Der Freistaat ist voller Geschichten
Die 143. Ausgabe der Zeitschrift Literatur in Bayern widmet sich dem Schwerpunkt Avantgarde. Darin rezensiert Klaus Hübner den Sammelband Eine Reise durch Bayern.
Auf nicht unbedingt notwendige Reisen sollen wir bittschön verzichten, sagt die Obrigkeit. Wer es trotzdem nicht lassen kann, muss die Reise mühsam und sorgfältig organisieren. Notverpflegung? Genug Wasser? Andere anregende Getränke? Wo übernachten? Was hat zu, was auf? Tests? Quarantäne? Reisen war schon mal einfacher. Da bleibt man doch lieber gleich daheim und greift zu einem dicken Wälzer mit dem schlichten Titel Eine Reise durch Bayern. Nein, keine Hochglanzfotos. überhaupt keine Fotos. 23 gelehrte Beiträge zu einer „Bavaristischen Ringvorlesung“ an der LMU München, die im Jahr 2000 begann und im Jahr 2013 zu Ende ging. Verfasst von namhaften Historikern, Archivaren und Museumsleuten, zwanzig Männern und nur drei Frauen. Katharina Weigand entführt uns nach Würzburg, gesehen als Geburtsstadt des Prinzregenten Luitpold, von Regina Dauser erfahren wir Neues über die Fugger und das Bild der Reichsstadt Augsburg, und Hannelore Putz lädt uns zu einer kulturhistorischen Reise von Kelheim bis Bamberg entlang des Ludwigskanals ein. Sehr anregende Aufsätze, die nicht nur zum Reisen, sondern auch zum Nachforschen und Weiterlesen animieren – fast 60 Seiten Anhang hat das Buch, und darin finden sich zahlreiche Hinweise auf weiterführende Literatur. Was schon das Inhaltsverzeichnis klar macht: Der Freistaat Bayern, der ja noch nicht so alt ist und dessen Territorium genau genommen erst im 20. Jahrhundert seine heutige Gestalt annahm, ist extrem vielfältig. Geografisch, historisch und überhaupt. Und er ist voller aufregender Geschichten.
Wie immer bei Sammelbänden gilt auch hier: Nicht jede und jeden wird alles gleichermaßen interessieren, und die sprachlich-stilistischen Qualitäten der Autoren sind auch nicht alle gleich. Dennoch finden sich viele spannende und lehrreiche Aufsätze, die sich auch ästhetisch goutieren lassen. Das fängt an mit Michael Stephans hinreißender Abhandlung über Scheyern, die von den Anfängen des Hauses Wittelsbach berichtet und uns dessen zahlreiche Ottos so behutsam näherbringt, dass wir den Überblick nicht verlieren, und es endet mit Hans-Michael Körners lesenswerten Betrachtungen zur Geschichte der Grenzstadt Furth im Wald. Man muss nicht alles aufzählen und bewerten, was sich dazwischen findet. Nur ein paar Stichworte zum Anfachen des Reisefiebers: Berchtesgaden zwischen Bayern und Salzburg, Salz und Salzhandel in Bad Reichenhall, die Landshuter Fürstenhochzeit von 1475 – mal als ostmitteleuropäisches Großereignis präsentiert –, Neuburg an der Donau als Residenz der Pfälzer Wittelsbacher samt triumphalem Auftritt der Malerei Flanderns, die moderne Bürgerstadt Nürnberg zur Dürerzeit, die protestantische Grafschaft Ortenburg bei Passau, die Jesuitenuniversität zu Dillingen und die Reorganisation des katholischen Bildungswesens in Schwaben, Münnerstadt in der Gegenreformation und der Bischof Julius Echter von Mespelbrunn, die »Katholische Aufklärung« im schwäbischen Irsee, Bayreuth zur Zeit der Markgräfin Wilhelmine, Münsterschwarzach und seine beiden Abteikirchen, Nördlingen im Übergang zu Bayern – »Gute Nacht, liebe Reichs-Stadt« –, die bis heute schmählich unterschätzte Stadt Fürth und die Frühzeit der bayerischen Industrialisierung, Heimatschutz in Bad Tölz um 1900, das Walchenseekraftwerk, die Oberammergauer Passionsspiele, schließlich Flossenbürg in der nördlichen Oberpfalz und der berüchtigte Obersalzberg als »lieux de memoire« … Genug?
Mehr als genug, möchte man meinen! Lesestoff für mehrere Wochen! Und wenn man dereinst mal wieder problemloser reisen kann, dann muss es ja wirklich nicht gleich Teneriffa, Florida oder Thailand sein – im Freistaat Bayern gibt’s unendlich viel zu entdecken, und der aufregende und abwechslungsreiche Geschichtsstoff dieser Reise durch Bayern kann dann die eigenen Entdeckungen historisieren und kontextualisieren. Wunderbar! Gute Idee, diese »Bavaristische Ringvorlesung«! Wer führt sie weiter? An kompetenten Historikerinnen, Archivarinnen und Museumsfrauen mangelt es im Freistaat nicht. Und an historisch attraktiven Reisezielen sowieso nicht.
Katharina Weigand (Hg.): Eine Reise durch Bayern, utzverlag, München 2020.
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Die 143. Ausgabe der Zeitschrift Literatur in Bayern widmet sich dem Schwerpunkt Avantgarde. Darin rezensiert Klaus Hübner den Sammelband Eine Reise durch Bayern.
Auf nicht unbedingt notwendige Reisen sollen wir bittschön verzichten, sagt die Obrigkeit. Wer es trotzdem nicht lassen kann, muss die Reise mühsam und sorgfältig organisieren. Notverpflegung? Genug Wasser? Andere anregende Getränke? Wo übernachten? Was hat zu, was auf? Tests? Quarantäne? Reisen war schon mal einfacher. Da bleibt man doch lieber gleich daheim und greift zu einem dicken Wälzer mit dem schlichten Titel Eine Reise durch Bayern. Nein, keine Hochglanzfotos. überhaupt keine Fotos. 23 gelehrte Beiträge zu einer „Bavaristischen Ringvorlesung“ an der LMU München, die im Jahr 2000 begann und im Jahr 2013 zu Ende ging. Verfasst von namhaften Historikern, Archivaren und Museumsleuten, zwanzig Männern und nur drei Frauen. Katharina Weigand entführt uns nach Würzburg, gesehen als Geburtsstadt des Prinzregenten Luitpold, von Regina Dauser erfahren wir Neues über die Fugger und das Bild der Reichsstadt Augsburg, und Hannelore Putz lädt uns zu einer kulturhistorischen Reise von Kelheim bis Bamberg entlang des Ludwigskanals ein. Sehr anregende Aufsätze, die nicht nur zum Reisen, sondern auch zum Nachforschen und Weiterlesen animieren – fast 60 Seiten Anhang hat das Buch, und darin finden sich zahlreiche Hinweise auf weiterführende Literatur. Was schon das Inhaltsverzeichnis klar macht: Der Freistaat Bayern, der ja noch nicht so alt ist und dessen Territorium genau genommen erst im 20. Jahrhundert seine heutige Gestalt annahm, ist extrem vielfältig. Geografisch, historisch und überhaupt. Und er ist voller aufregender Geschichten.
Wie immer bei Sammelbänden gilt auch hier: Nicht jede und jeden wird alles gleichermaßen interessieren, und die sprachlich-stilistischen Qualitäten der Autoren sind auch nicht alle gleich. Dennoch finden sich viele spannende und lehrreiche Aufsätze, die sich auch ästhetisch goutieren lassen. Das fängt an mit Michael Stephans hinreißender Abhandlung über Scheyern, die von den Anfängen des Hauses Wittelsbach berichtet und uns dessen zahlreiche Ottos so behutsam näherbringt, dass wir den Überblick nicht verlieren, und es endet mit Hans-Michael Körners lesenswerten Betrachtungen zur Geschichte der Grenzstadt Furth im Wald. Man muss nicht alles aufzählen und bewerten, was sich dazwischen findet. Nur ein paar Stichworte zum Anfachen des Reisefiebers: Berchtesgaden zwischen Bayern und Salzburg, Salz und Salzhandel in Bad Reichenhall, die Landshuter Fürstenhochzeit von 1475 – mal als ostmitteleuropäisches Großereignis präsentiert –, Neuburg an der Donau als Residenz der Pfälzer Wittelsbacher samt triumphalem Auftritt der Malerei Flanderns, die moderne Bürgerstadt Nürnberg zur Dürerzeit, die protestantische Grafschaft Ortenburg bei Passau, die Jesuitenuniversität zu Dillingen und die Reorganisation des katholischen Bildungswesens in Schwaben, Münnerstadt in der Gegenreformation und der Bischof Julius Echter von Mespelbrunn, die »Katholische Aufklärung« im schwäbischen Irsee, Bayreuth zur Zeit der Markgräfin Wilhelmine, Münsterschwarzach und seine beiden Abteikirchen, Nördlingen im Übergang zu Bayern – »Gute Nacht, liebe Reichs-Stadt« –, die bis heute schmählich unterschätzte Stadt Fürth und die Frühzeit der bayerischen Industrialisierung, Heimatschutz in Bad Tölz um 1900, das Walchenseekraftwerk, die Oberammergauer Passionsspiele, schließlich Flossenbürg in der nördlichen Oberpfalz und der berüchtigte Obersalzberg als »lieux de memoire« … Genug?
Mehr als genug, möchte man meinen! Lesestoff für mehrere Wochen! Und wenn man dereinst mal wieder problemloser reisen kann, dann muss es ja wirklich nicht gleich Teneriffa, Florida oder Thailand sein – im Freistaat Bayern gibt’s unendlich viel zu entdecken, und der aufregende und abwechslungsreiche Geschichtsstoff dieser Reise durch Bayern kann dann die eigenen Entdeckungen historisieren und kontextualisieren. Wunderbar! Gute Idee, diese »Bavaristische Ringvorlesung«! Wer führt sie weiter? An kompetenten Historikerinnen, Archivarinnen und Museumsfrauen mangelt es im Freistaat nicht. Und an historisch attraktiven Reisezielen sowieso nicht.
Katharina Weigand (Hg.): Eine Reise durch Bayern, utzverlag, München 2020.