Magda und Alex. Eine ukrainisch-deutsche Liebesgeschichte
Die 147. Ausgabe der Zeitschrift Literatur in Bayern widmet sich dem Schwerpunkt Weitergeben. Darin spürt der Slawist Walter Koschmal der bewegenden Geschichte einer Deutschen in der Ukraine der Stalinzeit nach.
*
Die Geschichte der Deutschen Magda Homann und des Ukrainers Alex (Oleksa) hat sich tatsachlich ereignet, in und zwischen zwei Weltkriegen. Magda ist das jüngste von sechs Kindern aus einem Dorf an der Luhe in Niedersachsen. Sie lernt den ukrainischen Kriegsgefangenen Alex im Jahr 1916 auf einem Bauernhof kennen. Er stammt aus einem Dorf in Podolien. Sie ist 21, er 22. Sie lieben sich – eine „diamantene Zeit“. Alex bringt Magda in sein Heimatdorf, ohne jeden Ausweis. Sie ist von ihm schwanger und kann die dadurch entstandene „Hölle“ zu Hause nicht mehr ertragen. Im Juni 1921 bringt Magda ihre beiden Söhne Peter und Paul zur Welt. Damit setzt sich eine unglaubliche Geschichte fort. Zwei Nachfahren, Serhij Say-Bodnar und Peter Homann, haben sie 2014 in Kiew in einem zweisprachigen Büchlein veröffentlicht.
Die Deutsche, Magda, die nun „Marfa“ heißt, kann kein Wort Ukrainisch. Sie ist völlig isoliert. Die unerwartet eintretende extreme Armut auf dem Land trifft die Familie. Verzweifelt denkt sie an Selbstmord. Doch Magda geht nicht ins Wasser. Vielmehr kümmert sie sich um ihre Kinder und um ihre kleine Landwirtschaft. Wachsende Sorge und Schwäche lassen sie vorzeitig altern. Da erkrankt ihr Mann Alex schwer. Sie pflegt ihn neben der harten Arbeit auf dem Hof. Gegen Ende 1927 schreibt sie in ihrer Verzweiflung erstmals nach Hause an ihren sieben Jahre älteren Bruder: „Jetzt naht wieder das Weihnachtsfest, 13 Tage später wie Euer, für mich immer ein Trauerfest, ohne jegliche Verwandten und Bekannten.“
Magda schreibt, wie sehr sie und Alex sich als Kleinbauern gegen die Kollektivierung Stalins wehren. Dies sei für sie so etwas wie die „einstmalige Leibeigenschaft“. Als gläubige Protestantin wehrt sich Magda dagegen, dass es für sie und ihre Söhne unter den Bolschewiken keinen Gott mehr geben darf. Sie hoffe sehnlichst auf den baldigen „Untergang für diese Menschenfresser“. Magda und Alex kämpfen um ihre einzige Kuh, ihre Hühner. Ihre Weizenernte müssen sie zu 95 % dem Kollektiv abliefern. Im Brief vom 4. April 1931 hält sie ihrem Bruder Gustav vor, dass er ihnen nicht hilft. Sie wüssten wohl dort nicht, „wie einem Armen zu mute“ sei.
Sie ahnt nicht, dass sowjetischerseits Kontakte in den Westen eingeschränkt werden, Briefe oft nicht ankommen. Doch sieht sie sich selbst als schuldig an ihrem Los und wünscht das Ende ihres Lebens herbei. Erneut bittet sie den Bruder um Dokumente, um Hilfe. Sie hofft so sehr auf eine Rückkehr in die Heimat.
Im Jahr 1933 lässt Stalin die Menschen in der Ukraine systematisch verhungern. Diese Hungerkatastrophe geht als „holodomor“ als eine der größten in die europäische Geschichte ein. Die Deutsche Magda ist eines ihrer Opfer. Stalins Schergen überfallen auch Kleinbauern, sperren sie in die Keller, setzen ihnen Holzeimer auf die Köpfe und trommeln mit Stöcken darauf. Magda und der geschwächte Alex wehren sich gegen diesen Terror. Die Sowjets nehmen ihnen alles weg. Die Familie wird bettelarm. Wieder schreibt Magda am 18. Januar 1933 an ihren Bruder: „[U]ns wäre ja mit wenig geholfen.“ Doch die Kleinbauern, die als Kulaken und Ausbeuter verfolgt werden, verhungern. Magda rechnet mit einem „Märtyrertod“. Ihre größte tägliche Sorge aber gilt Alex. Seit eineinhalb Jahren – so ihr Brief an den Bruder – bestehe „wenig Hoffnung: Er ist nur noch Haut und Knochen, so bin ich wohl sehr bald eine Witwe, im fremden Lande und noch bei dieser schweren Zeit.“
In den Briefen an Bruder Gustav hofft sie immer noch auf dessen Unterstützung. Ohne ihn aber sieht sie sich „hilflos verloren“. Die Hungersnot entkräftet sie völlig. Sie kümmert sich um ihre kleinen Söhne, den Ehemann und besorgt die Landwirtschaft. Man achtet sie sehr im Dorf. Da sie aber kaum Ukrainisch sprechen kann, bleibt sie isoliert. Auf den Straßen liegen immer mehr von Hunger aufgedunsene Tote. Am 1. März 1934 stirbt Alex. Nun ist sie allein mit den Kindern. Sie magert ab „bis zur Unkenntlichkeit“. Ein Foto aber haben wir nicht von ihr, nur Texte. Wir wissen nicht, wie Magda ausgesehen hat. Magda ist verzweifelt. Ohne Alex kann sie sich im Dorf überhaupt nicht mehr verständigen. So schreibt sie am 14. Marz 1934 erneut an den Bruder: „Ich weiß nicht, wohin ich mich rühren soll, in dieser so schweren Zeit, wie gerne möchte ich denn nach Deutschland zurück, doch dieses ist denn wohl jetzt unmöglich.“ Beide Söhne arbeiten mittlerweile im Kolchos, doch nicht lange. Im Herbst 1939, 20 Jahre nachdem Magda Alex kennengelernt hat, wendet sich das Blatt. Auf einem Pferdewagen muss sie ihre beiden Söhne selbst dorthin bringen, wo sie künftig gegen die Deutschen, ihre Landsleute, ihre Heimat, in den Krieg ziehen werden. Das kann sie kaum ertragen. Ihre letzten gemeinsamen Stunden verbringt sie mit den Söhnen auf dem Pferdewagen. Sie weiß aber nicht, dass es die letzten sind.
Auf der anderen Seite der künftigen Front – auch das weiß Magda nicht – wird ihr Bruder kämpfen, auch gegen ihre Söhne. Im Juli 1941 erobern die deutschen Truppen Podolien, gegen jene sowjetischen Truppen, in denen ihre Söhne kämpfen. Magda droht als Deutsche die Umsiedlung nach Sibirien. Doch die Verwandten von Alex verstecken sie. Sie schreibt nach Hause an Gustav: „Mein Leben ist unerträglich, ich bin einsam wie eine Blume auf dem Felde, einsam und verlassen, mit der Zeit, wenn es angeht, komme ich zurück nach Deutschland.“ Doch Gustav ist bereits wenige Kilometer von ihr entfernt stationiert. Im Sommer 1942 sucht er seine Schwester auf und trifft sie nach mehr als 20 Jahren wieder. Sie begegnen sich zweimal. Gustav will Magda zu der von ihr ersehnten Rückkehr nach Deutschland überreden. Doch jetzt ist es Magda, die ablehnt: „In dieser Erde ist mein geliebter Alex beerdigt, von hier aus sind zum Krieg meine Söhne gegangen und ich habe von ihnen keine Nachrichten bekommen, deswegen kann ich ohne sie nicht wegfahren.“
Ihre Söhne Peter und Paul geraten in deutsche Gefangenschaft, ohne dass sie das erfährt, ihre deutschen Verwandten geraten in sowjetische Gefangenschaft. Im März 1944 sind die Deutschen abgezogen und die sowjetische Armee kehrt in Magdas Dorf zurück. Sie nimmt die „Hitlerschlange“ Magda sogleich gefangen. Sie wird nicht mehr in ihr Dorf zurückkommen. Ihr Sohn Peter verfehlt die Mutter nur um wenige Tage. Längst plagt die Söhne die Sehnsucht nach der Mutter, nach ihrer einzigartigen „Mamalyga“, einem Maisbrei mit Pflaumenmus, den sie wie keine andere zubereitete. Selbst den Söhnen verwehrt man im Gefängnis den Kontakt mit der Mutter. Magda ist völlig entkräftet und unheilbar krank. Nach kurzer Zeit im Lager stirbt sie. Die Söhne hat sie nicht wiedergesehen.
Im Jahr 2014 rekonstruieren in der Ukraine zwei späte Nachfahren dieses Leben, das zwischen die Mühlsteine zweier Kriege und zweier Länder geraten ist. In den Archiven findet sich nichts zu Magda. Wir wissen nicht, wie sie aussah. Dank dieses Buchs aber kennen wir ihre unglaubliche Geschichte. Wir wissen jetzt zum Glück, dass es sie gab und wer sie war ...
Magda und Alex. Eine ukrainisch-deutsche Liebesgeschichte>
Die 147. Ausgabe der Zeitschrift Literatur in Bayern widmet sich dem Schwerpunkt Weitergeben. Darin spürt der Slawist Walter Koschmal der bewegenden Geschichte einer Deutschen in der Ukraine der Stalinzeit nach.
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Die Geschichte der Deutschen Magda Homann und des Ukrainers Alex (Oleksa) hat sich tatsachlich ereignet, in und zwischen zwei Weltkriegen. Magda ist das jüngste von sechs Kindern aus einem Dorf an der Luhe in Niedersachsen. Sie lernt den ukrainischen Kriegsgefangenen Alex im Jahr 1916 auf einem Bauernhof kennen. Er stammt aus einem Dorf in Podolien. Sie ist 21, er 22. Sie lieben sich – eine „diamantene Zeit“. Alex bringt Magda in sein Heimatdorf, ohne jeden Ausweis. Sie ist von ihm schwanger und kann die dadurch entstandene „Hölle“ zu Hause nicht mehr ertragen. Im Juni 1921 bringt Magda ihre beiden Söhne Peter und Paul zur Welt. Damit setzt sich eine unglaubliche Geschichte fort. Zwei Nachfahren, Serhij Say-Bodnar und Peter Homann, haben sie 2014 in Kiew in einem zweisprachigen Büchlein veröffentlicht.
Die Deutsche, Magda, die nun „Marfa“ heißt, kann kein Wort Ukrainisch. Sie ist völlig isoliert. Die unerwartet eintretende extreme Armut auf dem Land trifft die Familie. Verzweifelt denkt sie an Selbstmord. Doch Magda geht nicht ins Wasser. Vielmehr kümmert sie sich um ihre Kinder und um ihre kleine Landwirtschaft. Wachsende Sorge und Schwäche lassen sie vorzeitig altern. Da erkrankt ihr Mann Alex schwer. Sie pflegt ihn neben der harten Arbeit auf dem Hof. Gegen Ende 1927 schreibt sie in ihrer Verzweiflung erstmals nach Hause an ihren sieben Jahre älteren Bruder: „Jetzt naht wieder das Weihnachtsfest, 13 Tage später wie Euer, für mich immer ein Trauerfest, ohne jegliche Verwandten und Bekannten.“
Magda schreibt, wie sehr sie und Alex sich als Kleinbauern gegen die Kollektivierung Stalins wehren. Dies sei für sie so etwas wie die „einstmalige Leibeigenschaft“. Als gläubige Protestantin wehrt sich Magda dagegen, dass es für sie und ihre Söhne unter den Bolschewiken keinen Gott mehr geben darf. Sie hoffe sehnlichst auf den baldigen „Untergang für diese Menschenfresser“. Magda und Alex kämpfen um ihre einzige Kuh, ihre Hühner. Ihre Weizenernte müssen sie zu 95 % dem Kollektiv abliefern. Im Brief vom 4. April 1931 hält sie ihrem Bruder Gustav vor, dass er ihnen nicht hilft. Sie wüssten wohl dort nicht, „wie einem Armen zu mute“ sei.
Sie ahnt nicht, dass sowjetischerseits Kontakte in den Westen eingeschränkt werden, Briefe oft nicht ankommen. Doch sieht sie sich selbst als schuldig an ihrem Los und wünscht das Ende ihres Lebens herbei. Erneut bittet sie den Bruder um Dokumente, um Hilfe. Sie hofft so sehr auf eine Rückkehr in die Heimat.
Im Jahr 1933 lässt Stalin die Menschen in der Ukraine systematisch verhungern. Diese Hungerkatastrophe geht als „holodomor“ als eine der größten in die europäische Geschichte ein. Die Deutsche Magda ist eines ihrer Opfer. Stalins Schergen überfallen auch Kleinbauern, sperren sie in die Keller, setzen ihnen Holzeimer auf die Köpfe und trommeln mit Stöcken darauf. Magda und der geschwächte Alex wehren sich gegen diesen Terror. Die Sowjets nehmen ihnen alles weg. Die Familie wird bettelarm. Wieder schreibt Magda am 18. Januar 1933 an ihren Bruder: „[U]ns wäre ja mit wenig geholfen.“ Doch die Kleinbauern, die als Kulaken und Ausbeuter verfolgt werden, verhungern. Magda rechnet mit einem „Märtyrertod“. Ihre größte tägliche Sorge aber gilt Alex. Seit eineinhalb Jahren – so ihr Brief an den Bruder – bestehe „wenig Hoffnung: Er ist nur noch Haut und Knochen, so bin ich wohl sehr bald eine Witwe, im fremden Lande und noch bei dieser schweren Zeit.“
In den Briefen an Bruder Gustav hofft sie immer noch auf dessen Unterstützung. Ohne ihn aber sieht sie sich „hilflos verloren“. Die Hungersnot entkräftet sie völlig. Sie kümmert sich um ihre kleinen Söhne, den Ehemann und besorgt die Landwirtschaft. Man achtet sie sehr im Dorf. Da sie aber kaum Ukrainisch sprechen kann, bleibt sie isoliert. Auf den Straßen liegen immer mehr von Hunger aufgedunsene Tote. Am 1. März 1934 stirbt Alex. Nun ist sie allein mit den Kindern. Sie magert ab „bis zur Unkenntlichkeit“. Ein Foto aber haben wir nicht von ihr, nur Texte. Wir wissen nicht, wie Magda ausgesehen hat. Magda ist verzweifelt. Ohne Alex kann sie sich im Dorf überhaupt nicht mehr verständigen. So schreibt sie am 14. Marz 1934 erneut an den Bruder: „Ich weiß nicht, wohin ich mich rühren soll, in dieser so schweren Zeit, wie gerne möchte ich denn nach Deutschland zurück, doch dieses ist denn wohl jetzt unmöglich.“ Beide Söhne arbeiten mittlerweile im Kolchos, doch nicht lange. Im Herbst 1939, 20 Jahre nachdem Magda Alex kennengelernt hat, wendet sich das Blatt. Auf einem Pferdewagen muss sie ihre beiden Söhne selbst dorthin bringen, wo sie künftig gegen die Deutschen, ihre Landsleute, ihre Heimat, in den Krieg ziehen werden. Das kann sie kaum ertragen. Ihre letzten gemeinsamen Stunden verbringt sie mit den Söhnen auf dem Pferdewagen. Sie weiß aber nicht, dass es die letzten sind.
Auf der anderen Seite der künftigen Front – auch das weiß Magda nicht – wird ihr Bruder kämpfen, auch gegen ihre Söhne. Im Juli 1941 erobern die deutschen Truppen Podolien, gegen jene sowjetischen Truppen, in denen ihre Söhne kämpfen. Magda droht als Deutsche die Umsiedlung nach Sibirien. Doch die Verwandten von Alex verstecken sie. Sie schreibt nach Hause an Gustav: „Mein Leben ist unerträglich, ich bin einsam wie eine Blume auf dem Felde, einsam und verlassen, mit der Zeit, wenn es angeht, komme ich zurück nach Deutschland.“ Doch Gustav ist bereits wenige Kilometer von ihr entfernt stationiert. Im Sommer 1942 sucht er seine Schwester auf und trifft sie nach mehr als 20 Jahren wieder. Sie begegnen sich zweimal. Gustav will Magda zu der von ihr ersehnten Rückkehr nach Deutschland überreden. Doch jetzt ist es Magda, die ablehnt: „In dieser Erde ist mein geliebter Alex beerdigt, von hier aus sind zum Krieg meine Söhne gegangen und ich habe von ihnen keine Nachrichten bekommen, deswegen kann ich ohne sie nicht wegfahren.“
Ihre Söhne Peter und Paul geraten in deutsche Gefangenschaft, ohne dass sie das erfährt, ihre deutschen Verwandten geraten in sowjetische Gefangenschaft. Im März 1944 sind die Deutschen abgezogen und die sowjetische Armee kehrt in Magdas Dorf zurück. Sie nimmt die „Hitlerschlange“ Magda sogleich gefangen. Sie wird nicht mehr in ihr Dorf zurückkommen. Ihr Sohn Peter verfehlt die Mutter nur um wenige Tage. Längst plagt die Söhne die Sehnsucht nach der Mutter, nach ihrer einzigartigen „Mamalyga“, einem Maisbrei mit Pflaumenmus, den sie wie keine andere zubereitete. Selbst den Söhnen verwehrt man im Gefängnis den Kontakt mit der Mutter. Magda ist völlig entkräftet und unheilbar krank. Nach kurzer Zeit im Lager stirbt sie. Die Söhne hat sie nicht wiedergesehen.
Im Jahr 2014 rekonstruieren in der Ukraine zwei späte Nachfahren dieses Leben, das zwischen die Mühlsteine zweier Kriege und zweier Länder geraten ist. In den Archiven findet sich nichts zu Magda. Wir wissen nicht, wie sie aussah. Dank dieses Buchs aber kennen wir ihre unglaubliche Geschichte. Wir wissen jetzt zum Glück, dass es sie gab und wer sie war ...