„Tagein, tagaus“. Ein Text zum Ukrainekrieg von Tania Rupel Tera
Tania Rupel Tera (* 1969 in Blagoevgrad) studierte bulgarische Philologie und Journalistik in Sofia und lebt als Malerin und Schriftstellerin seit 2005 in München. Seit 2013 ist sie Mitglied im Freien Deutschen Autorenverband Bayern und in der Autoren Galerie 1, seit 2017 zudem Mitglied der Kulturplattform „jourfixe-muenchen e.V.“. Zuletzt erschienen von Tania Rupel Tera der Lyrik- und Bildband Der Schrei der Tropfen (2016), die Erzählungen und Impressionen Plötzlich Hunde (2018) sowie die Lyrik- und Jazz Audio-CD Wundebar (2019). 2020 errang die Künstlerin den 1. Platz beim Landschreiber-Wettbewerb „Sprache und Flucht“ in der Sparte Lyrik sowie den Europeans in art-Award beim Münchner Europa-Mai 2020 in der Kategorie „Künstlerinnen und Künstler für Europa“.
*
Tag eins – Schockzustand, unfassbar; im Kopf ein grauenvolles Wort, ich traue mich nicht, es laut zu denken; zwei Brüdervölker gegeneinander; bei uns strahlt der Himmel, macht alles unvorstellbar; aber es ist wahr, in diesem sonnigen Augenblick herrscht in Europa wieder Krieg.
Tag zwei – niemand wacht aus dem Albtraum auf; es bleibt eine unendliche Trauer ... Auf einmal freue ich mich auf die Staus, denn, zum Glück, verliere ich nicht mein Zuhause. Die Ukraine geht mir nicht aus dem Kopf.
Tag drei ... Wozu die Tage zählen? Wozu die Parallelen? Und doch – fast 77 Jahre danach, im 21. Jahrhundert, unablässig marschieren Soldaten, Raketen fliegen, gezwungene Menschen fliehen ... So viel Zerstörung, so viel menschliches Leid noch am Tag drei ...
Tagein, tagaus weiter durch die Schichten der Dunkelheit. In München scheint die Sonne unbeirrt, man kann von Weitem erkennen: Ja, die Wahrheit ist auch jetzt das erste Opfer des Krieges ... Wie einen kühlen Kopf bewahren? Wie helfen? Wie konnte die Welt es nicht merken?
Tag vier – die Welt inspiriert; wie viel Tapferkeit! Ich, Du, wir, die ganze Welt ist Majdan. Dann ist ein Teil wieder zu langsam, zu langsam ... Wieder mal ist es ausweglos, die Welt eingekesselt zwischen ihren versteinerten Regeln. Ich flicke meine dünne, alte Hoffnung, zerfranst, zerfallen die Gedanken ... Irgendwie geht's doch nur um Geld und Banken. Die Angst wächst – behält immer der Stärkere das Recht? Ach, ich bin längst kein Kind mehr, ich weiß, c'est la vie ... Es ist dunkel, es wird dunkler; die Welt – ein Bunker, und ihre Kinder erblicken so das Licht ... Es ist zum Heulen. Bei uns in der Praxis sagt eine Schwangere plötzlich: Nichts ist selbstverständlich, aber ich fühle es zum ersten Mal so deutlich, ich und mein Baby haben Glück! ... Ja, nichts ist selbstverständlich, Tag für Tag so viel Mut, so viel Blut, unzählige Kämpfe für Heimat, Rechte, Selbstbestimmung. Jahr für Jahr verliert die Zeit doch irgendwo in namenlosen Gassen, auf verwüsteten Plätzen und Barrikaden ihre helle Zukunft.
Tag fünf, sechs, acht ... Ach, in einem kleineren Land, in einem größeren ebenso, gehen Menschen auf die Straßen, bewaffnet allein mit ihrem verzweifelten Mut, kämpfen für Frieden, für die verletzten Ideale, für uns alle ... Und ich breche vor Traurigkeit und Wut ein. Ich bete: Hoffentlich ist die Diplomatie geschmeidiger, klüger. Mein Hirn kocht. Wie erträgt man solch zynische Lügen, mein Gott? Die Nachrichten, die Bilder zermürben uns weiter; mein – unsere Herzen zersprengt. Was sagt die Geschichte, die Philosophie? Existiert tatsächlich die absolute oder überhaupt irgendeine Wahrheit? Tja, absolut ist nur das Absurde. Fakten dehnen, verbiegen, verrenken sich so unwirklich, die Sprache errötet, beugt sich und bedient gut den angreifenden Redner. Sie ist jetzt und war stets Pistole auf der Brust kopfloser Menschenwesen. Was erstreckt sich dort so – bis zur Unendlichkeit? Vielleicht die Fata Morgana unseres Glaubens?
Meine Worte aus dem Sinn, nackt, verloren, mir schmerzen die Ohren nur beim Zuhören, das Gewissen knackt. Wird es nun ein historischer Fakt? Bekommt wieder mal das Unrecht recht? Findet sich denn nie ein anderer Weg?
Die Jugend von heute? Wie oft bekommt dieser Satz einen besonderen Ton? Aber doch, die Jugend – unsere wahre Hoffnung! Junge Menschen in der Ukraine machen Tarnnetze jetzt, sind Widerstandskämpfer geworden – gegen diesen schrecklichen Angriffskrieg. Physiologisch – unmöglich, dennoch: Es gibt unerklärliche Dinge auf dieser Welt und jeder, jeder Diktator sollte es wissen – sogar zerbombt schlagen die Herzen weiter für die Freiheit! So viel Pathos muss erlaubt sein, sonst kracht alles zusammen, geht den Bach runter, und es klafft eine nie heilende Wunde ...
Alle fragen sich noch: Was hat der Mann nur im Kopf? Jetzt ist es klar – Völkermord. Wie wird ein Politiker zum Monster? Die Geschichte schweigt ... In dieser Zeit sterben so viele, und wir lernen und lernen nicht dazu. Warum ist so unsere Natur? Wann kommen wir zur Ruhe? Irgendwann, sage ich mir, irgendwann wird die Menschheit so weit sein ... Nur die Hoffnung nicht töten und die Freiheit! Vielleicht mit dem Frühling? Der grausamste Monat kommt bald, wir werden es wieder erleben – aus der Erde, aus ihren ausgenommenen Eingeweiden wird sich wieder der Flieder zeigen. Nach süßem Vergessen wird es duften, nach langen Küssen und Sehnsüchten; kleine Füße werden ihre ersten Schritte machen; in unseren jungen, zerrissenen Herzen nistet sich leise die Freude ein. Wir werden uns in den Park setzen, ein paar Minuten die Welt bewundern, und unsere Schatten danebenwerfen wie alte Mäntel. Und doch irgendwo weit weg oder ganz nah werden sich wieder Menschen bekämpfen ...
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Tania Rupel Tera (* 1969 in Blagoevgrad) studierte bulgarische Philologie und Journalistik in Sofia und lebt als Malerin und Schriftstellerin seit 2005 in München. Seit 2013 ist sie Mitglied im Freien Deutschen Autorenverband Bayern und in der Autoren Galerie 1, seit 2017 zudem Mitglied der Kulturplattform „jourfixe-muenchen e.V.“. Zuletzt erschienen von Tania Rupel Tera der Lyrik- und Bildband Der Schrei der Tropfen (2016), die Erzählungen und Impressionen Plötzlich Hunde (2018) sowie die Lyrik- und Jazz Audio-CD Wundebar (2019). 2020 errang die Künstlerin den 1. Platz beim Landschreiber-Wettbewerb „Sprache und Flucht“ in der Sparte Lyrik sowie den Europeans in art-Award beim Münchner Europa-Mai 2020 in der Kategorie „Künstlerinnen und Künstler für Europa“.
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Tag eins – Schockzustand, unfassbar; im Kopf ein grauenvolles Wort, ich traue mich nicht, es laut zu denken; zwei Brüdervölker gegeneinander; bei uns strahlt der Himmel, macht alles unvorstellbar; aber es ist wahr, in diesem sonnigen Augenblick herrscht in Europa wieder Krieg.
Tag zwei – niemand wacht aus dem Albtraum auf; es bleibt eine unendliche Trauer ... Auf einmal freue ich mich auf die Staus, denn, zum Glück, verliere ich nicht mein Zuhause. Die Ukraine geht mir nicht aus dem Kopf.
Tag drei ... Wozu die Tage zählen? Wozu die Parallelen? Und doch – fast 77 Jahre danach, im 21. Jahrhundert, unablässig marschieren Soldaten, Raketen fliegen, gezwungene Menschen fliehen ... So viel Zerstörung, so viel menschliches Leid noch am Tag drei ...
Tagein, tagaus weiter durch die Schichten der Dunkelheit. In München scheint die Sonne unbeirrt, man kann von Weitem erkennen: Ja, die Wahrheit ist auch jetzt das erste Opfer des Krieges ... Wie einen kühlen Kopf bewahren? Wie helfen? Wie konnte die Welt es nicht merken?
Tag vier – die Welt inspiriert; wie viel Tapferkeit! Ich, Du, wir, die ganze Welt ist Majdan. Dann ist ein Teil wieder zu langsam, zu langsam ... Wieder mal ist es ausweglos, die Welt eingekesselt zwischen ihren versteinerten Regeln. Ich flicke meine dünne, alte Hoffnung, zerfranst, zerfallen die Gedanken ... Irgendwie geht's doch nur um Geld und Banken. Die Angst wächst – behält immer der Stärkere das Recht? Ach, ich bin längst kein Kind mehr, ich weiß, c'est la vie ... Es ist dunkel, es wird dunkler; die Welt – ein Bunker, und ihre Kinder erblicken so das Licht ... Es ist zum Heulen. Bei uns in der Praxis sagt eine Schwangere plötzlich: Nichts ist selbstverständlich, aber ich fühle es zum ersten Mal so deutlich, ich und mein Baby haben Glück! ... Ja, nichts ist selbstverständlich, Tag für Tag so viel Mut, so viel Blut, unzählige Kämpfe für Heimat, Rechte, Selbstbestimmung. Jahr für Jahr verliert die Zeit doch irgendwo in namenlosen Gassen, auf verwüsteten Plätzen und Barrikaden ihre helle Zukunft.
Tag fünf, sechs, acht ... Ach, in einem kleineren Land, in einem größeren ebenso, gehen Menschen auf die Straßen, bewaffnet allein mit ihrem verzweifelten Mut, kämpfen für Frieden, für die verletzten Ideale, für uns alle ... Und ich breche vor Traurigkeit und Wut ein. Ich bete: Hoffentlich ist die Diplomatie geschmeidiger, klüger. Mein Hirn kocht. Wie erträgt man solch zynische Lügen, mein Gott? Die Nachrichten, die Bilder zermürben uns weiter; mein – unsere Herzen zersprengt. Was sagt die Geschichte, die Philosophie? Existiert tatsächlich die absolute oder überhaupt irgendeine Wahrheit? Tja, absolut ist nur das Absurde. Fakten dehnen, verbiegen, verrenken sich so unwirklich, die Sprache errötet, beugt sich und bedient gut den angreifenden Redner. Sie ist jetzt und war stets Pistole auf der Brust kopfloser Menschenwesen. Was erstreckt sich dort so – bis zur Unendlichkeit? Vielleicht die Fata Morgana unseres Glaubens?
Meine Worte aus dem Sinn, nackt, verloren, mir schmerzen die Ohren nur beim Zuhören, das Gewissen knackt. Wird es nun ein historischer Fakt? Bekommt wieder mal das Unrecht recht? Findet sich denn nie ein anderer Weg?
Die Jugend von heute? Wie oft bekommt dieser Satz einen besonderen Ton? Aber doch, die Jugend – unsere wahre Hoffnung! Junge Menschen in der Ukraine machen Tarnnetze jetzt, sind Widerstandskämpfer geworden – gegen diesen schrecklichen Angriffskrieg. Physiologisch – unmöglich, dennoch: Es gibt unerklärliche Dinge auf dieser Welt und jeder, jeder Diktator sollte es wissen – sogar zerbombt schlagen die Herzen weiter für die Freiheit! So viel Pathos muss erlaubt sein, sonst kracht alles zusammen, geht den Bach runter, und es klafft eine nie heilende Wunde ...
Alle fragen sich noch: Was hat der Mann nur im Kopf? Jetzt ist es klar – Völkermord. Wie wird ein Politiker zum Monster? Die Geschichte schweigt ... In dieser Zeit sterben so viele, und wir lernen und lernen nicht dazu. Warum ist so unsere Natur? Wann kommen wir zur Ruhe? Irgendwann, sage ich mir, irgendwann wird die Menschheit so weit sein ... Nur die Hoffnung nicht töten und die Freiheit! Vielleicht mit dem Frühling? Der grausamste Monat kommt bald, wir werden es wieder erleben – aus der Erde, aus ihren ausgenommenen Eingeweiden wird sich wieder der Flieder zeigen. Nach süßem Vergessen wird es duften, nach langen Küssen und Sehnsüchten; kleine Füße werden ihre ersten Schritte machen; in unseren jungen, zerrissenen Herzen nistet sich leise die Freude ein. Wir werden uns in den Park setzen, ein paar Minuten die Welt bewundern, und unsere Schatten danebenwerfen wie alte Mäntel. Und doch irgendwo weit weg oder ganz nah werden sich wieder Menschen bekämpfen ...