[Moskau-Blog]: Moskauer Tage
Moskau weiß nicht, wohin es will. Nach Europa oder nach Asien? Hoch hinaus oder noch mehr in die Breite? In die Zukunft oder stark in die Vergangenheit zurück? So ist der Besuch auch lohnend, um eine Gesellschaft, ja, eine Zivilisation, die russische, an Scheidewegen kennenzulernen. Individual-Touristen ist eine Visite Moskaus dennoch nicht ohne weiteres zu empfehlen. In vielfacher Weise kann er unter die Räder geraten. Einmal unter jene der Autos, die selten bremsen. Dann, im Winter, unter die Ketten der Schneepflüge, die sich auf acht-trassigen Straßen in geschlossener Formation nähern, und deren Keilpflüge alles beiseite räumen, was hinderlich ist: Schneemassen und Passanten, die sich über die Fahrbahnen wagen. Wie antike, allerdings vermummte Wagenlenker, stehen Männer auf den Räumkolossen und scheinen nach Schneewehen und Opfern Ausschau zu halten. Der Fußgänger hat in Moskau Unterführungen zu benutzen, die zugleich Bazare sind und ein ähnliches System von Ein- und Ausgängen aufweisen, wie die U-Bahn: ein undurchschaubares. Wer den falschen Ausgang benutzt, ist fürs erste verloren.
Das Ausmaß dieser Stadt wird gleich nach der Ankunft deutlich. Auf dem Transfer vom Flughafen ins Zentrum erklärte eine schätzenswerte Schriftstellerkollegin im Anblick der endlosen Gebäudemassen: "Um die Russen kennenzulernen, müßte man an jeder Wohnungstür klingeln und dann um einen Wohnzimmertisch ins Gespräch miteinander kommen."
Ja, gerne! Aber bei geschätzten fünfzehn Millionen Einwohnern hätten wir bei diesem Verfahren jetzt erst eine dreiviertel Straße bewältigt und hätten noch vier- bis fünftausend vor uns. Dennoch, es wäre die einzig richtige Methode fürs Kennenlernen, jeden Einwohner zu fragen: "Guten Tag. Wir sind aus Deutschland. Wie geht es Ihnen? Was heißt es für Sie, Russe zu sein?"
Das Gros der Moskowiter - was für eine poetisch würzige Bezeichnung! - wäre gewiß überrascht, aber wahrscheinlich bald auskunftswillig. Die Moskowiter sind summa summarum durch die Alltagsanforderungen sehr gehetzte Menschen, aber sicherlich auch noch gerne ländlich schwatzhaft. Bei ungefähr einhundert diversen Völkerschaften, die in der Metropole wohnen, käme man aber im Gespräch auch mit perfektem Russisch nicht immer sehr weit: "Ach, Sie sind Dagestaner? Was bedeutet das für Sie und die Zukunft?"
Etliche Moskowiter sollte man, wie finstere Zeitgenossen in jedweder Weltstadt, besser überhaupt nicht ansprechen, schon gar nicht nachts in einer unbelebten Gegend. Das Völker-Gemisch bleibt undurchdringlich. Extrem schick gekleidete Passanten bahnen sich ihren Weg durch die Massen hart schuftender Menschen, bisweilen belauert von Gestalten, die mit geheimen Zielen an einen Kiosk lehnen oder sich um die Bahnhöfe herumtreiben. Hier, das meint man zumindest als Westler und womöglich fälschlicherweise, könnte man jene Rächer dingen, die man zur endgültigen Bereinigung einer Fehde auch nach Bayern losschicken könnte. - Junge Kriegsinvalide gewahrt man da und dort, oft als Straßenhändler.
Behinderte hingegen sind fast nirgendwo zu sehen. Sie gelten als nicht vorzeigbar und werden von ihren Familien im Verborgenen versorgt.
In die noch unabsehbarere Breite wächst Moskau, doch auch zunehmend in die Höhe. Die Skyline Frankfurts läßt sich am Horizont gleich mehrfach erkennen. Zum unverdaubaren Wechsel der Eindrücke gehört das Nebeneinander von Glanz und mancher Abgewrackheit. Hinter prächtigen Fassaden bröckelt in Hinterhöfen der Putz auf Müllhaufen. Die Fenster rundum sind selten geputzt. Man glaubt zu verstehen, warum: Wie kann man eine Stadt, ihre Fenster immer rein halten, wenn länger als ein halbes Jahr Schnee, Matsch und abermals Schnee sich abwechseln? Moskau kann nicht überall westlich sauber sein; (warum auch?)
Dann erfahre ich, daß Russen ihre Fenster im Grunde niemals putzen. Dies gilt seit Menschengedenken, also seitdem es Verfolgung in diesem Land gibt, als eine Schutzmaßnahme. Kein Fremder soll in die Wohnräume spähen können. Zu solchem Selbstschutz gehört es auch und maßgeblich, Nachbarn nicht zu grüßen, sogar jahrelang deutlich abweisend zu bleiben, denn jeder Fremde konnte und kann ein zaristischer, ein sowjetischer und nun schon wieder ein staatlicher Schnüffler und Denunziant sein. Autokratische Regime weiten sich auch nach unten als ängstliches, schroffes Verhalten aus. Um so unvergleichlich herzlicher dann jene Russen, deren Vertrauen man gewinnen darf.
Die Reise nach Moskau war der Literatur gewidmet. Die Stadt selbst ist in jeder Ecke, aus jeder Perspektive teils noch ungeschriebene Literatur.
Sie überwältigt durch ihre Dimension, durch die großen Reste ihrer Ehrwürdigkeit, den Kreml, die allgegenwärtigen Dichter-Denkmäler. Die Stadt befremdet durch bizarre Geschichten: In den Wintern unter der Diktatur Stalins wurden eisige Temperaturen rigoros ins Wärmere gefälscht; man fror dann sozusagen unberechtigt. Sogar bei Frost sollten die Menschen an den Verkaufsbuden, bisweilen unter künstlichen Palmen, Speise-Eis schlecken, um Wohlleben zu demonstrieren.
Moskau ist durchflutet von Schicksalen, die uns fremd sind und zutiefst erregen können. Woher stammt der Kellner mit seinem faszinierenden asiatischen Gesicht? Welche Musik hört er am liebsten, reist er oft in seine Heimat? Ist es Usbekistan? Hat er von dort seine eleganten Bewegungen? Die füllige Rezeptionistin war vorzeiten Kapitänin auf einem Wolgafrachter gewesen. Was könnte sie alles von ihren Fahrten erzählen! Wie, möchte man dauernd erfahren, halten die Russen die ungeheure Spannung aus, aus einem untergegangen Imperium zu stammen und nun ein mehr oder minder korrekt gewähltes Staatsoberhaupt gegen die allgegenwärtige Korruption predigen zu hören, deren Teil er laut Hörensagen selbst ist? Oder wollen die meisten Moskowiter nur Ruhe und ihr sicheres Einkommen? Wahrscheinlich.
Und wie gehen die Bewohner von Rußlands Hauptstadt damit um, ehedem zu Atheisten erzogen worden sein, während nun in ihrer Stadt ungefähr einhundertfünfzig Kirchen neu erbaut oder wiederhergestellt werden? Die Orthodoxie ist sichtbar und massiv zurück und trennt sich abermals nicht, als eine Glaubensgemeinschaft, vom Staat, sondern arbeitet tüchtig daran mit, das Land mit einer Art von Klerikaldespotie zu überziehen.
Das Fernsehprogramm in Moskau ist trügerisch bunt. In seiner kontrollierten Schein-Vielfalt sieht man nicht, worüber auch kritisch berichtet werden könnte. Das russische Fernsehen schwappt über von Historienfilmen. Nach der Vernichtung von Wissen um die Geschichte des Landes unter dem Kommunismus, wird nun in Heldenepen Rußlands Macht neu heraufbeschworen. Großfürsten und ihre Schlachtensiege verdrängen möglichweise kurzzeitig die Beklemmung über jetzige Mächtige und ihre mafiosen Verstrickungen.
Moskau ist ein Fragenkatalog. Eindrucksvoll ziehen von weither die Kreml-Türme die Blicke auf sich, doch hinter dem roten Mauerring, der bis ins 19. Jahrhundert weiß getüncht war, scheint sich wie eh die Verwandlung von anfangs vielleicht gutwilligen Regierenden zu selbstherrlichen Potentaten zu vollziehen. Trauig' altes Lied, also wohl ein russisches.
Dabei steht insbesondere der Kreml für eine russisch-europäische Verbundenheit. Aber nicht viele wissen, daß Zaren ehedem italienische Baumeister zur Errichtung ihrer Residenz an die Moskwa geholt hatten. Die Zinnen und Türme des Kreml sind vergrößerte Kopien des Kastells Sforza in Mailand. Außen die nach Rußland verpflanzte Lombardei, innerhalb der Kreml-Mauern die Gotteshäuser der Orthodoxie, die ihren Gläubigen stets die Möglichkeit zur inneren Versenkung vor irdischem Grauen geboten hat. Auf die Hinführung der Schutzbefohlenen zum selbstbewußten Gottesgeschöpf wird noch gewartet. Der Patriarch von Moskau sammelt lieber kostspielige Uhren und preist Unterwerfung.
Voller Lebensromane ist Moskau. Begierig saugt man jeden Gesprächsfetzen auf, versucht die Gesichter zu entschlüsseln, bastelt sich Geschichten um die Türwächter der fünften Etage unseres Hotels zusammen, wo sich unleugbar ein separates Nobel-Bordell befinden muß. Die Damen und Herren, die dort verkehren, strömen aus dem Flockentreiben herein und betreten direkt ihr Moulin Rouge. La Grande Russie. Die aristokratische Dekadenz der späten Zarenzeit haben die neuen Oligarchen jedoch längst nicht erreicht. Heutzutage scheint Reichtum eher grob oder schrill daherzukommen.
Um Literatur ging es beim bayerisch-russischen Autorentreffen. Ich möchte es nicht missen und werde es nie vergessen.
Allein der Umstand, daß es in der ehemaligen Botschaft der DDR, dem jetzigen Goethe Institut stattfand, ist einmalig. Was für eine begrüßenswerte Nachfolge, daß deutsche Kultur und Sprache nun dort vermittelt werden, wo vordem die kommunistische Geheimpolitik verhandelt wurde. Ob sämtliche sowjetischen Abhöranlage abmontiert - oder vielleicht sogar durch neue ersetzt worden sind - weiß ich nicht. Was ließe sich aus einem Goethe Institut heraushorchen?
Zwei Tage saßen wir mit russischen Autorenkollegen beisammen. Von vornherein genoß ich es, daß Schriftsteller, gleich wo auf der Welt, ziemlich problemlos miteinander debattieren können. Alle Anwesenden, wie in eine unversehens zusammengeströmten Familie, konnten nicht umhin, nach und nach ihre Literatur-, ihre Welt- und Lebensanliegen zu offenbaren oder zumindest anzudeuten.
Verblüffend wirkte es, daß nach einiger Zeit russische Kollegen bekannten, noch nie oder selten derartig offen und intensiv gemeinsam mit Fremden über Bücher, also über ihre persönlichen Botschaften geredet zu haben. Als geistige Minderheit in der Welt rückt man fraglos zusammen.
Daß deutsche Autoren häufiger von den privaten Lebenskrisen ihrer Buchgestalten sprachen, überraschte nicht. Für die russischen Kollegen hingegen waren der Tschetschenien-Krieg und seine Folgen wichtiger oder welche Identität im unruhigen Osten man als Kaukasierin besitzt.
Jedwedes Thema ließ sich endlos vertiefen. Und Zuhören erwies sich als hohes Kulturgut.
Doch als Schauplatz fortwährend Moskau: Als vor den Fenstern des Tagungsraums Schnee fiel, dachte ich daran, daß einundsiebzig Jahre zuvor die deutschen Truppen, in ebensolchem Winterwetter, ihren Angriffsring um Moskau schließen wollten. Und blutig scheiterten. Auch mein Vater, als junger Soldat, wich damals vor den Verteidigern zurück; und ich saß nun - mitten in der Stadt - friedlich im Kreis mit russischen Autoren. Auch solche Gedankensplitter gehörten zum Treffen. Dazu jedes Händeschütteln, jeder freundliche Blick, vielleicht auch eine gewisse Neugierde auf uns, auf Deutschland, zu der wir womöglich anregen konnten. Deutschland ist für Rußland nicht maßgeblich. Aber nie brach auch die innere Verbindung zwischen dem weiten und unserem so viel kleineren Land ab.
Wohin will Rußland? Brennend stellt sich diese Frage besonders vorort. Rußland besitzt alle Mittel, um modern, demokratisch und zivil zu sein.
Tüchtige Russen reparieren auch bei minus zwanzig Grad unverdrossen Dächer und Wasserleitungen. Russen haben aus ihrer fremdartig-vertrauten Welt der Menschheit vorzügliche Kunstwerke, in der Literatur, Musik, geschenkt. Warum nur scheint das wohl größtenteils so West-durstige Land abermals in alte Mißwirtschaft und Repression zu versinken? Jede Lesung aus meinem Roman 'Bildnis eines Unsichtbaren' war, wie ich erfuhr, möglicherweise strafbar, weil in dem Buch auch gleichgeschlechtliche Liebe zu ihrem Recht kommt.
Während unseres Aufenhalts bahnten sich weitere bedrückende Gängelungen und Vorschriften an. Liberalen Universitäten Rußlands wurden Geldmittel gekürzt. Jenes 'Herodes'-Gesetz war in Vorbereitung, das die Adoption russischer Waisen durch US-Amerikaner verbietet, - aus kleinlichstem politischen Kalkül heraus. Und die Geistlichkeit sekundierte: russische Kinder, die unorthodox in Amerika aufwüchsen, würden ohnehin in die Hölle kommen. Mittlerweile könnte ich aus meinem Roman innerhalb der Russischen Föderation überhaupt nicht mehr öffentlich vortragen und mit Zuhörern darüber diskutieren. Nach neuestem Gesetz würde ich durch die Buchthematik die öffentliche Ordnung gefährden, also Rußland mit in den Abgrund stürzen, und empfindlich bestraft werden.
Warum nur, bei einem so mächtigen Land, solche altmodische Unterdrückungslust, und zwar in vielen Bereichen? Aus Traditionen heraus? Auch Rußland besitzt bessere, die für die Zukunft taugen. Zum Beispiel den freien, toleranten Moskauer Kaufmannsgeist der vorletzten Jahrhundertwende, das Bürgertum Sankt Petersburgs, das weltoffen war und moderne Errungenschaften genoß.
Es ist derzeit oft schmerzhaft, Rußland zu schätzen.
Es sollte vornehmlich eine Freude sein, es zu lieben.
Rußland ist uns fremd und kann uns bereichern.
Und wir könnten es loben für seine Kraft und Vielfalt. Und würden es gerne tun. Rußlands freizügiges Wohlergehen wäre auch ein Teil des unsrigen.
Wie reizend Rußland sein kann, voller unvermutetem Charme, erfuhr ich an einem Moskauer Schnellimbiß, wo ich mir, ziemlich ausgehungert, rasch einen Cheeseburger kaufen wollte. Doch wie sollte ich auf Russisch, in Kyrillisch einen Cheeseburger bestellen, den ich nur an seiner Abbildung erkannte? Ich bat auf Englisch einen jungen Moskowiter hinter mir, ob er mir einen Cheeseburger bestellten könnte. Der junge Mann wirkte über meine Frage etwas verwirrt, nickte dann und bestellte für mich: "Cheesebürrger!"
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Moskau weiß nicht, wohin es will. Nach Europa oder nach Asien? Hoch hinaus oder noch mehr in die Breite? In die Zukunft oder stark in die Vergangenheit zurück? So ist der Besuch auch lohnend, um eine Gesellschaft, ja, eine Zivilisation, die russische, an Scheidewegen kennenzulernen. Individual-Touristen ist eine Visite Moskaus dennoch nicht ohne weiteres zu empfehlen. In vielfacher Weise kann er unter die Räder geraten. Einmal unter jene der Autos, die selten bremsen. Dann, im Winter, unter die Ketten der Schneepflüge, die sich auf acht-trassigen Straßen in geschlossener Formation nähern, und deren Keilpflüge alles beiseite räumen, was hinderlich ist: Schneemassen und Passanten, die sich über die Fahrbahnen wagen. Wie antike, allerdings vermummte Wagenlenker, stehen Männer auf den Räumkolossen und scheinen nach Schneewehen und Opfern Ausschau zu halten. Der Fußgänger hat in Moskau Unterführungen zu benutzen, die zugleich Bazare sind und ein ähnliches System von Ein- und Ausgängen aufweisen, wie die U-Bahn: ein undurchschaubares. Wer den falschen Ausgang benutzt, ist fürs erste verloren.
Das Ausmaß dieser Stadt wird gleich nach der Ankunft deutlich. Auf dem Transfer vom Flughafen ins Zentrum erklärte eine schätzenswerte Schriftstellerkollegin im Anblick der endlosen Gebäudemassen: "Um die Russen kennenzulernen, müßte man an jeder Wohnungstür klingeln und dann um einen Wohnzimmertisch ins Gespräch miteinander kommen."
Ja, gerne! Aber bei geschätzten fünfzehn Millionen Einwohnern hätten wir bei diesem Verfahren jetzt erst eine dreiviertel Straße bewältigt und hätten noch vier- bis fünftausend vor uns. Dennoch, es wäre die einzig richtige Methode fürs Kennenlernen, jeden Einwohner zu fragen: "Guten Tag. Wir sind aus Deutschland. Wie geht es Ihnen? Was heißt es für Sie, Russe zu sein?"
Das Gros der Moskowiter - was für eine poetisch würzige Bezeichnung! - wäre gewiß überrascht, aber wahrscheinlich bald auskunftswillig. Die Moskowiter sind summa summarum durch die Alltagsanforderungen sehr gehetzte Menschen, aber sicherlich auch noch gerne ländlich schwatzhaft. Bei ungefähr einhundert diversen Völkerschaften, die in der Metropole wohnen, käme man aber im Gespräch auch mit perfektem Russisch nicht immer sehr weit: "Ach, Sie sind Dagestaner? Was bedeutet das für Sie und die Zukunft?"
Etliche Moskowiter sollte man, wie finstere Zeitgenossen in jedweder Weltstadt, besser überhaupt nicht ansprechen, schon gar nicht nachts in einer unbelebten Gegend. Das Völker-Gemisch bleibt undurchdringlich. Extrem schick gekleidete Passanten bahnen sich ihren Weg durch die Massen hart schuftender Menschen, bisweilen belauert von Gestalten, die mit geheimen Zielen an einen Kiosk lehnen oder sich um die Bahnhöfe herumtreiben. Hier, das meint man zumindest als Westler und womöglich fälschlicherweise, könnte man jene Rächer dingen, die man zur endgültigen Bereinigung einer Fehde auch nach Bayern losschicken könnte. - Junge Kriegsinvalide gewahrt man da und dort, oft als Straßenhändler.
Behinderte hingegen sind fast nirgendwo zu sehen. Sie gelten als nicht vorzeigbar und werden von ihren Familien im Verborgenen versorgt.
In die noch unabsehbarere Breite wächst Moskau, doch auch zunehmend in die Höhe. Die Skyline Frankfurts läßt sich am Horizont gleich mehrfach erkennen. Zum unverdaubaren Wechsel der Eindrücke gehört das Nebeneinander von Glanz und mancher Abgewrackheit. Hinter prächtigen Fassaden bröckelt in Hinterhöfen der Putz auf Müllhaufen. Die Fenster rundum sind selten geputzt. Man glaubt zu verstehen, warum: Wie kann man eine Stadt, ihre Fenster immer rein halten, wenn länger als ein halbes Jahr Schnee, Matsch und abermals Schnee sich abwechseln? Moskau kann nicht überall westlich sauber sein; (warum auch?)
Dann erfahre ich, daß Russen ihre Fenster im Grunde niemals putzen. Dies gilt seit Menschengedenken, also seitdem es Verfolgung in diesem Land gibt, als eine Schutzmaßnahme. Kein Fremder soll in die Wohnräume spähen können. Zu solchem Selbstschutz gehört es auch und maßgeblich, Nachbarn nicht zu grüßen, sogar jahrelang deutlich abweisend zu bleiben, denn jeder Fremde konnte und kann ein zaristischer, ein sowjetischer und nun schon wieder ein staatlicher Schnüffler und Denunziant sein. Autokratische Regime weiten sich auch nach unten als ängstliches, schroffes Verhalten aus. Um so unvergleichlich herzlicher dann jene Russen, deren Vertrauen man gewinnen darf.
Die Reise nach Moskau war der Literatur gewidmet. Die Stadt selbst ist in jeder Ecke, aus jeder Perspektive teils noch ungeschriebene Literatur.
Sie überwältigt durch ihre Dimension, durch die großen Reste ihrer Ehrwürdigkeit, den Kreml, die allgegenwärtigen Dichter-Denkmäler. Die Stadt befremdet durch bizarre Geschichten: In den Wintern unter der Diktatur Stalins wurden eisige Temperaturen rigoros ins Wärmere gefälscht; man fror dann sozusagen unberechtigt. Sogar bei Frost sollten die Menschen an den Verkaufsbuden, bisweilen unter künstlichen Palmen, Speise-Eis schlecken, um Wohlleben zu demonstrieren.
Moskau ist durchflutet von Schicksalen, die uns fremd sind und zutiefst erregen können. Woher stammt der Kellner mit seinem faszinierenden asiatischen Gesicht? Welche Musik hört er am liebsten, reist er oft in seine Heimat? Ist es Usbekistan? Hat er von dort seine eleganten Bewegungen? Die füllige Rezeptionistin war vorzeiten Kapitänin auf einem Wolgafrachter gewesen. Was könnte sie alles von ihren Fahrten erzählen! Wie, möchte man dauernd erfahren, halten die Russen die ungeheure Spannung aus, aus einem untergegangen Imperium zu stammen und nun ein mehr oder minder korrekt gewähltes Staatsoberhaupt gegen die allgegenwärtige Korruption predigen zu hören, deren Teil er laut Hörensagen selbst ist? Oder wollen die meisten Moskowiter nur Ruhe und ihr sicheres Einkommen? Wahrscheinlich.
Und wie gehen die Bewohner von Rußlands Hauptstadt damit um, ehedem zu Atheisten erzogen worden sein, während nun in ihrer Stadt ungefähr einhundertfünfzig Kirchen neu erbaut oder wiederhergestellt werden? Die Orthodoxie ist sichtbar und massiv zurück und trennt sich abermals nicht, als eine Glaubensgemeinschaft, vom Staat, sondern arbeitet tüchtig daran mit, das Land mit einer Art von Klerikaldespotie zu überziehen.
Das Fernsehprogramm in Moskau ist trügerisch bunt. In seiner kontrollierten Schein-Vielfalt sieht man nicht, worüber auch kritisch berichtet werden könnte. Das russische Fernsehen schwappt über von Historienfilmen. Nach der Vernichtung von Wissen um die Geschichte des Landes unter dem Kommunismus, wird nun in Heldenepen Rußlands Macht neu heraufbeschworen. Großfürsten und ihre Schlachtensiege verdrängen möglichweise kurzzeitig die Beklemmung über jetzige Mächtige und ihre mafiosen Verstrickungen.
Moskau ist ein Fragenkatalog. Eindrucksvoll ziehen von weither die Kreml-Türme die Blicke auf sich, doch hinter dem roten Mauerring, der bis ins 19. Jahrhundert weiß getüncht war, scheint sich wie eh die Verwandlung von anfangs vielleicht gutwilligen Regierenden zu selbstherrlichen Potentaten zu vollziehen. Trauig' altes Lied, also wohl ein russisches.
Dabei steht insbesondere der Kreml für eine russisch-europäische Verbundenheit. Aber nicht viele wissen, daß Zaren ehedem italienische Baumeister zur Errichtung ihrer Residenz an die Moskwa geholt hatten. Die Zinnen und Türme des Kreml sind vergrößerte Kopien des Kastells Sforza in Mailand. Außen die nach Rußland verpflanzte Lombardei, innerhalb der Kreml-Mauern die Gotteshäuser der Orthodoxie, die ihren Gläubigen stets die Möglichkeit zur inneren Versenkung vor irdischem Grauen geboten hat. Auf die Hinführung der Schutzbefohlenen zum selbstbewußten Gottesgeschöpf wird noch gewartet. Der Patriarch von Moskau sammelt lieber kostspielige Uhren und preist Unterwerfung.
Voller Lebensromane ist Moskau. Begierig saugt man jeden Gesprächsfetzen auf, versucht die Gesichter zu entschlüsseln, bastelt sich Geschichten um die Türwächter der fünften Etage unseres Hotels zusammen, wo sich unleugbar ein separates Nobel-Bordell befinden muß. Die Damen und Herren, die dort verkehren, strömen aus dem Flockentreiben herein und betreten direkt ihr Moulin Rouge. La Grande Russie. Die aristokratische Dekadenz der späten Zarenzeit haben die neuen Oligarchen jedoch längst nicht erreicht. Heutzutage scheint Reichtum eher grob oder schrill daherzukommen.
Um Literatur ging es beim bayerisch-russischen Autorentreffen. Ich möchte es nicht missen und werde es nie vergessen.
Allein der Umstand, daß es in der ehemaligen Botschaft der DDR, dem jetzigen Goethe Institut stattfand, ist einmalig. Was für eine begrüßenswerte Nachfolge, daß deutsche Kultur und Sprache nun dort vermittelt werden, wo vordem die kommunistische Geheimpolitik verhandelt wurde. Ob sämtliche sowjetischen Abhöranlage abmontiert - oder vielleicht sogar durch neue ersetzt worden sind - weiß ich nicht. Was ließe sich aus einem Goethe Institut heraushorchen?
Zwei Tage saßen wir mit russischen Autorenkollegen beisammen. Von vornherein genoß ich es, daß Schriftsteller, gleich wo auf der Welt, ziemlich problemlos miteinander debattieren können. Alle Anwesenden, wie in eine unversehens zusammengeströmten Familie, konnten nicht umhin, nach und nach ihre Literatur-, ihre Welt- und Lebensanliegen zu offenbaren oder zumindest anzudeuten.
Verblüffend wirkte es, daß nach einiger Zeit russische Kollegen bekannten, noch nie oder selten derartig offen und intensiv gemeinsam mit Fremden über Bücher, also über ihre persönlichen Botschaften geredet zu haben. Als geistige Minderheit in der Welt rückt man fraglos zusammen.
Daß deutsche Autoren häufiger von den privaten Lebenskrisen ihrer Buchgestalten sprachen, überraschte nicht. Für die russischen Kollegen hingegen waren der Tschetschenien-Krieg und seine Folgen wichtiger oder welche Identität im unruhigen Osten man als Kaukasierin besitzt.
Jedwedes Thema ließ sich endlos vertiefen. Und Zuhören erwies sich als hohes Kulturgut.
Doch als Schauplatz fortwährend Moskau: Als vor den Fenstern des Tagungsraums Schnee fiel, dachte ich daran, daß einundsiebzig Jahre zuvor die deutschen Truppen, in ebensolchem Winterwetter, ihren Angriffsring um Moskau schließen wollten. Und blutig scheiterten. Auch mein Vater, als junger Soldat, wich damals vor den Verteidigern zurück; und ich saß nun - mitten in der Stadt - friedlich im Kreis mit russischen Autoren. Auch solche Gedankensplitter gehörten zum Treffen. Dazu jedes Händeschütteln, jeder freundliche Blick, vielleicht auch eine gewisse Neugierde auf uns, auf Deutschland, zu der wir womöglich anregen konnten. Deutschland ist für Rußland nicht maßgeblich. Aber nie brach auch die innere Verbindung zwischen dem weiten und unserem so viel kleineren Land ab.
Wohin will Rußland? Brennend stellt sich diese Frage besonders vorort. Rußland besitzt alle Mittel, um modern, demokratisch und zivil zu sein.
Tüchtige Russen reparieren auch bei minus zwanzig Grad unverdrossen Dächer und Wasserleitungen. Russen haben aus ihrer fremdartig-vertrauten Welt der Menschheit vorzügliche Kunstwerke, in der Literatur, Musik, geschenkt. Warum nur scheint das wohl größtenteils so West-durstige Land abermals in alte Mißwirtschaft und Repression zu versinken? Jede Lesung aus meinem Roman 'Bildnis eines Unsichtbaren' war, wie ich erfuhr, möglicherweise strafbar, weil in dem Buch auch gleichgeschlechtliche Liebe zu ihrem Recht kommt.
Während unseres Aufenhalts bahnten sich weitere bedrückende Gängelungen und Vorschriften an. Liberalen Universitäten Rußlands wurden Geldmittel gekürzt. Jenes 'Herodes'-Gesetz war in Vorbereitung, das die Adoption russischer Waisen durch US-Amerikaner verbietet, - aus kleinlichstem politischen Kalkül heraus. Und die Geistlichkeit sekundierte: russische Kinder, die unorthodox in Amerika aufwüchsen, würden ohnehin in die Hölle kommen. Mittlerweile könnte ich aus meinem Roman innerhalb der Russischen Föderation überhaupt nicht mehr öffentlich vortragen und mit Zuhörern darüber diskutieren. Nach neuestem Gesetz würde ich durch die Buchthematik die öffentliche Ordnung gefährden, also Rußland mit in den Abgrund stürzen, und empfindlich bestraft werden.
Warum nur, bei einem so mächtigen Land, solche altmodische Unterdrückungslust, und zwar in vielen Bereichen? Aus Traditionen heraus? Auch Rußland besitzt bessere, die für die Zukunft taugen. Zum Beispiel den freien, toleranten Moskauer Kaufmannsgeist der vorletzten Jahrhundertwende, das Bürgertum Sankt Petersburgs, das weltoffen war und moderne Errungenschaften genoß.
Es ist derzeit oft schmerzhaft, Rußland zu schätzen.
Es sollte vornehmlich eine Freude sein, es zu lieben.
Rußland ist uns fremd und kann uns bereichern.
Und wir könnten es loben für seine Kraft und Vielfalt. Und würden es gerne tun. Rußlands freizügiges Wohlergehen wäre auch ein Teil des unsrigen.
Wie reizend Rußland sein kann, voller unvermutetem Charme, erfuhr ich an einem Moskauer Schnellimbiß, wo ich mir, ziemlich ausgehungert, rasch einen Cheeseburger kaufen wollte. Doch wie sollte ich auf Russisch, in Kyrillisch einen Cheeseburger bestellen, den ich nur an seiner Abbildung erkannte? Ich bat auf Englisch einen jungen Moskowiter hinter mir, ob er mir einen Cheeseburger bestellten könnte. Der junge Mann wirkte über meine Frage etwas verwirrt, nickte dann und bestellte für mich: "Cheesebürrger!"