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27.08.2021, 14:52 Uhr
Renée Rauchalles
Text & Debatte
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Renée Rauchalles © Folker Schellenberg

Angelica Fell und ihre „Freie Bühne München“

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LULU Plakat 2019 © Freie Bühne München

Die 142. Ausgabe der Zeitschrift Literatur in Bayern widmet sich dem Schwerpunktthema kostbarRenée Rauchalles schreibt darin über Angelica Fell und ihr inklusives Theaterprojekt »Freie Bühne« München.

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Das Jahr 1990 veränderte ihr Leben, es war das Jahr, in dem ihr Sohn Dennis zur Welt kam. Er ist ihr drittes und ein besonderes Kind, es hat das Down-Syndrom. Seit dem vierten Monat wusste Fell darum. Die damaligen Fachbücher, die sie darüber las, waren defizitorientiert und deprimierend. Nach einer Zeit düsterer Gedanken, des Konflikts, Suchens, Fragens die Entscheidung für ihr Kind. Durch Vermittlung der Organisation »Lebenshilfe« konnte sie mit ihrem Lebenspartner ein Paar besuchen, das ein Baby mit Down-Syndrom hatte. Ab diesem Schlüsselerlebnis stellte sich Vorfreude auf das noch Ungeborene ein, alles verlief nun leicht, auch die Geburt. Dennis wurde die »Tür zum Glück«, durch ihn die Welt bunt, auch für die beiden anderen Kinder, die damals 11-jährige Tochter Marie-Elise und den 14-jährigen Sohn Severin aus der zweiten Ehe mit Fells großer Liebe, dem Schauspieler und Kunstkritiker Sylvester Fell. Zusammen mit den zwei Kindern ihrer 1994 verstorbenen Schwester zog sie die drei – inzwischen von Sylvester getrennt – in ihrer Schwabinger Wohnung in München groß. In dieser schweren Zeit gab Dennis der Familie Kraft, war Klebstoff für sie, und das bis heute, so Fell.

Angelica Fell begann nach ihrem Journalismus-Studium beim Bayerischen Rundfunk (Hörfunk und TV). Sie wollte etwas bewegen, setzte sich für politische Themen ein, wurde TV-Kritikerin der großen Tageszeitungen/Zeitschriften und Redaktionsleiterin des TV-Dienstes »telescript « sowie Filmautorin der ARD, veröffentlichte Bücher, wechselte zum ZDF, baute dort 1988 im Redaktionsteam um Maria von Weiser das Frauenmagazin Mona Lisa auf, arbeitete als lnvestigativreporterin. Sie deckte zum Beispiel während ihrer 25-jährigen Redaktionszeit 2006 zusammen mit Kollegin Barbara Dickmann in der preisgekrönten Doku Und keiner weiß warum einen vertuschten Atomunfall auf. Dieses intensive Engagement für soziale Themen behielt sie bei, als es darum ging, Dennis' größten Wunsch zu erfüllen: Er wollte unbedingt Schauspieler werden, schon als Kind sang und tanzte er gern.

Schauspieler werden mit Down-Syndrom? Wie sollte das gehen? In der Förderschule wurde er nicht integriert, er lernte weder schreiben noch lesen. Erst auf einer Münchner heilpädagogischen Waldorfschule konnte er vieles nachholen. Doch danach blieb für Dennis nur der Weg in die Werkstätten für Behinderte Menschen (WfBM), weit weg von den Herausforderungen und dem Miteinander eines normalen Alltags. Das deprimierte, das wollte sie nicht. Dennis machte ein Praktikum an einem inklusiven Berliner Theater bei dem die Mutter ihn filmisch begleitete. Bald reifte in ihr die Idee: Auch sie wollte ein Theater für alle, wo niemand ausgegrenzt wird, in dem SchauspielerInnen mit und ohne Behinderung zusammenarbeiten. Sie fragte Theatermacher, ob sie ein inklusives Theater gründen würden. Vergebens. So gründete sie mit ihren Kindern (Tochter Marie-Elise gab ihren Beruf auf, ist heute geschäftsführender Vorstand und Projektleiterin) sowie Künstlern und Journalisten am 7. November 2013 den gemeinnützigen Verein »Freie Bühne München/FBM e.V.« und damit Bayerns erstes inklusives Theater. Im Februar 2014 startete es mit Ehrenamtlichen und vielen Unterstützern, auch aus Prominenz, Politik, Wirtschaft, Kunst und Kultur sowie dank einer Großspende der Sparda-Bank München und der Förderung des Münchner Kulturreferats. Durch die Kooperation mit der »Offenen Behindertenarbeit OBA-evangelisch in der Region« konnten die ersten zehn Schauspiel-Anfänger (mit und ohne Behinderung) in München-Neuhausen in barrierefreie Räume einziehen, wo sie in Workshops das berufliche Rüstzeug erlernten. Da diese inzwischen zu klein sind, werden dringend neue gesucht. Die Workshops sind ein wichtiger Teil der FBM Theater-Akademie, sie bieten eine praxisnahe Ausbildung, die drei Jahre dauert, und mit der »Bühnenreife « abschließt. Die Ausgebildeten spielen an Theatern, in Film und TV und bekommen die gleichen Gagen wie nichtbehinderte Kollegen. Es gibt verschiedene Workshop-Angebote für jede(n) Theater-Interessierte(n).

Am 4. Februar 2015 wurde das erste Stück der »Freien Bühne München« in der vollbesetzten Black Box im Gasteig aufgeführt, wo alle ihre Premieren stattfinden. Die FBM trat nun jährlich mit großen Stücken (immer begeistern sie Publikum und Presse und werden seit 2019 durch eine dreijährige Optionsförderung der Stadt München unterstützt) an verschiedenen Spielstätten in München und ganz Deutschland auf wie mit Hamlet: eine maschine, Milton's Tower oder die schönheit der dinge, Woyzeck, Lulu nach Wedekind mit Luisa Wöllisch in der Hauptrolle. Im gleichen Jahr, 2019, spielte sie ihre erste große Film-Hauptrolle in der Komödie Die Goldfische, was der FBM große Aufmerksamkeit brachte. Inzwischen hat sie in vielen Filmen mitgewirkt, wird auch für Lesungen gebucht. 2020 wurden die Die Nashörner von Eugene Ionesco inszeniert, der mit dem Motiv des »Nashorn-Syndroms« verborgene Triebkräfte von Massenbewegungen hinterfragt und damit bedrückend aktuell ist.

Mit diesem Klassiker des absurden Theaters, in dem sich immer mehr Menschen in Nashörner verwandeln (Premiere 9. und 10. Oktober, gleichzeitiger Livestream auf YouTube mit Gebärdensprache) beschritt die »Freie Bühne München« wiederum einen innovativen Weg. Sie präsentierte die inklusiv besetzte Inszenierung im digitalen Raum, sodass die Zuschauer staunend eine Weltpremiere erlebten. Zwangsavantgarde nannte das Bayern 2 in einem ausführlichen Bericht, denn diese Art der Präsentation gab es noch nirgends. Sie war notwendig wegen der Gefahr schwer zu erkranken, sollten sich Ensemble-Mitglieder mit Corona infizieren. Also probte zwölf Wochen und spielte das neunköpfige Ensemble, aufgenommen von Webcams, in seinen Wohnungen jeder einzeln vor einem aufgespannten schwarzen Moltonvorhang. Auch Regisseur Jan Meyer (Künstlerischer Leiter der FBM), der bei fast allen Stücken Regie führte, dirigierte von zuhause aus. Auf dem Bildschirm sieht man die Personen in schwarzen Fenstern, vereint in einem bewusst karg gehaltenen virtuellen Bühnenbild (hat nichts mit den üblichen Videokonferenzen zu tun) so, als würden sie miteinander spielen. Ein herausforderndes und beeindruckendes Procedere, das nicht nur allen Beteiligten, sondern auch der Technik viel abverlangt. Drei Rechner braucht es, um alle Daten zusammen von den Mitwirkenden per Livestream an den YouTube-Kanal der FBM zu schicken (digitale Umsetzung: Raphael Kurig und Christian Gasteiger). Von da aus konnte man das in der Black Box dann auf der Leinwand sehen. Diese neuentwickelte Technik ermöglicht es, Personen grenzüberschreitend, sogar über Kontinente hinweg, in einem digitalen Raum zu vereinen, in dem sie miteinander spielen, aufeinander reagieren und so Brücken schlagen auch zu Krisenregionen. Ein aufregender Gedanke.

Kurz vor dem neuerlichen Lockdown wurde Lulu am 29. Oktober in inklusiver Besetzung mit anschließendem Podiumsgespräch (üblich auch bei den jährlichen FBM-­Aufführungen) auf dem renommierten Münchner Festival RODEO 2020 thematisiert. Weiterer Höhepunkt wird die Zusammenarbeit mit den Münchner Kammerspielen unter der neuen Intendanz Barbara Mundels, die 2019 zu Lulu­-Proben kam, auch wenn die AZ fragte, ob dadurch noch Qualität garantiert werden könne, was sie mit einem überzeugten »Ja« beantwortete. Vier Absolventen der FBM Theater-Akademie, darunter Fells Sohn Dennis Fell-Hernandez und Luisa Wöllisch, werden in den nächsten zwei Spielzeiten dem Kammerspiel-Ensemble angehören und damit für Angelica Fells Vision die nächste Tür zum Glück öffnen: Ein Mit- und Füreinander ohne Ausgrenzung und Diskriminierung!

Unter www.freiebuehnemuenchen.de gibt es ausführliche Informationen über die »Freie Bühne München« und die Workshops.