Zum 200. Geburtstag von Gustave Flaubert
Er war der Wegbereiter des modernen Romans: Gustave Flaubert. Am 12. Dezember ist sein 200. Geburtstag. Lektüreerfahrungen von Stefan Wirner.
*
Das Französische hat immer eine besondere Faszination auf mich ausgeübt. „Trottoir“, „Chaiselongue“, „Jalousie“, „Kanapee“, diese Wörter gehörten zum alltäglichen Sprachgebrauch meiner Großeltern, eines einfachen Arbeiterehepaars aus der Oberpfalz. Ihre Gallizismen hatten für mich etwas Magisches an sich, sie klangen fremd, exotisch und vertraut zugleich.
Später waren es die Namen französischer Schriftsteller, die mich faszinierten. Camus, Sartre, Beauvoir. Und Flaubert. Während ich die einen schon früh las, stieß ich auf die Romane Flauberts erst viel später. Es war in einem tristen, verregneten Herbst, als ich mich rauschhaft der Lektüre hingab. Ich hatte gerade Dostojewski entdeckt, las in einem Zug und hintereinander Die Dämonen, Die Brüder Karamasow und Schuld und Sühne. Albert Camus sprach einmal von der „Erschütterung“, die ihn bei der Lektüre ergriffen hatte, Dostojewski habe ihm „die Geheimnisse des menschlichen Lebens“ enthüllt. Ähnlich erging es mir. Nie zuvor hatte ich etwas von einer solchen Schwerkraft gelesen, nie zuvor war von Büchern eine derartige Sogwirkung auf mich ausgegangen.
Als ich Schuld und Sühne zuschlug, drohte ich in ein tiefes, schwarzes Loch zu fallen. Um das zu vermeiden, entschloss ich mich, einfach weiterzumachen, weiterzulesen, irgendetwas zur Hand zu nehmen, was auch nur annähernd versprach, an Dostojewski heranreichen zu können. In einem Antiquariat fiel mir schließlich Flauberts L'Éducation sentimentale (übersetzt mit „Erziehung der Herzen“ oder „Lehrjahre des Gefühls“) in die Hände. Ich glaube, dass jedes Buch seine Zeit in unserem Leben hat. Nun war sie gekommen.
So sehr mich Dostojewskis kriminalistisch-psychologischen Romane in ihren Bann gezogen hatten, nun war ich elektrisiert von Flauberts ausgefeilten, komponiert wirkenden Sätzen, von seinen nüchternen und zugleich detaillierten Beschreibungen, von dieser präzisen, beinahe kalten Sprache und von der Welt, von der sie erzählte. Aus dem bäuerlich-ärmlichen, zaristischen Russland wurde ich in das politisch aufgewühlte, permanent revolutionäre Frankreich Mitte des 19. Jahrhunderts katapultiert, in eine Welt voller Leidenschaft, Laster, Aufbruch und Umsturz – in die Moderne. Erst später wurde mir bewusst, wie nah beieinander Dostojewski und Flaubert zeitlich liegen. Dostojewski wurde am 11. November 1821 geboren, Flaubert einen Monat später am 12. Dezember 1821. Sie lebten zur selben Zeit, im gleichen Aufruhr, aber in völlig anderen Gesellschaften.
Schon auf den ersten Seiten der Éducation, dieser sich über mehrere Jahrzehnte hinweg erstreckenden Liebesgeschichte, eingebettet in die politischen Wirren der Revolution von 1848, spürte ich den Unterschied. Damals konnte ich es nicht richtig fassen, inzwischen aber wurde es mir klar: In Dostojewskis Welt lebt Gott noch, in seinen Figuren, in ihrem tragischen Ringen um Sinn in diesem absurden Dasein. Bei Flaubert aber ist er tot, es existiert nur noch der moderne Mensch, der politische Mensch, der sich selbst verantwortliche, begehrende Mensch mit all seinen Halbwahrheiten, Nöten, Kompromissen und Lügen. Flauberts Figuren fügen sich nicht mehr dem Schicksal wie einem höheren, göttlichen Gesetz, sie stellen sich ihm entgegen, gehen dabei aber zugrunde oder verkommen zu bürgerlichen Kanaillen. Flauberts Welt ist ohne Heil. Oder anders gesagt: Das Heil besteht im Schmerz, im Begehren und Scheitern, in der Erkenntnis der Verlassenheit.
Effi Briest vs. Emma Bovary
Deutlicher noch fällt der Unterschied zu einem anderen Zeitgenossen auf, nämlich zu Theodor Fontane, nur zwei Jahre früher geboren, am 30. Dezember 1819 in Neuruppin, unter wieder anderen gesellschaftlichen Bedingungen. Sein Roman Effi Briest ist bekanntlich gut mit Flauberts Madame Bovary zu vergleichen. Wenn man sie vergleicht, dann sollte man allerdings die Divergenz hervorheben. Zwar steht auch Effi Briest exemplarisch für die Rolle der Frau in der damaligen Zeit, für ihre Unterdrückung durch gesellschaftliche Konventionen, für die Einschränkung ihrer Wahlfreiheit, für ihre Bewegungs-Unfreiheit, auch hier geht es um Leidenschaft und Ehebruch. Effi Briest aber stirbt am Ende in völliger Hingabe und Erschöpfung den Tod einer Heiligen, sie bekennt, dass ihr Mann daran recht getan habe, sie zu verstoßen. Man schüttelt den Kopf bei ihren letzten Worten:
Und es liegt mir daran, dass er erfährt, wie mir hier in meinen Kindheitstagen, die doch fast meine schönsten gewesen sind, wie mir hier klargeworden, dass er in allem recht gehandelt. [...] Und dann, womit er mich am tiefsten verletzte, dass er mein eigen Kind in einer Art Abwehr gegen mich erzogen hat, so hart es mir ankommt und so weh es mir tut, er hat auch darin recht gehabt. Lass ihn das wissen, dass ich in dieser Überzeugung gestorben bin. Es wird ihn trösten, aufrichten, vielleicht versöhnen.
Eine preußische Heilige. Lässt Fontane sie deshalb so kraftlos dahinsterben, weil er letztlich nicht weiß, was er mit seiner eigenwilligen Frauenfigur anfangen soll? Ganz anders Emma Bovary. Sie kämpft bis zum Ende mit aller Kraft für die Verwirklichung ihrer Leidenschaft und die Durchsetzung ihres Willens, sie lügt und trickst und vergiftet sich schließlich, als alles schiefgeht, in einem letztmöglichen Akt der Freiheit: „Und Emma begann zu lachen, ein grässliches, wahnsinniges, verzweifeltes Lachen, denn sie glaubte das scheußliche Gesicht des Elends zu sehen, das sich in der ewigen Finsternis wie ein Schreckgespenst erhob. – An jenem Tag ein böser Wind/ Der blies ihr Röckchen hoch geschwind! – Ein Krampf warf sie auf die Matratze zurück. Alle traten näher. Sie war nicht mehr.“ Hier stirbt eine Kriegerin auf dem Schlachtfeld. Heil im Scheitern und im Schmerz.
Der Idiot der Familie
Nach Erscheinen von Madame Bovary wurde Flaubert wegen „Verherrlichung des Ehebruchs“ und „Verstoßes gegen die guten Sitten“ angeklagt, später aber freigesprochen. Neben dem Eifer der Sittenwächter war es womöglich auch sein Hang zur Negation, zur Negativität, der ihm dieses Verfahren eingebracht hatte. Jean-Paul Sartre schrieb, Flaubert verleihe seinen Figuren eine „misstönende Mehrdeutigkeit, die bis dahin im europäischen Roman noch niemals angetroffen wurde“. Es gelinge uns nicht, gegenüber seinen Geschöpfen eine bequeme Position einzunehmen, „weil der Autor sie im Unbehagen unter dem Diktat vielfacher und widersprüchlicher Begierden geschaffen hat“. Permanent erfinde er für den Leser „ein neues Unbehagen“. Kunst habe für Flaubert „nur ein Sujet, das total ist: die Schöpfung totalisieren, um ihre Eitelkeit, ihr Nichts zu zeigen.“ Flaubert selbst nennt es einmal seinen „Glauben an nichts“.
Nachzulesen ist Sartres Analyse in seinem Werk Der Idiot der Familie. Auf mehr als 3000 Seiten (in der Rowohlt-Ausgabe) versucht der Philosoph, den Schriftsteller Flaubert zu erkunden, zu vermessen, zu durchleuchten. Denn niemand anderes als Flaubert ist der Idiot, der zweitgeborene Sohn einer aufstrebenden, bürgerlichen Arztfamilie in der Normandie, der sich, wenn man Sartre richtig versteht, der Literatur zuwendet, um dem Fluch seiner Familienkonstellation zu entgehen, dem Fluch, qua Geburt nur der Zweite zu sein. Oder in Flauberts eigenen Worten: „Oh, die Familie, was für eine Landplage! Was für ein Sumpf! Was für ein Hemmschuh!“ (in einem Brief an Ernest Chevalier, zitiert nach Sartre).
Der Idiot der Familie ist eine tiefenpsychologische Studie, ein Detektivroman, ein philosophisches Mammutwerk (das trotz des Umfangs Fragment geblieben ist!) und ein lehrreiches Zeitgemälde. Es geht um das Verhältnis des aufstrebenden Bürgertums zur Aristokratie, um die Bedingungen, in jener Zeit Schriftsteller zu werden, und es geht um Gustave, Gustave, Gustave: um sein frühkindliches Phlegma, um seine späteren Neurosen, um seine Sexualität genauso wie um seine politischen und ästhetischen Ansichten. Manchmal schaudert man, wie voyeuristisch Sartres Blick dabei wird. Man wünschte Flaubert, es wäre etwas weniger über seine Kindheit, seine Jugend und sein späteres Leben bekannt.
Am Ende aber bleibt festzuhalten: Gustave hat reüssiert. Er hat seinen älteren Bruder weit übertroffen. Zwar wurde Achille ein renommierter Arzt wie sein Vater, aber er hatte etwas Tragisches an sich. Denn er operierte seinen Vater nach einem Unfall, woraufhin dieser starb. Gustave Flaubert indes, der Anti-Romantiker und misanthropische Reaktionär, der Enzyklopädist der menschlichen Dummheit, der strenge Stilist und Sezierer mit dem Federskalpell, der über alles das Wort „Mätresse“ liebte, er wird für immer in Erinnerung bleiben als einer der Schöpfer des modernen Romans. Vor 200 Jahren, am 12. Dezember 1821, schlug die Literaturgeschichte ein neues Kapitel auf. Wir lesen noch immer darin.
König, Traugott (Hg.) (1986): Jean Paul Sartre. Gesammelte Werke. Schriften zur Literatur. Der Idiot der Familie I bis IV. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg.
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Er war der Wegbereiter des modernen Romans: Gustave Flaubert. Am 12. Dezember ist sein 200. Geburtstag. Lektüreerfahrungen von Stefan Wirner.
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Das Französische hat immer eine besondere Faszination auf mich ausgeübt. „Trottoir“, „Chaiselongue“, „Jalousie“, „Kanapee“, diese Wörter gehörten zum alltäglichen Sprachgebrauch meiner Großeltern, eines einfachen Arbeiterehepaars aus der Oberpfalz. Ihre Gallizismen hatten für mich etwas Magisches an sich, sie klangen fremd, exotisch und vertraut zugleich.
Später waren es die Namen französischer Schriftsteller, die mich faszinierten. Camus, Sartre, Beauvoir. Und Flaubert. Während ich die einen schon früh las, stieß ich auf die Romane Flauberts erst viel später. Es war in einem tristen, verregneten Herbst, als ich mich rauschhaft der Lektüre hingab. Ich hatte gerade Dostojewski entdeckt, las in einem Zug und hintereinander Die Dämonen, Die Brüder Karamasow und Schuld und Sühne. Albert Camus sprach einmal von der „Erschütterung“, die ihn bei der Lektüre ergriffen hatte, Dostojewski habe ihm „die Geheimnisse des menschlichen Lebens“ enthüllt. Ähnlich erging es mir. Nie zuvor hatte ich etwas von einer solchen Schwerkraft gelesen, nie zuvor war von Büchern eine derartige Sogwirkung auf mich ausgegangen.
Als ich Schuld und Sühne zuschlug, drohte ich in ein tiefes, schwarzes Loch zu fallen. Um das zu vermeiden, entschloss ich mich, einfach weiterzumachen, weiterzulesen, irgendetwas zur Hand zu nehmen, was auch nur annähernd versprach, an Dostojewski heranreichen zu können. In einem Antiquariat fiel mir schließlich Flauberts L'Éducation sentimentale (übersetzt mit „Erziehung der Herzen“ oder „Lehrjahre des Gefühls“) in die Hände. Ich glaube, dass jedes Buch seine Zeit in unserem Leben hat. Nun war sie gekommen.
So sehr mich Dostojewskis kriminalistisch-psychologischen Romane in ihren Bann gezogen hatten, nun war ich elektrisiert von Flauberts ausgefeilten, komponiert wirkenden Sätzen, von seinen nüchternen und zugleich detaillierten Beschreibungen, von dieser präzisen, beinahe kalten Sprache und von der Welt, von der sie erzählte. Aus dem bäuerlich-ärmlichen, zaristischen Russland wurde ich in das politisch aufgewühlte, permanent revolutionäre Frankreich Mitte des 19. Jahrhunderts katapultiert, in eine Welt voller Leidenschaft, Laster, Aufbruch und Umsturz – in die Moderne. Erst später wurde mir bewusst, wie nah beieinander Dostojewski und Flaubert zeitlich liegen. Dostojewski wurde am 11. November 1821 geboren, Flaubert einen Monat später am 12. Dezember 1821. Sie lebten zur selben Zeit, im gleichen Aufruhr, aber in völlig anderen Gesellschaften.
Schon auf den ersten Seiten der Éducation, dieser sich über mehrere Jahrzehnte hinweg erstreckenden Liebesgeschichte, eingebettet in die politischen Wirren der Revolution von 1848, spürte ich den Unterschied. Damals konnte ich es nicht richtig fassen, inzwischen aber wurde es mir klar: In Dostojewskis Welt lebt Gott noch, in seinen Figuren, in ihrem tragischen Ringen um Sinn in diesem absurden Dasein. Bei Flaubert aber ist er tot, es existiert nur noch der moderne Mensch, der politische Mensch, der sich selbst verantwortliche, begehrende Mensch mit all seinen Halbwahrheiten, Nöten, Kompromissen und Lügen. Flauberts Figuren fügen sich nicht mehr dem Schicksal wie einem höheren, göttlichen Gesetz, sie stellen sich ihm entgegen, gehen dabei aber zugrunde oder verkommen zu bürgerlichen Kanaillen. Flauberts Welt ist ohne Heil. Oder anders gesagt: Das Heil besteht im Schmerz, im Begehren und Scheitern, in der Erkenntnis der Verlassenheit.
Effi Briest vs. Emma Bovary
Deutlicher noch fällt der Unterschied zu einem anderen Zeitgenossen auf, nämlich zu Theodor Fontane, nur zwei Jahre früher geboren, am 30. Dezember 1819 in Neuruppin, unter wieder anderen gesellschaftlichen Bedingungen. Sein Roman Effi Briest ist bekanntlich gut mit Flauberts Madame Bovary zu vergleichen. Wenn man sie vergleicht, dann sollte man allerdings die Divergenz hervorheben. Zwar steht auch Effi Briest exemplarisch für die Rolle der Frau in der damaligen Zeit, für ihre Unterdrückung durch gesellschaftliche Konventionen, für die Einschränkung ihrer Wahlfreiheit, für ihre Bewegungs-Unfreiheit, auch hier geht es um Leidenschaft und Ehebruch. Effi Briest aber stirbt am Ende in völliger Hingabe und Erschöpfung den Tod einer Heiligen, sie bekennt, dass ihr Mann daran recht getan habe, sie zu verstoßen. Man schüttelt den Kopf bei ihren letzten Worten:
Und es liegt mir daran, dass er erfährt, wie mir hier in meinen Kindheitstagen, die doch fast meine schönsten gewesen sind, wie mir hier klargeworden, dass er in allem recht gehandelt. [...] Und dann, womit er mich am tiefsten verletzte, dass er mein eigen Kind in einer Art Abwehr gegen mich erzogen hat, so hart es mir ankommt und so weh es mir tut, er hat auch darin recht gehabt. Lass ihn das wissen, dass ich in dieser Überzeugung gestorben bin. Es wird ihn trösten, aufrichten, vielleicht versöhnen.
Eine preußische Heilige. Lässt Fontane sie deshalb so kraftlos dahinsterben, weil er letztlich nicht weiß, was er mit seiner eigenwilligen Frauenfigur anfangen soll? Ganz anders Emma Bovary. Sie kämpft bis zum Ende mit aller Kraft für die Verwirklichung ihrer Leidenschaft und die Durchsetzung ihres Willens, sie lügt und trickst und vergiftet sich schließlich, als alles schiefgeht, in einem letztmöglichen Akt der Freiheit: „Und Emma begann zu lachen, ein grässliches, wahnsinniges, verzweifeltes Lachen, denn sie glaubte das scheußliche Gesicht des Elends zu sehen, das sich in der ewigen Finsternis wie ein Schreckgespenst erhob. – An jenem Tag ein böser Wind/ Der blies ihr Röckchen hoch geschwind! – Ein Krampf warf sie auf die Matratze zurück. Alle traten näher. Sie war nicht mehr.“ Hier stirbt eine Kriegerin auf dem Schlachtfeld. Heil im Scheitern und im Schmerz.
Der Idiot der Familie
Nach Erscheinen von Madame Bovary wurde Flaubert wegen „Verherrlichung des Ehebruchs“ und „Verstoßes gegen die guten Sitten“ angeklagt, später aber freigesprochen. Neben dem Eifer der Sittenwächter war es womöglich auch sein Hang zur Negation, zur Negativität, der ihm dieses Verfahren eingebracht hatte. Jean-Paul Sartre schrieb, Flaubert verleihe seinen Figuren eine „misstönende Mehrdeutigkeit, die bis dahin im europäischen Roman noch niemals angetroffen wurde“. Es gelinge uns nicht, gegenüber seinen Geschöpfen eine bequeme Position einzunehmen, „weil der Autor sie im Unbehagen unter dem Diktat vielfacher und widersprüchlicher Begierden geschaffen hat“. Permanent erfinde er für den Leser „ein neues Unbehagen“. Kunst habe für Flaubert „nur ein Sujet, das total ist: die Schöpfung totalisieren, um ihre Eitelkeit, ihr Nichts zu zeigen.“ Flaubert selbst nennt es einmal seinen „Glauben an nichts“.
Nachzulesen ist Sartres Analyse in seinem Werk Der Idiot der Familie. Auf mehr als 3000 Seiten (in der Rowohlt-Ausgabe) versucht der Philosoph, den Schriftsteller Flaubert zu erkunden, zu vermessen, zu durchleuchten. Denn niemand anderes als Flaubert ist der Idiot, der zweitgeborene Sohn einer aufstrebenden, bürgerlichen Arztfamilie in der Normandie, der sich, wenn man Sartre richtig versteht, der Literatur zuwendet, um dem Fluch seiner Familienkonstellation zu entgehen, dem Fluch, qua Geburt nur der Zweite zu sein. Oder in Flauberts eigenen Worten: „Oh, die Familie, was für eine Landplage! Was für ein Sumpf! Was für ein Hemmschuh!“ (in einem Brief an Ernest Chevalier, zitiert nach Sartre).
Der Idiot der Familie ist eine tiefenpsychologische Studie, ein Detektivroman, ein philosophisches Mammutwerk (das trotz des Umfangs Fragment geblieben ist!) und ein lehrreiches Zeitgemälde. Es geht um das Verhältnis des aufstrebenden Bürgertums zur Aristokratie, um die Bedingungen, in jener Zeit Schriftsteller zu werden, und es geht um Gustave, Gustave, Gustave: um sein frühkindliches Phlegma, um seine späteren Neurosen, um seine Sexualität genauso wie um seine politischen und ästhetischen Ansichten. Manchmal schaudert man, wie voyeuristisch Sartres Blick dabei wird. Man wünschte Flaubert, es wäre etwas weniger über seine Kindheit, seine Jugend und sein späteres Leben bekannt.
Am Ende aber bleibt festzuhalten: Gustave hat reüssiert. Er hat seinen älteren Bruder weit übertroffen. Zwar wurde Achille ein renommierter Arzt wie sein Vater, aber er hatte etwas Tragisches an sich. Denn er operierte seinen Vater nach einem Unfall, woraufhin dieser starb. Gustave Flaubert indes, der Anti-Romantiker und misanthropische Reaktionär, der Enzyklopädist der menschlichen Dummheit, der strenge Stilist und Sezierer mit dem Federskalpell, der über alles das Wort „Mätresse“ liebte, er wird für immer in Erinnerung bleiben als einer der Schöpfer des modernen Romans. Vor 200 Jahren, am 12. Dezember 1821, schlug die Literaturgeschichte ein neues Kapitel auf. Wir lesen noch immer darin.
König, Traugott (Hg.) (1986): Jean Paul Sartre. Gesammelte Werke. Schriften zur Literatur. Der Idiot der Familie I bis IV. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg.