Ein Nachruf zum Tod von Stephan Kellner (1956-2020)

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Dr. Stephan Kellner, 2019. Foto: Peter Czoik

Am 14. Oktober 2020 starb überraschend Dr. Stephan Kellner, Leiter des Bavarica-Referats der Bayerischen Staatsbibliothek, Mitinitiator und Projektleiter des Literaturportals Bayern. Über seinen plötzlichen Tod sind alle, die Stephan Kellner persönlich kannten, tief bestürzt. Auch die Mitarbeiter*innen des Literaturportals Bayern trauern um ihn. Sein Verlust hinterlässt tiefe fachliche, soziale, aber vor allem menschliche Lücken. Ein persönlicher Nachruf von Friedrich Ulf Röhrer-Ertl.

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All dead, all dead
But I should not grieve
In time it comes to everyone

All dead, all dead
But in hope I breathe
Of course I don't believe
You're dead and gone

- Brian May

 

No night at the Opera

Ich glaube, als es um Queen ging, hatte er mich. Wir sprachen vor Jahren über unsere musikalischen Helden und als ich Freddie Mercury erwähnte, lächelte er und warf ein, ein Freund hätte ihn mal ganz am Anfang von Freddies Zeit in München in ein Privatkonzert der Band mitgenommen. Kleiner Kreis, der Sound war schlecht, die Begeisterung groß. Aber – leider – habe er Queen so gar nicht verstanden und ist irgendwann mittendrin gegangen.

Es zerriss mir Nachgeborenen das Herz, aber ich konnte ihn verstehen. Ich verstehe die meisten Lieder von Queen aus der Zeit auch nicht. Aber ein Mensch, der mit solcher Nonchalance ein Konzert von Freddie Mercury verlassen konnte und es obendrein erzählte, das wusste ich, das ist ein Mensch, dem man vertrauen kann.

Kaffee, Kekse, keine Klassik

Stephan war ruhig, freundlich, verschmitzt. Ein gebürtiger Münchener (und wie selten findet man das hier), ein Tausendsassa, ein Vernetzer. Aber vor allem: ein Mensch.

Der Mensch Stephan war aber auch eine unermüdliche Arbeitsmaschine. Dazu brauchte er ein paar Dinge, um zu funktionieren: starken, guten Kaffee (Fairtrade aus Kolumbien), preußische Kekse aus Hannover (wie oft bedauerten wir, dass an Leibniz auch in Bayern kein Weg vorbeiführte; zum Ausgleich für die bavaristische Seele gab es aber auch manchmal Croissants vom Dallmayr) – und Gespräche. Aber die kommen zwangsläufig, wenn man schon die anderen Dinge hat. Stephan und ich sprachen viel über den Tag verteilt. Kein Thema wurde vermieden, keines war zu trivial. Im Aussprechen wurden Ideen zu Gedanken, sie wurden geordnet, geprüft, sie wurden zur Realität. Schnell war Literatur bestellt, im Internet recherchiert, Stephan griff zum Hörer und rief den ein oder anderen Menschen an, und aus einem Gedanken war ein Projekt geworden. Eine faszinierende Zeit jedesmal.

Ansonsten waren wir für die Kopfhörer dankbar und für die Musik, die man mit ihnen am PC hören konnte. Stephan war ja eigentlich ein gebildeter Hörer: klassische Musik, Leonard Cohen, Bob Dylan. Als Dylan den Literaturnobelpreis gewann, war Stephan glücklich. Aber zum Arbeiten mussten es meistens die White Stripes sein.

„Heute brauche ich White Stripes, sonst wird der Tag nichts mehr“, pflegte er zu sagen. Und dann wurde die Musik lauter gedreht. Probieren Sie es einmal aus – De Stijl oder ein anderes Album können den Geist wirklich befreien.

Foto: Peter Czoik

Es war einmal ein Literaturportal

Stephan war vom Herkommen her Historiker, aber sein Herz galt der Kultur. Kunst, Musik, Oper, Theater, Literatur. Es gab kein Feld, für das er sich nicht interessierte.

Meine ersten E-Mails zum Literaturportal Bayern stammen von 2009. Damals erarbeitete ich mit Stephan erste Konzepte zu einem Literaturportal, aber zu einem, das wie die Bayerische Landesbibliothek Online, die ich damals als Redakteur mitbetreute, mehr aus Enthusiasmus zweier Sprach- und Literaturliebhaber bestand als aus konkreter, harter Finanzierung. Anders ausgedrückt: Wir fragten uns, wie wir möglichst viel Literatur ins Netz bringen konnten, selbst in dem Fall, dass es kaum Geld dafür gäbe.

Ich schaue mir gerade, wie ich diese Zeilen schreibe, die alten Konzepte an. Nein, wirklich gut waren sie nicht. Wir wussten das und als wir sie vorstellten, wussten es die anderen auch. Und Stephan, unnachahmlich mit seinem Charme, seinem ruhigen Enthusiasmus, aber auch seinen festen Zielen, überzeugte trotzdem. Gut bewachte Töpfe öffneten sich, Partner wie die Monacensia fanden sich – und aus dem kleinen Konzept von damals wurde bald über die Jahre „Das Blaue vom Himmel“ in seiner jetzigen Form.

Mission Menschlichkeit

Ich denke, Stephans Geheimnis waren seine guten, stillen Eigenschaften. Er war in allem neugierig, ohne verletzend zu sein. Freundlich, ohne beliebig zu sein. Er besaß einen klaren ethischen Kompass, und er liebte Argumente. Es war nicht leicht, ihn zu überzeugen, aber er mochte es, überzeugt zu werden. Schließlich auch das: Er konnte vergeben, er belastete sein Herz nicht mit Streit und Konflikten. Er vermied sie nicht, aber er wusste, wie schnell sich die Seele vergiften kann, wenn es nicht mehr um Argumente geht, sondern nur noch darum, Recht zu haben.

Was ihm auch fehlte, war Eitelkeit. Stephan begnügte sich gerne damit, ein Ideengeber, ein Ermöglicher zu sein. Seinen Namen musste er nicht überall lesen, mehr freute er sich über ein ehrliches Dankeschön.

Er war mein Referatsleiter, mein Vorgesetzter, für fünf Jahre mein Büronachbar – aber vor allem war er mein Freund.

Ein paar Tage vor seinem Tod saßen wir noch zusammen, tranken Kaffee wie immer, aßen Kekse wie immer und entwickelten Gedanken für sein letztes Arbeitsjahr, seinen anstehenden Ruhestand. Stephan hatte viele Ideen. Immer wieder sagte er: „Und das machen wir dann zusammen.“

Am Ende waren es so viele Projekte, dass wir einander angrinsten und uns fragten, ob für so viel denn noch Zeit wäre.

Es war keine Zeit mehr. Diesen Mittwoch haben wir ihn begraben, unter den grünen Bäumen des Waldfriedhofs, nicht allzu weit von Lena ChristPaul Heyse und Frank Wedekind. Er wird dort seine Ruhe finden, die er im Leben nur selten suchte.

Gräber berühmter Münchner Literat*innen: Frank Wedekind und Lena Christ. Fotos: Peter Czoik

Eines seiner letzten Projekte war die Idee, eine kleine Autobiographie zu schreiben. Stephan, der so viel erlebt hatte, so viele Menschen kannte, der ein Peripatetiker der Münchener Kulturgeschichte gewesen ist, war sich unsicher, ob er das alles aufschreiben sollte. Aber dieses Mal war ich es, der ihn überzeugt hatte.

Und wie gerne hätte ich sie gelesen. So bleiben nur Erinnerungen. Die Zeit wird sie glätten, aber sie wird sie nicht nehmen können.

Mach's gut, Du grauer Pumuckl! Wir sehen uns wieder.