Lola Montez (1821-1861). Zum 200. Geburtstag einer starken Frau

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Lola Montez, George Grantham Bain Collection, 1900 (Library of Congress)

Viele Männer hatten wegen ihr den Kopf verloren, ein König gar seinen Thron. Letztes Jahr, am 17. Februar 1821, hätte Lola Montez ihren 200. Geburtstag gefeiert. Sowohl als Leserin als auch als Tänzerin war sie jedoch nicht die sexbesessene Sirene, Melusine, Hexe oder sonstige Monstrosität, als die man sie mitunter gerne hinstellte, sondern eine kluge Frau, die sich zumindest bildete, wo sie es für nötig hielt. So gilt auch für sie das Motto, das seit Jahren eine Kalenderreihe schmückt: Frauen, die lesen, sind gefährlich. Ein Beitrag von Friedrich Ulf Röhrer-Ertl.

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Schaut man auf die Erinnerungen und Tagebücher, die sich aus dem München in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erhalten haben, so kann man nicht anders als zu denken: München, der Hofstaat, der Staat, die Beamten, das war eine Welt böser alter (und manchmal junger) Männer. Durchaus verständlich, im Umkreis eines Königs hieß es zu allen Zeiten, sich verstellen zu können, gefallen zu können und trotzdem „mal keinen Schei* zu machen“, das waren Kernkompetenzen; und so mancher kompensierte diese dann heimlich im Privaten mit möglichst bösen Ansichten zu Gott, König und Welt. Die Eleganz der Karikaturen des Grafen Franz von Pocci erreichte dabei kaum einer, dafür können wir, als die Nachgeborenen, uns umso mehr an den persönlichen Texten der Zeit ergötzen. Der bayerische Reichsarchivar Karl Heinrich Ritter von Lang machte den Anfang, seine Memoiren (1841/1842) galten beim Erscheinen als erfunden, so böswillig (und doch wahr) kommen sie daher; im 20. Jahrhundert haben sich ihnen im Druck etwa die Memorabilien des Architekten Leo von Klenze und Johann Andreas Schmellers hinzugesellt. Schmeller, der Schöpfer des Bayerischen Wörterbuchs, war dabei auch im Alltag wahrlich in guter Gesellschaft, geisterten damals im Berufsumfeld der Königlichen Bibliothek, der heutigen Staatsbibliothek, doch allerlei skurrile Gestalten herum.

Fast das einzige treuherzig-unschuldige Tagebuchwerk, könnte man sagen, ist das von König Ludwig I. selbst. Ursprünglich in eigens angefertigten Schränkchen aufbewahrt, sind die vielen Bändchen dank einer Vereinbarung aus den 1980er-Jahren der vielleicht unzugänglichste Schatz der Bayerischen Staatsbibliothek. Aber was wir an Ausschnitten der Literatur entnehmen können, zeigt: Hier schreibt ein innerlich linkischer, nach außen umso blümerant auftretender Herrscher, der sich jede noch so aberwitzige Pirouette seiner Gedanken und Gelüste im Tagebuch schönschreiben konnte. Heinrich Heine spottete bitter über den Musenkönig Ludwig und seine Dichtkünste, dieser brachte es immerhin auf einige Bände seiner Poesie und begründete, erweiterte und erbaute daneben so ziemlich vieles von alledem, was München bis heute als Kulturmetropole ausmacht.

Nicht zuletzt sorgte Ludwig I. durch seine spektakuläre Abdankung 1848 dafür, dass Bayern von San Francisco bis Buenos Aires und Petersburg in aller Munde war: Eine Frau, eine Tänzerin, Lola Montez hatte erst mit dem König eine Affäre und dann ihn zu Fall gebracht. Dass die Herzen der (männlichen) Kommentatoren dabei Lola die Schuld an allem mit Freuden zuschoben, versteht sich von selbst. Das Leben von „Luis“ und „Lolitta“ (1846-1849) als Story von Intrigen, Sex und Politik – es bräuchte nur HBO und einen talentierten Schreiberstab, und Serien wie „The Crown“ und „Downtown Abbey“ könnten einpacken. 

Zum Glück hat die Forschung das Bild der Montez als talentlose, allein auf ihre körperlichen Reize und Intrigen bauende, sozusagen „männermordende“ Mamsell gründlich revidiert, von Bruce Seymour bis zu Marita Krauss, die 2020 die vielleicht beste Biographie zu Lola vorgelegt hat. Man kann so heute sowohl die Kunstfigur Lola Montez als auch ihre echte Form als Frau Elizabeth Gilbert als eigenständige Aspekte derselben Person fassen, die stark, selbst-, aber auch fremdbestimmt handelte, handeln musste, und beileibe nicht die Karikatur war, als die man sie damals in Bayern und der Welt wahrnehmen wollte.

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Ein Beispiel für diese Diskrepanz findet sich im Tagebuch von Johann Andreas Schmeller. Schmeller, ein Tausendsassa, der in seinem Leben beispielsweise Pädagoge, Soldat und Forscher gewesen war, war seit 1829 Kustos an der königlichen Bibliothek und dort für die Handschriften zuständig. Man muss sich die Bayerische Staatsbibliothek damals (das heutige Gebäude von Friedrich von Gärtner wurde erst 1843 bezogen) als ein Sammelsurium und Bücherlabyrinth erster Güte vorstellen, das mehr schlecht als recht in den Gebäuden des ehemaligen Jesuitenkollegs (René Benko baut es gerade zur x-ten Luxus-Shopping-Location um) und der Herzog-Max-Burg (wo heute die Murksburg steht, wie jeder Scheidungssuchende in München weiß) untergebracht war. Die bayerische Säkularisation hatte den Bestand der Bibliothek vervielfacht, aber: Ohne Ordnung und Verzeichnis nützen einem die schönsten Sachen nichts, denn man findet sie nicht wieder. Schmellers Alltag bestand deswegen zu einem guten Teil darin, die Jahrzehnte zuvor erworbenen Handschriften zu katalogisieren und zu schauen, was damals Vorgänger wie der Oberbibliothekar Johann Christoph von Aretin bei ihren „litterarischen Geschäftsreisen“ so alles aus den Stiften, Klöstern und Städten mitgenommen hatten. Die Raumsituation hatte sich zwar nach dem Bezug des Riesenneubaus an der Ludwigstraße erst einmal entspannt, die Ordnungslage aber noch lange nicht, so dass Schmeller und seine Kollegen emsig arbeiteten und alles taten, damit möglichst wenige Nutzer auf die Idee kamen, die Bibliothek tatsächlich nutzen zu wollen.

In dieser Situation, am 27. Mai 1847, besuchte Lola Montez die Bibliothek an der Ludwigstraße. Schmeller notiert dazu in sein Tagebuch:

Auf der Bibliothek erzählte mir [Bibliotheksdirektor Philipp von] Lichtenthaler, wie ihm schon morgens der König begegnet sey ganz heuter gestimmt, sagend wie bald ein 4ter Band seiner Gedichte und eine illustrirte Ausgabe der Walhallagenossen erscheinen werde, und daß er wünsche, daß überall solche Ordnung herrschen möchte wie auf der Bibliothek.
Nach 1 Uhr öffnet Schupp diensteifrig die beiden Thüren meines Zimmers hastig eilen zwei Damen durch, Lichtenthaler ihnen nach und wiederhinaus in die Richtung des Cimeliensaals. Es ist die Lola, sagt Schupp, der zurückkommt, in Eile das Fremdenbuch zu holen. Nach einer Weile kommen die Damen und hinterher der Director abermals durch mein Zimmer. Lola, immer wie Wichtiges hastig parlierend, reißt ein bei mir stehendes auffallend gebundenes Buch (Wright’s Poems of Walther Mapes) auf – und sofort, ohne nur mich anzusehen weiter nach Lichtenthalers Zimmern. Endlich abermals zurück in den Saal der französischen Belles-lettres. Vous voudrez des Romans sagte Lichtenthaler. Ich hörte nicht mehr, was sie mit gellender Stimme erwiederte. Sie muß von da nach dem Flügel geführt worden seyn, wo unter Anderm Krenners Erotica unter Lichtenthaler’s besonderm Verschlusse stehen. Wo sollte sie sich sonst so lange aufgehalten haben, da ich sie erst um 2 Uhr, als ich selber gieng, mit ihrer Begleiterin die Bibliothek verlassen sah? Hätte den Morgen der König auch diesfalls eine Weisung gegeben, wie er schon früher eigenhändig befohlen hat, der „Señora Montez“ von Seite der Bibliothek alles verabfolgen zu lassen, was sie verlangen würde?

Schmeller, der während der Napoleonischen Kriege in Spanien gekämpft hatte, konnte als Sprachforscher und Polyglott sicher besser Spanisch als Lola Montez und König Ludwig I.; dass die „Sirene Maria Dolores Lola Montes“ (Schmeller am 16. November 1846), die „Hexe“ (16. Februar 1847), die „dummdreiste Schöne“ (2. Februar 1848) keine Spanierin war, war ihm recht sicher bekannt. Die Kränkung, dass Lola Montez ohne schriftliche Erlaubnis des Königs – Frauen war wie den meisten Bürgern damals die Benutzung der Bibliothek nur in Ausnahmen erlaubt – im Gebäude aufgetaucht und ihn nicht beachtet hatte, trieft aus jeder Zeile Schmellers. Bezeichnend, dass er ihr nicht zutraut, sich wirklich für Literatur zu interessieren, so dass in seiner Phantasie neben dem offiziellen Besuchsprogramm – im Zimeliensaal der Bibliothek wurden einige der wertvollsten Handschriften und Bücher permanent gezeigt, aus heutiger Sicht ein konservatorischer Albtraum – vor allem die Sammlung Krenner herhalten muss. Diese war tatsächlich noch bis weit in das 20. Jahrhundert hinein so etwas wie die peinliche kleine Schmuddelheftsammlung der Bibliothek, die abwechselnd versteckt, verleugnet oder weggesperrt wurde. Denn Franz von Krenner (1762-1819) war nicht nur ein wichtiger Staatsbeamter und einer der Entdecker des Starnberger Sees als Refugium der Reichen und Schönen Münchens, sondern auch ein unverbesserlicher Sammler von erotischer Literatur. Als er starb, griff ein weiterer Freund solcher Literatur – König Max I. – nur zu gerne zu und kaufte die fast 3.000 Bände umfassende Sammlung an. Die Bände mit den meisten Abbildungen behielt er zunächst, der Rest wanderte in die Bibliothek, die wohl nur zu gerne abgelehnt hätte. Hier sieht also Schmeller „seine“ Lola Montez wühlen und lesen und sicher nicht in der von Thomas Wright herausgegebenen Edition des Gedichts von Walter Map, der im 12. Jahrhundert lebte.

Freilich, Schmeller könnte hier ein Fehler unterlaufen sein, die Ausgabe, auf die er anspielt, erschien erst 1850. Ob das Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek einst besonders eingebunden war, kann man nicht mehr sagen, heutzutage präsentiert sich der Band in einem schlichten Pappeinband. Oder vielleicht war es eine weitere Bösartigkeit? Der gut vernetzte und umfassend gebildete Schmeller wusste möglicherweise schon 1847, dass eine Drucklegung des Werks von Map geplant war, und der Text passt hervorragend zu seinem Lola-Bild, werden dort doch Königshöfe mit der Hölle verglichen.

So geht es in Schmellers Text mehr darum, sein Bild von „Lola Montez finis Bavariae“ (28. Februar 1847) zu bestätigen und nebenbei seinen Chef Lichtenthaler und den untergeordneten Angestellten Schnupp schlecht dastehen zu lassen, als wirklich zu berichten, was er gesehen oder nicht gesehen hatte. Tatsächlich hat sich Lola damals offenbar vor allem Biographisches auf Englisch und Französisch ausgeliehen, etwa zu Petrarca, Mozart oder Lord Fitzgerald – ein Kontrast zu ihrem „Luis“, der nach den erhaltenen Briefen zur selben Zeit noch Don Quichotte von Cervantes las und (im Original in sehr unkorrektem Spanisch) am 29. Mai an seine Geliebte schreibt: „Ich habe jetzt 300 Sonette geschrieben. Ich lebe in der Phantasie [...].“ So hatte Ludwig I. seine Phantasie, und Schmeller hatte seine eigene. Lola Montez dagegen gab sich alle Mühe, als starke Frau in diesen eingebildeten männlichen Welten zu überleben und ihr eigenes Stück vom Glück herauszuschneiden. Dass es ihr gelang – noch dazu gegen den Willen von so vielen Hofbeamten – hat man ihr übelgenommen und sie durchaus benutzt, um Ludwig I. von eigenen Verfehlungen reinzuwaschen.

Aber, wie man in England sagt: „It takes two to tango.“