dagmar Leupold © Volker Derlath

Die Einschätzungsunsicherheit von der ich als Antrieb und Motor des Schleyschen Schreibens sprach, möchte ich anhand dreier Stichworte aufzeigen, die ich für programmatisch halte: Gespenster, Brüche und Parallelwelten. Man könnte das Programm der Einschätzungsunsicherheit auch als eines der Hinter-Frag-Würdigkeit bezeichnen, Hinter-Frag-Würdigkeit nicht nur bezüglich der Sicherung und Auslegung historischer Fakten, sondern auch gegenüber familiärer Legendenbildung. Alles steht auf dem Prüfstand, alles ist verstrickt, verflochten und überall lauert die Gefahr eines interessegeleiteten Wahrnehmungsbias‘. Also stets: Aufgepasst! Formal zeigt sich die Vigilanz und produktive Unsicherheit der Schleyschen Erzähler in einer häufigen Verwendung von Parenthesen (besonders im Frühwerk, oft über Seiten – wollte man kalauern, ließe sich feststellen, dass sich im Begriff der Parenthese sogar „parent“, die Eltern, verstecken), in Satzkonstruktionen mit „oder“, und, semantisch, in der „Pole-Position“ des Wörtchens „vielleicht“.

Die Wahrheit wird euch frei machen. Vielleicht geht ihm plötzlich sein Taufspruch durch den Kopf und stößt etwas an, das daraufhin erwacht, oder er flüstert ihn schon im selben Moment, um den Saal für das Kommende zu beschwören …

So lauten die ersten Sätze des Romans. Die Unsicherheit, die Zweifel sind freilich weniger Spekulation als vielmehr Exploration, ein Ausprobieren, Abwägen, eine Veränderung der (Kamera-)Einstellung und der Beleuchtung, ein Fein-Tuning der Mikrophone, das Untertöne vernehmbar macht - und schon stellt sich etwas anders da, erlaubt andere Schlüsse. Andererseits sind Zweifel, ist Zweifeln durchaus tückisch, denn es könnte den Zweifelnden in Sicherheit wiegen, sich auf der richtigen Seite, nämlich der kritischen, nonkonformen zu befinden, wie eine Richard zugewiesene Überlegung zeigt, nämlich „… dass auch Zweifel Selbstzweck sein können, so wie der Vater die Fortsetzung seiner Arbeit oft in Frage stellte, ohne dem Hadern je ganz nachzugeben.“ Das desavouiert den Zweifel – was er an korrektiver Kraft verliert, gewinnt er an Koketterie hinzu.

Gespenster

Im Roman taucht das Wort Gespenst mehrere Male auf, zweimal in einem identisch gebauten Satz, der dadurch etwas Refrainhaftes erhält. Er lautet: „Das Gespenst – ist er.“ Aber, und das ist das Brisante und Verstörende, im ersten Kontext ist das Gespenst der Sohn, im zweiten der Vater. Gespenstsein vererbt sich. Schauen wir uns die beiden Stellen genauer an, die erste spielt zu Anfang des Prozesses. Wie so oft lässt Richard Blicke und Gedanken frei schweifen, sie verharren bei den Simultandolmetschern (darunter Wolfgang Hildesheimer) und ihrer Rolle. Daran schließt sich folgende Reflektion:

Während die Übersetzer hier Erfahrungen machen und danach lebenslänglich frei sind, sich dazu eine eigene Geschichte zu erzählen, hat bei Richard die Familiengeschichte seine Erfahrung vorherbestimmt. Sie zieht an ihm, zieht ihn unter Wasser, von oben dringen Garben von Licht hindurch, doch er kann es nicht erreichen, er ist im Prozess gefangen, befangen. Das Gespenst – ist er.

Gut siebzig Seiten später heißt es:

… strategisches Kriegsspiel, da ist der Vater in seinem Element. Und kommt selbst kaum darin vor. Richard fragt sich an solchen Stellen, was er eigentlich die ganze Zeit gemacht und gedacht hat. Der Vater schreibt, der Russlandfeldzug habe wie ein Gespenst im Osten gelauert. Doch das Gespenst – ist er.

Die Wortgeschichte von Gespenst ist komplex und erhellend, Spanne, Spange, Spasmus – alles abgeleitet aus dem griechischen span: ziehen, zerren, reißen, verrenken. Das Gespenstsein wird man folglich nicht so einfach los, weder mit Hilfe von Verrenkungen, Wahrheitsverdrehungen und rasantem Umdeutungsslalom (bei Ernst: Widerstand durch Kooperation) noch mit Zerren und Reißen an den Verstrickungen (bei Richard), wie das erste Zitat anschaulich macht: lebenslänglich be- und gefangen.

Der Titel Verloren, mein Vater klingt in diesem Kontext wie die Bilanz des jungen Richard im wesentlich späteren Roman Die Verteidigung, und auch das Pink-Floyd-Motto des Debuts ist rückblickend prophetisch: „And did they get you / to trade your heroes for / ghosts?“

Brüche

Komplementär zu den Gespenstern lässt sich die Faszination für Brüche, Bruchstellen und Risse in Fridolins Schleys Werk lesen. In einem der letzten Songs von Leonard Cohen lautet ein Vers: „there is a crack in everything, this is how the light gets in.“ Eine solche hoffnungsfrohe Botschaft kann man dem Schley’schen Weizsäcker-Sohn, der Erzählersicht also, eher nicht entnehmen – „cracks“, Brüche und Risse eröffnen zwar einen Zugang zu einem Dahinter – freilich keinem metaphysischen –, zum Maschinenraum des Erzählens (oder Filmens) oder eben zu einem Habitat von Gespenstern (zum Beispiel Geschichte, zum Beispiel Familie), aber sie sind immer auch Indikator für die Fragilität der allzu sicheren Annahmen, Hinweis auf den trügerischen Schein einer glatten Oberfläche. So heißt es einmal im Kontext der Beschäftigung Richards mit den Dolmetschern, denen verschiedene Signallampen zur Verfügung stehen, um eine Pause zu erwirken:

… gelbe Birne: Bitte nochmal, unverständlich! Rote Birne: Kurze Unterbrechung, Kabelbruch, Geschichte unsicher! Schattenkämpfe im Zwischenraum der Sprachen. Dort regt sich, was im offenen Saal verdeckt bleiben muss …

Dem Schatten-Zwischenraum der Sprachen entspricht in der Ästhetik des Super-8-Films das „unscharfe Splittergewebe“:

Im Familienfilm ist das Bruchstückhafte oft mehr spür- als sichtbar, im leichten Holpern der Schnitte, der Unruhe um die Klebestellen mit eingeschlossenen Resten von Kitt, Staub und Haaren. […] Vor allem die Figuren, die wir auf der Leinwand sehen – inklusive man selbst –, bleiben Versuche, bleiben unscharfe, unruhige Gespenster.

Die Unschärfe ist aber – gewiefter, an Benjamin geschulter Dialektiker, der Fridolin Schley ist – kein Makel, sondern die Voraussetzung für ein anderes Sehen und Verstehen:

Erst in der Unschärfe werden aus toten Lichtpunkten lebendige Figuren, die uns der ‚Tiefenschicht der Wahrheit‘ näher bringen, zumindest für einen kurzen Augenblick.

Der optischen Unschärfe entspricht sprachlich ein „leicht verwackeltes Benennen“, beides ist für die Wahrheitsfindung und das Sich-Ein-Bild-Machen geeigneter als die juristische Sprache, die zwar den „Augenschein“ kennt, aber „an nichts erinnert als an sich selbst.“ Sprache ist immer schon kontaminiert, Spuren- und Narbenträger. Mithilfe der Sprache aufzudecken, was die Sprache selbst verschleiert, beschönigt, dreht und wendet bleibt eine überaus heikle Angelegenheit, der sich der Erzähler aus der Perspektive Richards stellt. Lesbar ist diese Einsicht durchaus als ein aktuelles Echo auf Ingeborg Bachmanns Forderung an die Literatur, „ein tausendfacher und mehrtausendjähriger Vorstoß gegen die schlechte Sprache“ zu sein. In den Brüchen und Rissen, die nicht gekittet werden, sondern freigelegt, ist dieser Vorstoß am kraftvollsten.

Parallele Welten

Wenn von Gespenstern die Rede ist, sind die parallelen Welten bereits mitgedacht. Dort, wo der Augenschein fraglich und die sicher gewähnte Wirklichkeit rissig werden, tun sie sich auf.

In den letzten Kriegsjahren Ernst von Weizsäckers ist der Vatikan eine solche parallele Welt, in der „der Vater vormittags über das vatikanische Gebiet [flaniert], das an Schönheit selbst Lindau übertraf, manchmal mit der Staffelei unter dem Arm …“

Der Spitzendiplomat dilettiert an einem sicheren und von der brutalen Kriegsrealität weit entfernten Ort als Künstler. Hier kompromittiert fake die Fiktion, für den Sohn Richard (und den um die Wahrheits-, Schuld- und Verantwortungsfrage ringenden Erzähler) eine bedrohliche Schieflage, die auch die eigene Orientierung gefährdet. Als Richard sich einmal nachts im Palast verläuft, verwandelt sich dieser von einem funktionalen (und funktionierenden) Gerichtsort in etwas Gespenstisches:

Richard ließ eine Hand am feuchtkalten Gemäuer entlangfahren, es roch nach nassem Kalk, und er fragte sich, ob er überhaupt noch im eigentlichen Palast war oder schon tief unter der Erde in einem der Verbindungstunnel zum Gefängnis […],

er vernahm

nun allenfalls noch einzelne Tropflaute, das langsame Einsickern in eine Höhle …

Hier ist sie wieder, die Einschätzungsunsicherheit. Ich nannte sie zu Beginn produktiv –, das ist sie, aber sie ist mehr als das. Sie ist die Substanz, das Business literarischer Investigation. Ganz im Sinne einer Überlegung, die der russisch-amerikanische Lyriker, Essayist und Nobelpreisträger Joseph Brodsky in seinem außerordentlich lesenswerten Essay Less than One anstellt:

Whereas in the business of writing what one accumulates is not expertise but uncertainties.

Es sind diese uncertainties, es ist das wacklige Benennen und es sind die unscharfen Bilder, die den Vorstoß gegen die schlechte Sprache vollziehen – als In-Frage-Stellung. Stellung wird bezogen gegen die Sprache, die potemkinsche Kulissen errichtet und in buchhalterischer Korrektheit Verbrechen verwaltet und verschleiert. Denn allein dort, wo das Fadenscheinige sich zeigt, entsteht Transparenz, ist Durchblick möglich. Nein, Fridolin Schleys Roman Die Verteidigung beantwortet nicht mit letzter Sicherheit die Fragen nach Schuld und Verantwortung für die Menschheitsverbrechen des Nationalsozialismus und seiner Akteure – dann wäre es Kolportage. Vielmehr legt Fridolin Schley im Kammerspiel-Drama von Vater und Sohn mit feinem Sprachskalpell, großer Sorgfalt und Klugheit die Verstrickungen offen, die von Machtstreben, Selbstüberhebung, Ressentiments angetrieben, mit Feigheit und Blindheit geschlagen eines der dunkelsten Kapitel in der deutschen Geschichte ausmachten.

Ich gratuliere Dir, Frido, ganz herzlich zum Tukan-Preis der Stadt München! Und uns, den Leserinnen und Lesern, zu diesem überaus erhellenden Roman.