Anmerkungen zur Neuauflage des Literarischen Reiseführers Breslau
Das Deutsche Kulturforum östliches Europa engagiert sich für die Vermittlung deutscher Kultur und Geschichte im östlichen Europa. Dabei sind Regionen im Blick, in denen Deutsche gelebt haben oder bis heute leben. Das Kulturerbe jener Gebiete verbindet Deutschland mit seinen Nachbarn. Dies soll einer breiteren Öffentlichkeit bewusst gemacht werden – im Dialog und in zukunftsorientierter Zusammenarbeit mit den osteuropäischen Partnern. In der „Potsdamer Bibliothek östliches Europa“ erscheinen Sachbücher, Bildbände, Magazine und Kulturreiseführer. In diesen Tagen erscheint aktualisiert und erweitert die Neuauflage des (erstmals 2004 erschienenen) Literarischen Reiseführers Breslau.
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Wieder einmal wird sich der interessierte Literaturfreund erstaunt fragen: „Was hat eigentlich ein Literarischer Reiseführer Breslau mit Bayern oder mit der Literatur in Bayern zu tun?“ Am Anfang der kulturellen Beziehung zwischen Schlesien und Bayern steht zweifelsohne die 1174 in Andechs geborene Herzogin Hedwig, später „die Heilige Hedwig“ genannt und sowohl von Deutschen als auch von Polen verehrt. Sie verstarb 1243 in Breslau. Ihr Grab befindet sich im nahen Zisterzienserinnenkloster Trebnitz. Sie gilt als eigentliche Patronin Schlesiens. Für die Einweihung der Breslauer „Jahrhunderthalle“ 1913 – in Erinnerung an das 100-jährige Jubiläum der Napoleonischen Befreiungskriege – schreibt der Oberpfälzer Komponist Max Reger für die dortige monumentale Orgel das große Orgelwerk Introduktion, Passacaglia und Fuge e-moll (op. 127).
Und wer weiß schon vom höfischen „Breslauer Sängerfest“ von 1274 – vergleichbar mit dem „Sängerkrieg auf der Wartburg“ – unter dem Piasten-Herzog Heinrich IV., das den jüdischen Schriftsteller Walter Meckauer (⸶1966 in München) zur Erzählung Minnegericht im Breslauer Sängerkrieg animierte? Neben einem kirchlich-kulturellen Leben entstand hier bald auch eine blühende literarische Landschaft. „Bin ich ein Schlesier, bin ich ein Poet“, hieß es schon in einem geflügelten Wort des 16. Jahrhunderts. Und der norddeutsche Lyriker, Prosa- und Bühnenautor Detlev von Liliencron spricht gar vom „Land der 666 Dichter“. Schlesien wurde zu einem Zentrum des Humanismus. Und wer sich mit dem barocken Literaturreformer Martin Opitz befasst und die Schlesischen Dichterschulen Revue passieren lässt, könnte durchaus von Schlesien als „Wiege der deutschen Literatur“ sprechen, die von der markanten gotisch geformten Oderstadt auch in westliche deutsche Städte und Provinzen ausstrahlte.
Links: Georg Christoph Ferdinand von Räsewitz, zeitgenössisches Porträt (1689). Vermutlich vom Vohenstraußer Maler Erhart Bayer, aus dem Schloss Neidstein (Lkr. Amberg-Sulzbach). Rechts: Christian Knorr von Rosenroth (vermutlich) © Stadtmuseum Sulzbach-Rosenberg (Inventar-Nr. 4526)
Breslau wurde zur wichtigsten Kultur- und Literaturstadt östlich von Berlin und fand Niederschlag in der deutschen Lyrik: Friedrich Schiller (Der Schulmeister zu Breslau), Wilhelm Müller (Der Glockenguß zu Breslau) oder Joachim Ringelnatz (Aus Breslau). Wesentlichen Akzent setzte die Wirkungsstätte des Literaturnobelpreisträgers Gerhart Hauptmann, der hier seine Jugend verbrachte und auch Ehrenbürger der Stadt Breslau war. In den 1920er-Jahren ist Breslau auch die Keimzelle der deutschsprachigen Hörfunk-Avantgarde.
Nicht erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als Schlesien von Polen annektiert wurde, kamen zahlreiche Schriftsteller*, Autor* und Dichter*innen in den Freistaat Bayern, weil sie vertrieben wurden und/oder eine Rückkehr in ihre Heimat nicht mehr möglich war. Bereits in der Barockzeit kamen aus Breslau u.a. Christian Knorr von Rosenroth, der als kosmopolitischer Minister im kleinen Fürstentum Sulzbach in der Oberen Pfalz agierte, oder der humanistische Gelehrte Georg von Räsewitz auf das Landsassengut Muglhof bei Weiden, der als Freund Leibniz‘ Ambitionen als Minister für Sulzbach hegte.
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Der Beginn des Jahres 1945 führte den evangelischen Theologen, Dichter und NS-Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer ungewollt nach Bayern. Sein Leidensweg endete April 1945 – kurz vor Ende des Nationalsozialismus – mit seiner Hinrichtung im KZ Flossenbürg/Lkr. Neustadt a.d. Waldnaab. Ebenfalls in der nördlichen Oberpfalz sollte das geistige Erbe des deutschen Nobelpreisträgers Gerhart Hauptmann seinen sicheren Platz vor Einmarsch der Roten Armee in Schloss Kaibitz bei Kemnath finden, bevor die Odyssee über Garmisch-Partenkirchen weiterging und Ende 1945 in der Villa des Komponisten und ehemaligen Präsidenten der NS-Reichsmusikkammer Richard Strauss endete.
Währenddessen traf das Inferno gewaltig Breslau, die Hauptstadt Schlesiens, die während des Zweiten Weltkriegs vor Bomben sicher war und von den Alliierten erst in den letzten Kriegswochen bombardiert wurde. Hugo (Andreas) Hartung, gebürtiger Sachse, Wahl-Breslauer und später Wahl-Münchner, erlebte dies als einfacher Soldat in der sog. „Festung Breslau“ und hielt seine Erlebnisse mahnend für die Nachwelt fest in dem Buch Der Himmel war unten (1951). Auch der Oberschlesier Gerhard Kukofka war dort als einfacher Soldat beim letzten Aufgebot der „Landesschützen“ eingesetzt und kam nach Einmarsch der Roten Armee als Kriegsgefangener in das russische Lager Breslau-Hundsfeld. Seine Gedichte Das zerstörte Breslau und Die Kirche St. Matthias im Festungsfeuer erinnern ebenfalls daran.
Der große menschlich-geistige Exodus von 1945 führte dann unzählige namhafte schlesische Schriftsteller* und Dichter*innen nach Bayern – auch weil die einstige bedeutendste Großstadt Ostdeutschlands zu über 70 Prozent in Schutt und Asche lag: Ernst Günter Bleisch, Dagmar Nick, Alfons Teuber, Werner Finck, Dieter Hildebrandt, Horst Lange, Monika Taubitz, Peter Hacks, Adalbert Seipolt, Reinhard Baumgart, Hans-Christian Kirsch u.v.a.
Ernst Günther Bleisch bei der Jahressitzung der Bayerischen Akademie der Schönen Künste am 27. Juni 1984; Dagmar Nick, Fotografie September 1951 (Bayerische Staatsbibliothek/Timpe)
Dieter Hildebrandt, Fotografie Oktober 1981; Horst Lange (r.) mit Oda Schaefer bei der Jahressitzung der Bayerischen Akademie der Schönen Künste am 11. Juli 1963 (Bayerische Staatsbibliothek/Timpe)
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Im August 1948 fand in Breslau (poln. Wrocław), ein sog. „Internationaler Friedenskongress“ statt, zu dem Intellektuelle aus Ost und West eingeladen wurden und Pablo Picasso seine berühmte „Friedenstaube“ entwarf. Der extra aus der Schweiz angereiste Schriftsteller Max Frisch erkennt die kommunistisch-stalinistische Propaganda-Plattform und reist bald wieder ab. Auch der in München geborene und in Berlin-Ost lebende kommunistische Dichter Johannes R. Becher, der die deutsche Delegation anführen soll, weigert sich „als deutscher Patriot“, weil er „gegen die Grenze an Oder und Neisse“ ist und „ein polnisches Breslau nicht will“. Tagungsort ist die berühmte, 1913 fertiggestellte „Jahrhunderthalle“, zu dessen Eröffnung der Oberpfälzer Komponist Max Reger sein monumentales Werk (s.o.) geschaffen hatte. Ob das die Teilnehmer alle wussten?
Aber auch nicht hier sesshaft Gewordene kreuzten später bayerische Lande: So nahm die Schriftstellerin Stefanie Zweig in ihrem Roman Nirgendwo in Afrika (1995) – über den Exodus der jüdischen Familie Redlich – die Episode der Reichskristallnacht 1938 in Weiden anhand des Berichts der dort lebenden jüdischen Familie Sadler auf. Der linkskritische Autor und Kabarettist Wolfgang Neuss verweilte gleich mehrfach in Bayern als gefragter satirischer Schauspieler, u.a. bei der populären Hauff-Verfilmung Das Wirtshaus im Spessart (1958). Sie alle und noch viel mehr prägten und bereicherten in ihrer literarischen Vielfalt später das „Literaturland Bayern“ in Wort und Schrift.
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Wappen von Breslau/Wrocław (Wernigeroder Wappenbuch)
Eine Vielzahl von Schriftsteller*innen sind dem heutigen Wrocław literarisch verbunden: Tadeusz Rozewicz, Marek Krajewski, Nadia Szagdaj und nicht zuletzt Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk. 2016 wurde Breslau/Wrocław Europäische Kulturhauptstadt. Im gleichen Jahr erhielt es noch den Titel „UNESCO-Weltbuchhauptstadt“. Die Neuauflage des Literarischen Reiseführers Breslau von Roswitha Schieb mit neuen Zitaten und Fotografien zeigt die frühere kulturelle Anziehungskraft der Stadt sowie die Lebendigkeit und Kreativität der heutigen Breslauer Literaturszene. Monika Taubitz, Lyrikerin und Romanautorin mit neuer Heimat im Allgäu, schreibt in ihrem Winteralbum (2011): „Auch Besucher, die nichts Besonderes mit der Stadt verbindet, schwärmen […] von der Schönheit ihrer Lage an der Oder mit mehreren hier mündenden Nebenflüssen und Kanälen, mit über hundert Brücken, ihren begründeten Ufern und Parkanlagen, den weiten Plätzen und prachtvollen herausragenden Bauten.“
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Roswitha Schieb, Jg. 1962, promovierte Berliner Germanistin und Kunstwissenschaftlerin mit zahlreichen Reisen nach und durch Polen, erfolgreiche Sachbuchautorin, führt mit dieser überarbeiteten Neuauflage des Stadt-Vademecums Breslau Literaturfreunde durch die kulturgeschichtlich vielfältige Oder-Kulturstadt. In diesem inzwischen schon zum Klassiker gewordenen Buch präsentiert sie Zitate vom 14. bis zum 21. Jahrhundert sowie umfassende Informationen zu Kultur und Geschichte dieser großen magischen Literaturstadt. 2021 erhält Roswitha Schieb den „Kulturpreis Schlesien“ des Landes Niedersachsen, der ihr Anfang Oktober in Breslau überreicht werden wird.
Roswitha Schieb: Literarischer Reiseführer Breslau. Sieben Stadtrundgänge mit zahlr. Abb., Kurzbiographien, Zeittafel, ausführlichen Registern und zweisprachigen Karten mit Lesebändchen, unter Mitarbeit von Magdalena Gebala, hg. vom Deutschen Kulturforum östliches Europa e.V., Potsdam-Berlin, 3. akt. u. erw. Aufl. 2021, 412 S.
Bär, Julia (2016): Zwischen „Festung Breslau“ und „verlorener Heimat“. Erinnerungen an Breslau im Nachkriegsroman der BRD und der DDR. Kulturwissenschaftliche Fakultät, Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder). [Diss.]
Baron, Bernhard M. (2021): Max Reger und seine Beziehung zu Schlesien. In: Eichendorff-Hefte/Zeszyty Eichendorffa Nr. 73 [Reihe „Editio Silesia“, hg. von dem Oberschlesischen Eichendorff-Kultur- und Begegnungszentrum Schloss Lubowitz/Lubowice (Polen)], S. 36-43.
Ferber, Michael (2005): Schlesische Biographie. Personenlexikon. Nürnberg.
Hayduk, Alfons (1957, 2. Aufl. 1971): Große Schlesier. Geistestaten, Lebensfahrten, Abenteuer. München.
Lachmann, Peter (2011): DurchFlug. E.T.A. Hoffmann in Schlesien. Ein Lesebuch, Deutsches Kulturforum östliches Europa. Potsdam.
Lubos, Arno (1974): Geschichte der Literatur Schlesiens. 3 Bde. München.
Ders. (2008): Literatur Schlesiens. Aufsätze und Vorträge (Reihe Literarische Landschaften). Bd. 9, Berlin.
Rostropowicz, Joanna (Hg.) (2018): Schlesier von den frühesten Zeiten bis zur Gegenwart. Bd. V. (Edition Silesia). Opole/Oppeln.
Schieb, Roswitha (2015): Breslau/Wroclaw. Ein kunstgeschichtlicher Rundgang durch die Stadt der hundert Brücken [...] (Reihe Große Kunstführer i.d. Potsdamer Bibliothek östliches Europa, Bd. 9). Regensburg/Potsdam.
Schweiggert, Alfons; Macher, Hannes S. (2004): Autoren und Autorinnen in Bayern. 20. Jahrhundert. Dachau.
Externe Links:
Deutsches Kulturforum östliches Europa (Potsdam-Berlin)
Breslauer Persönlichkeiten in der Wikipedia
Roswitha Schieb beim Literaturport
Nadine Wojcik: Breslau – ein literarischer Spaziergang
Anmerkungen zur Neuauflage des Literarischen Reiseführers Breslau>
Das Deutsche Kulturforum östliches Europa engagiert sich für die Vermittlung deutscher Kultur und Geschichte im östlichen Europa. Dabei sind Regionen im Blick, in denen Deutsche gelebt haben oder bis heute leben. Das Kulturerbe jener Gebiete verbindet Deutschland mit seinen Nachbarn. Dies soll einer breiteren Öffentlichkeit bewusst gemacht werden – im Dialog und in zukunftsorientierter Zusammenarbeit mit den osteuropäischen Partnern. In der „Potsdamer Bibliothek östliches Europa“ erscheinen Sachbücher, Bildbände, Magazine und Kulturreiseführer. In diesen Tagen erscheint aktualisiert und erweitert die Neuauflage des (erstmals 2004 erschienenen) Literarischen Reiseführers Breslau.
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Wieder einmal wird sich der interessierte Literaturfreund erstaunt fragen: „Was hat eigentlich ein Literarischer Reiseführer Breslau mit Bayern oder mit der Literatur in Bayern zu tun?“ Am Anfang der kulturellen Beziehung zwischen Schlesien und Bayern steht zweifelsohne die 1174 in Andechs geborene Herzogin Hedwig, später „die Heilige Hedwig“ genannt und sowohl von Deutschen als auch von Polen verehrt. Sie verstarb 1243 in Breslau. Ihr Grab befindet sich im nahen Zisterzienserinnenkloster Trebnitz. Sie gilt als eigentliche Patronin Schlesiens. Für die Einweihung der Breslauer „Jahrhunderthalle“ 1913 – in Erinnerung an das 100-jährige Jubiläum der Napoleonischen Befreiungskriege – schreibt der Oberpfälzer Komponist Max Reger für die dortige monumentale Orgel das große Orgelwerk Introduktion, Passacaglia und Fuge e-moll (op. 127).
Und wer weiß schon vom höfischen „Breslauer Sängerfest“ von 1274 – vergleichbar mit dem „Sängerkrieg auf der Wartburg“ – unter dem Piasten-Herzog Heinrich IV., das den jüdischen Schriftsteller Walter Meckauer (⸶1966 in München) zur Erzählung Minnegericht im Breslauer Sängerkrieg animierte? Neben einem kirchlich-kulturellen Leben entstand hier bald auch eine blühende literarische Landschaft. „Bin ich ein Schlesier, bin ich ein Poet“, hieß es schon in einem geflügelten Wort des 16. Jahrhunderts. Und der norddeutsche Lyriker, Prosa- und Bühnenautor Detlev von Liliencron spricht gar vom „Land der 666 Dichter“. Schlesien wurde zu einem Zentrum des Humanismus. Und wer sich mit dem barocken Literaturreformer Martin Opitz befasst und die Schlesischen Dichterschulen Revue passieren lässt, könnte durchaus von Schlesien als „Wiege der deutschen Literatur“ sprechen, die von der markanten gotisch geformten Oderstadt auch in westliche deutsche Städte und Provinzen ausstrahlte.
Links: Georg Christoph Ferdinand von Räsewitz, zeitgenössisches Porträt (1689). Vermutlich vom Vohenstraußer Maler Erhart Bayer, aus dem Schloss Neidstein (Lkr. Amberg-Sulzbach). Rechts: Christian Knorr von Rosenroth (vermutlich) © Stadtmuseum Sulzbach-Rosenberg (Inventar-Nr. 4526)
Breslau wurde zur wichtigsten Kultur- und Literaturstadt östlich von Berlin und fand Niederschlag in der deutschen Lyrik: Friedrich Schiller (Der Schulmeister zu Breslau), Wilhelm Müller (Der Glockenguß zu Breslau) oder Joachim Ringelnatz (Aus Breslau). Wesentlichen Akzent setzte die Wirkungsstätte des Literaturnobelpreisträgers Gerhart Hauptmann, der hier seine Jugend verbrachte und auch Ehrenbürger der Stadt Breslau war. In den 1920er-Jahren ist Breslau auch die Keimzelle der deutschsprachigen Hörfunk-Avantgarde.
Nicht erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als Schlesien von Polen annektiert wurde, kamen zahlreiche Schriftsteller*, Autor* und Dichter*innen in den Freistaat Bayern, weil sie vertrieben wurden und/oder eine Rückkehr in ihre Heimat nicht mehr möglich war. Bereits in der Barockzeit kamen aus Breslau u.a. Christian Knorr von Rosenroth, der als kosmopolitischer Minister im kleinen Fürstentum Sulzbach in der Oberen Pfalz agierte, oder der humanistische Gelehrte Georg von Räsewitz auf das Landsassengut Muglhof bei Weiden, der als Freund Leibniz‘ Ambitionen als Minister für Sulzbach hegte.
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Der Beginn des Jahres 1945 führte den evangelischen Theologen, Dichter und NS-Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer ungewollt nach Bayern. Sein Leidensweg endete April 1945 – kurz vor Ende des Nationalsozialismus – mit seiner Hinrichtung im KZ Flossenbürg/Lkr. Neustadt a.d. Waldnaab. Ebenfalls in der nördlichen Oberpfalz sollte das geistige Erbe des deutschen Nobelpreisträgers Gerhart Hauptmann seinen sicheren Platz vor Einmarsch der Roten Armee in Schloss Kaibitz bei Kemnath finden, bevor die Odyssee über Garmisch-Partenkirchen weiterging und Ende 1945 in der Villa des Komponisten und ehemaligen Präsidenten der NS-Reichsmusikkammer Richard Strauss endete.
Währenddessen traf das Inferno gewaltig Breslau, die Hauptstadt Schlesiens, die während des Zweiten Weltkriegs vor Bomben sicher war und von den Alliierten erst in den letzten Kriegswochen bombardiert wurde. Hugo (Andreas) Hartung, gebürtiger Sachse, Wahl-Breslauer und später Wahl-Münchner, erlebte dies als einfacher Soldat in der sog. „Festung Breslau“ und hielt seine Erlebnisse mahnend für die Nachwelt fest in dem Buch Der Himmel war unten (1951). Auch der Oberschlesier Gerhard Kukofka war dort als einfacher Soldat beim letzten Aufgebot der „Landesschützen“ eingesetzt und kam nach Einmarsch der Roten Armee als Kriegsgefangener in das russische Lager Breslau-Hundsfeld. Seine Gedichte Das zerstörte Breslau und Die Kirche St. Matthias im Festungsfeuer erinnern ebenfalls daran.
Der große menschlich-geistige Exodus von 1945 führte dann unzählige namhafte schlesische Schriftsteller* und Dichter*innen nach Bayern – auch weil die einstige bedeutendste Großstadt Ostdeutschlands zu über 70 Prozent in Schutt und Asche lag: Ernst Günter Bleisch, Dagmar Nick, Alfons Teuber, Werner Finck, Dieter Hildebrandt, Horst Lange, Monika Taubitz, Peter Hacks, Adalbert Seipolt, Reinhard Baumgart, Hans-Christian Kirsch u.v.a.
Ernst Günther Bleisch bei der Jahressitzung der Bayerischen Akademie der Schönen Künste am 27. Juni 1984; Dagmar Nick, Fotografie September 1951 (Bayerische Staatsbibliothek/Timpe)
Dieter Hildebrandt, Fotografie Oktober 1981; Horst Lange (r.) mit Oda Schaefer bei der Jahressitzung der Bayerischen Akademie der Schönen Künste am 11. Juli 1963 (Bayerische Staatsbibliothek/Timpe)
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Im August 1948 fand in Breslau (poln. Wrocław), ein sog. „Internationaler Friedenskongress“ statt, zu dem Intellektuelle aus Ost und West eingeladen wurden und Pablo Picasso seine berühmte „Friedenstaube“ entwarf. Der extra aus der Schweiz angereiste Schriftsteller Max Frisch erkennt die kommunistisch-stalinistische Propaganda-Plattform und reist bald wieder ab. Auch der in München geborene und in Berlin-Ost lebende kommunistische Dichter Johannes R. Becher, der die deutsche Delegation anführen soll, weigert sich „als deutscher Patriot“, weil er „gegen die Grenze an Oder und Neisse“ ist und „ein polnisches Breslau nicht will“. Tagungsort ist die berühmte, 1913 fertiggestellte „Jahrhunderthalle“, zu dessen Eröffnung der Oberpfälzer Komponist Max Reger sein monumentales Werk (s.o.) geschaffen hatte. Ob das die Teilnehmer alle wussten?
Aber auch nicht hier sesshaft Gewordene kreuzten später bayerische Lande: So nahm die Schriftstellerin Stefanie Zweig in ihrem Roman Nirgendwo in Afrika (1995) – über den Exodus der jüdischen Familie Redlich – die Episode der Reichskristallnacht 1938 in Weiden anhand des Berichts der dort lebenden jüdischen Familie Sadler auf. Der linkskritische Autor und Kabarettist Wolfgang Neuss verweilte gleich mehrfach in Bayern als gefragter satirischer Schauspieler, u.a. bei der populären Hauff-Verfilmung Das Wirtshaus im Spessart (1958). Sie alle und noch viel mehr prägten und bereicherten in ihrer literarischen Vielfalt später das „Literaturland Bayern“ in Wort und Schrift.
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Wappen von Breslau/Wrocław (Wernigeroder Wappenbuch)
Eine Vielzahl von Schriftsteller*innen sind dem heutigen Wrocław literarisch verbunden: Tadeusz Rozewicz, Marek Krajewski, Nadia Szagdaj und nicht zuletzt Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk. 2016 wurde Breslau/Wrocław Europäische Kulturhauptstadt. Im gleichen Jahr erhielt es noch den Titel „UNESCO-Weltbuchhauptstadt“. Die Neuauflage des Literarischen Reiseführers Breslau von Roswitha Schieb mit neuen Zitaten und Fotografien zeigt die frühere kulturelle Anziehungskraft der Stadt sowie die Lebendigkeit und Kreativität der heutigen Breslauer Literaturszene. Monika Taubitz, Lyrikerin und Romanautorin mit neuer Heimat im Allgäu, schreibt in ihrem Winteralbum (2011): „Auch Besucher, die nichts Besonderes mit der Stadt verbindet, schwärmen […] von der Schönheit ihrer Lage an der Oder mit mehreren hier mündenden Nebenflüssen und Kanälen, mit über hundert Brücken, ihren begründeten Ufern und Parkanlagen, den weiten Plätzen und prachtvollen herausragenden Bauten.“
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Roswitha Schieb, Jg. 1962, promovierte Berliner Germanistin und Kunstwissenschaftlerin mit zahlreichen Reisen nach und durch Polen, erfolgreiche Sachbuchautorin, führt mit dieser überarbeiteten Neuauflage des Stadt-Vademecums Breslau Literaturfreunde durch die kulturgeschichtlich vielfältige Oder-Kulturstadt. In diesem inzwischen schon zum Klassiker gewordenen Buch präsentiert sie Zitate vom 14. bis zum 21. Jahrhundert sowie umfassende Informationen zu Kultur und Geschichte dieser großen magischen Literaturstadt. 2021 erhält Roswitha Schieb den „Kulturpreis Schlesien“ des Landes Niedersachsen, der ihr Anfang Oktober in Breslau überreicht werden wird.
Roswitha Schieb: Literarischer Reiseführer Breslau. Sieben Stadtrundgänge mit zahlr. Abb., Kurzbiographien, Zeittafel, ausführlichen Registern und zweisprachigen Karten mit Lesebändchen, unter Mitarbeit von Magdalena Gebala, hg. vom Deutschen Kulturforum östliches Europa e.V., Potsdam-Berlin, 3. akt. u. erw. Aufl. 2021, 412 S.
Bär, Julia (2016): Zwischen „Festung Breslau“ und „verlorener Heimat“. Erinnerungen an Breslau im Nachkriegsroman der BRD und der DDR. Kulturwissenschaftliche Fakultät, Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder). [Diss.]
Baron, Bernhard M. (2021): Max Reger und seine Beziehung zu Schlesien. In: Eichendorff-Hefte/Zeszyty Eichendorffa Nr. 73 [Reihe „Editio Silesia“, hg. von dem Oberschlesischen Eichendorff-Kultur- und Begegnungszentrum Schloss Lubowitz/Lubowice (Polen)], S. 36-43.
Ferber, Michael (2005): Schlesische Biographie. Personenlexikon. Nürnberg.
Hayduk, Alfons (1957, 2. Aufl. 1971): Große Schlesier. Geistestaten, Lebensfahrten, Abenteuer. München.
Lachmann, Peter (2011): DurchFlug. E.T.A. Hoffmann in Schlesien. Ein Lesebuch, Deutsches Kulturforum östliches Europa. Potsdam.
Lubos, Arno (1974): Geschichte der Literatur Schlesiens. 3 Bde. München.
Ders. (2008): Literatur Schlesiens. Aufsätze und Vorträge (Reihe Literarische Landschaften). Bd. 9, Berlin.
Rostropowicz, Joanna (Hg.) (2018): Schlesier von den frühesten Zeiten bis zur Gegenwart. Bd. V. (Edition Silesia). Opole/Oppeln.
Schieb, Roswitha (2015): Breslau/Wroclaw. Ein kunstgeschichtlicher Rundgang durch die Stadt der hundert Brücken [...] (Reihe Große Kunstführer i.d. Potsdamer Bibliothek östliches Europa, Bd. 9). Regensburg/Potsdam.
Schweiggert, Alfons; Macher, Hannes S. (2004): Autoren und Autorinnen in Bayern. 20. Jahrhundert. Dachau.