Info
14.01.2021, 15:24 Uhr
Amadé Esperer
Text & Debatte
images/lpbblogs/autorblog/2021/klein/esperer_164.jpg
© privat

Faszinosum Flash Fiction. Amadé Esperer über eine neue literarische Erzählform

https://www.literaturportal-bayern.de/images/lpbblogs/autorblog/2021/klein/esperer2_500.jpg
© Erich Weiß Verlag

Letztes Jahr entschloss sich der in Bamberg ansässige Erich Weiß Verlag dazu, einen Band mit Flash Fiction-Geschichten herauszubringen. Das ist insofern besonders, als Flash Fiction eine relativ junge, innovative und teilweise noch unbekannte Literaturgattung ist und es kaum ein Werk in deutscher Sprache gibt, das sich als Flash Fiction bezeichnen ließe. Der Würzburger Autor, Übersetzer und Herausgeber Amadé Esperer hat diesen 65 Flash Fiction-Geschichten umfassenden Band u.d.T. Im Auge „lacht“ der Augenblick geschrieben. Im Folgenden macht er sich Gedanken über die neue literarische Erzählform.

*

Flash Fiction ist vielleicht das faszinierendste Genre unserer Zeit; allerdings auch eines der schwierigsten. Denn Flash Fiction (FF) verlangt bei Verzicht auf komplexe Strukturen eine ausgefeilte, auf den Punkt gebrachte Prosa, die mit etwa 750 Wörtern eine Geschichte glaubhaft erzählt. Dass es dieses Genre jedoch gestattet, ebenso tiefe Wahrheiten über die conditio humana wie sein längeres Geschwister Short Story auszudrücken, lässt sich nicht nur bei Autoren wie John Updike, Raymond Carver, Joyce Carol Oates, Margret Atwood, Tom Hazuka oder Dave Eggers[1], sondern erfreulicherweise nun auch bei deutschen Autoren nachlesen[2].

Wie einst die Short Story im 20. Jahrhundert, gehört heute die Flash Fiction-Story mit zu den beliebtesten literarischen Genres. Allerdings scheint sie hierzulande noch immer vom Hauch des Exotischen umweht und so wenig bekannt, dass sich kategorisierungsversessene Literaten noch immer lieber den Kopf darüber zerbrechen, was denn eine Prosaminiatur überhaupt sei, und wenn ja, was sie im Besonderen könne[3]. Von FF hat man offenbar noch nichts gehört, obgleich dieser Begriff, bereits 1992 in die Welt gesetzt, sich noch vor der Jahrtausendwende mit exponentieller Geschwindigkeit in der internationalen Literaturszene verbreitet hat. Nachdem 1992 die bahnbrechende und dem neuen Genre den Namen gebende Anthologie Flash Fiction beim Verlag W.W. Norton in New York erschienen und gleichermaßen bei Lesern wie Autoren auf enorme Resonanz gestoßen war, breitete sich das neue Genre unaufhaltsam in der englischsprachigen Welt aus. Als Beschleuniger wirkte natürlich das Internet, wo in kurzer Zeit spezielle FF-Seiten wie die Pilze aus dem Boden schossen.

Zahllose Autoren griffen vor allem in den USA die neue Erzählform mit großer Begeisterung auf, experimentierten mit ihr und entwickelten sie rasch weiter. Die Ergebnisse dieser Evolution wurden 2006 in der Anthologie Flash Fiction Forward zusammengefasst[4]. Auch wurde FF nun genauer und darüber hinaus als Muttergenre für weitere Subgenres, wie Microfiction und Nanofiction definiert[5].

Was kann denn nun Flash Fiction?

FF kann alles, was eine klassische Kurzgeschichte auch kann, geht allerdings nicht so gemächlich in die Breite, sondern beschränkt sich auf höchstens 750 Wörter und bietet auf 2-3 Seiten einen hocheffizienten Text, der mit minimalem Sprachaufwand und maximaler Wirksamkeit eine Geschichte erzählt. Dabei verzichtet FF aber keineswegs auf einen Plot. Bei FF ist nur alles komprimierter und auf einen einzigen Handlungs- bzw. Erlebnisstrang, einen einzigen Haupt-und Nebencharakter sowie auf einen einzigen Schauplatz verdichtet. Es gibt keine Nebenhandlungen, keine langatmigen Beschreibungen, keine Abschweifungen. Alles ist fokussiert auf ein Ereignis oder einen Gedankenstrang, der wie ein Fluss durch die Geschichte strömt, dessen Verlauf sich in einem kurzen Streckenabschnitt mit gerademal dem angrenzenden Uferstreifen und darüberliegendem Himmel zeigt, und zwar ab einer bestimmten Stelle, wo gerade etwas passierte oder soeben passiert. Wenn auch nur ein Flussabschnitt sichtbar ist, so sind in diesem Abschnitt doch alle für die Strömung wichtigen Details, wie Untiefen, Stromschnellen, Hindernisse, scharf umrissen und wir erleben, welches Drama sich abspielt, bevor der Fluss des Geschehens plötzlich hinter einer unerwarteten Biegung verschwindet. Wohin er entschwindet, das erfahren wir ebenso wenig wie woher er kam. Das bleibt ganz unserer Fantasie überlassen.

An den Autor stellt die FF-Geschichte wegen des limitierten Wortraums hohe Anforderungen. Sie zwingt ihn zu einer klaren Sprache. Die Wörter müssen treffgenau und pointiert sitzen, sich auf das Wesentliche konzentrieren, alles Redundante und Nebensächliche unterlassen und dennoch in lebendigen, kräftigen Bildern erzählen. Das bedeutet zwar Verzicht auf komplizierte Syntax und Bevorzugung einfacher Satzfolgen, aber nicht unbedingt Verzicht auf Adjektive oder Adverbien. Während im Gedicht Adjektiva Gefahr laufen, ihre Substantiva „auszubluten“, wovor Ezra Pound schon gewarnt haben soll, können sie in einer FF-Geschichte durchaus für nuancierte Ausleuchtung und Schaffung von Atmosphäre bei Beibehaltung eines hohen Erzähltempos sehr nützlich sein und manchen Nebensatz einsparen helfen.

An den Leser stellt FF die Anforderung, die gelesene Geschichte, dort wo sie bewusst vage bleibt, mutig weiter zu denken, die bedeutungsschwangeren, aber lakonisch gehaltenen Hinweise aufzugreifen, mit Fantasie auszufüllen und zu ergänzen. Manche FF-Geschichten fordern durch ihren abrupten oder inkomplett ausgestalteten Schluss geradezu auf, die Geschichte selbst zu Ende zu denken, sich eine eigene Schlussversion auszumalen. FF ist damit eine Herausforderung an eingeschliffene Rezeptionsgewohnheiten, führt den Leser aus der Welt des betreuten Denkens heraus und animiert ihn zum Selberdenken und inspiriert sein kreatives Potential.

Ob Autor oder Leser, wer einmal in den Sog von FF geraten ist, wird von der Faszination, die dieses Genre entfaltet, nicht wieder loskommen.

 

Literatur:

[1] Hazuka T.: I Didn’t Do That. In: Thomas, J.; Shapard, R. (Eds.): Flash Fiction Forward. 80 Very Short Stories. Editor’s Note. W.W. Norton Company, New York/London 2006.

[2] Esperer, A.: Im Auge lacht der Augenblick. Erich Weiß Verlag, Bamberg 2020.

[3] Bendixen, K.: Prosaminiaturen. Dossier. Poet Nr. 14. Poetenladen, Leipzig 2013.

[4] Thomas, J.; Shapard, R. (Eds.): Flash Fiction Forward. 80 Very Short Stories. Editor’s Note. W.W. Norton Company, New York/London 2006.

[5] Flash Fiction. An Essay in 75o Words. In: ARIEL-ART 4 (2020), https://ariel-art.com/discoveries-vol_4 (abgerufen am 09.01.2021).