Namen im Literaturbetrieb (3). Von Alexander Estis
Wir reden oft über Kategorien wie Geschlecht, Alter, Bildungshintergrund, die Strukturen und Aufstiegschancen im Literaturbetrieb prägen. Über eines reden wir so gut wie nie ‒ über Namen. Welche Erfahrungen machen Autor*innen mit nicht-eindeutigen, nicht-deutschen Namen tagtäglich bei Bewerbungen, Ankündigungen, Lesungen, welche Strategien entwickeln sie dagegen? In dem folgenden Projekt geben sechs Autor*innen einen Einblick in widersprüchliche, komische wie unerträgliche Alltagserlebnisse. Dritte Folge: ein Text von Alexander Estis.
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Mein Name sei Essig
Liebe Leserinnen und Leser! Ich möchte mit Ihnen über Missverständnisse sprechen.
Ganz ohne falsche Bescheidenheit: Wer wäre für diese Aufgabe besser geeignet als ich, dessen Name in elf von zehn Fällen unverstanden bleibt? Vom Estrich über den Esstisch bis hin zum Essig durchlebt er in nur einer Woche alle vorstellbaren Metamorphosen. Er brachte es einst sogar zu einem Unwort, wie es nicht nur Sigmund Freud, sondern selbst einen Seins- und Sprachverhunzer vom Rang Heideggers beschämt hätte: dem Esist. Noch schönere Verstrickungen freilich entstehen, wenn die beiden Teile dieses Wortes getrennt bleiben: „Estis hier“, melde ich mich am Hörer – und man fragt verängstigt: „Es ist hier? Was ist hier?“
Das Schlimmste an diesen Missverständnissen: Ich kann sie niemandem vorwerfen. Der Name ist nicht geläufig; er ist jüdisch und vermutlich vom Namen der berühmten alttestamentarischen Königin abgeleitet. Mit diesem adlig-edlen biblischen Ursprung konnte ich jedoch noch nie glänzen. Auftrumpfen durfte ich mit meinem Namen überhaupt nur in einer einzigen und sehr kurzen Phase meines Lebens, nämlich als ich Lateinlehrer war. Wer mich nicht richtig aussprechen oder ausschreiben konnte, musste esse an der Tafel konjugieren, während ich triumphierend erklärte: ESTIS SUM, VOS AUTEM NON ESTIS.
Für die meisten klingt Estis allerdings weniger römisch; stattdessen erklärt man mich etwa bei Lesungen regelmäßig für einen estnischen Autor, offenbar weil Eesti Estland bedeutet. Gleichwohl erschließt sich mir diese Logik nicht ganz, denn ich kenne nur wenige Menschen mit Namen wie Merle Deutschland, Guram Georgien oder John Usa. Die Autokorrektur wiederum korrigiert mich zu Alexander Isis – eine späte Rache der ägyptischen Götter dafür, dass wir ihnen vor ein paar Jahrhunderten davongelaufen sind.
Immerhin wurde ich noch nie mit dem Eidgenössischen Starkstrominspektorat in Verbindung gebracht, das von seinen Freunden und Verwandten liebevoll ESTI genannt wird. Doch selbst dieser höchst erquickliche Umstand tröstet nur vorübergehend – denn alsbald geschieht es wieder. Als ich eines Tages mein neues Büro beziehe und an dessen Eingang das Schild „Herr Ernstis“ erblicke, denke ich mir: In der Tat, die Lage ist ernst. Aber noch gibt es Rettung, es gibt ja das Buchstabieralphabet. Ich eile ins Sekretariat und will mir ein neues Schild ausstellen lassen. Die Mitarbeiterin fragt erwartungsgemäß nach meinem Namen, und ich buchstabiere munter drauflos: „Emil Samuel Theodor Ida…“ „Nein“, unterbricht sie ungeduldig, „nur den Nachnamen, bitte!“
Wäre ich mit einem Allerweltsnamen gesegnet, ich hätte nicht so viel über Missverständnisse lernen können. Bleibt nur die Frage, wie ich diese Lektion des Lebens richtig missverstehen soll.
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Fühlen Sie sich angesprochen und möchten zum Projekt beitragen? Dann senden Sie Ihren Text (zw. 4.000 und 7.000 Zeichen, inkl. Leerzeichen) an Slata Roschal:
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Wir reden oft über Kategorien wie Geschlecht, Alter, Bildungshintergrund, die Strukturen und Aufstiegschancen im Literaturbetrieb prägen. Über eines reden wir so gut wie nie ‒ über Namen. Welche Erfahrungen machen Autor*innen mit nicht-eindeutigen, nicht-deutschen Namen tagtäglich bei Bewerbungen, Ankündigungen, Lesungen, welche Strategien entwickeln sie dagegen? In dem folgenden Projekt geben sechs Autor*innen einen Einblick in widersprüchliche, komische wie unerträgliche Alltagserlebnisse. Dritte Folge: ein Text von Alexander Estis.
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Mein Name sei Essig
Liebe Leserinnen und Leser! Ich möchte mit Ihnen über Missverständnisse sprechen.
Ganz ohne falsche Bescheidenheit: Wer wäre für diese Aufgabe besser geeignet als ich, dessen Name in elf von zehn Fällen unverstanden bleibt? Vom Estrich über den Esstisch bis hin zum Essig durchlebt er in nur einer Woche alle vorstellbaren Metamorphosen. Er brachte es einst sogar zu einem Unwort, wie es nicht nur Sigmund Freud, sondern selbst einen Seins- und Sprachverhunzer vom Rang Heideggers beschämt hätte: dem Esist. Noch schönere Verstrickungen freilich entstehen, wenn die beiden Teile dieses Wortes getrennt bleiben: „Estis hier“, melde ich mich am Hörer – und man fragt verängstigt: „Es ist hier? Was ist hier?“
Das Schlimmste an diesen Missverständnissen: Ich kann sie niemandem vorwerfen. Der Name ist nicht geläufig; er ist jüdisch und vermutlich vom Namen der berühmten alttestamentarischen Königin abgeleitet. Mit diesem adlig-edlen biblischen Ursprung konnte ich jedoch noch nie glänzen. Auftrumpfen durfte ich mit meinem Namen überhaupt nur in einer einzigen und sehr kurzen Phase meines Lebens, nämlich als ich Lateinlehrer war. Wer mich nicht richtig aussprechen oder ausschreiben konnte, musste esse an der Tafel konjugieren, während ich triumphierend erklärte: ESTIS SUM, VOS AUTEM NON ESTIS.
Für die meisten klingt Estis allerdings weniger römisch; stattdessen erklärt man mich etwa bei Lesungen regelmäßig für einen estnischen Autor, offenbar weil Eesti Estland bedeutet. Gleichwohl erschließt sich mir diese Logik nicht ganz, denn ich kenne nur wenige Menschen mit Namen wie Merle Deutschland, Guram Georgien oder John Usa. Die Autokorrektur wiederum korrigiert mich zu Alexander Isis – eine späte Rache der ägyptischen Götter dafür, dass wir ihnen vor ein paar Jahrhunderten davongelaufen sind.
Immerhin wurde ich noch nie mit dem Eidgenössischen Starkstrominspektorat in Verbindung gebracht, das von seinen Freunden und Verwandten liebevoll ESTI genannt wird. Doch selbst dieser höchst erquickliche Umstand tröstet nur vorübergehend – denn alsbald geschieht es wieder. Als ich eines Tages mein neues Büro beziehe und an dessen Eingang das Schild „Herr Ernstis“ erblicke, denke ich mir: In der Tat, die Lage ist ernst. Aber noch gibt es Rettung, es gibt ja das Buchstabieralphabet. Ich eile ins Sekretariat und will mir ein neues Schild ausstellen lassen. Die Mitarbeiterin fragt erwartungsgemäß nach meinem Namen, und ich buchstabiere munter drauflos: „Emil Samuel Theodor Ida…“ „Nein“, unterbricht sie ungeduldig, „nur den Nachnamen, bitte!“
Wäre ich mit einem Allerweltsnamen gesegnet, ich hätte nicht so viel über Missverständnisse lernen können. Bleibt nur die Frage, wie ich diese Lektion des Lebens richtig missverstehen soll.
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