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„Schwefelwasser. Das Wunder von Bad Wiessee“. Leseprobe von Reinjan Mulder

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Vom wilden Quell zum Brunnentempel: 1914 wurde die Quelle nach dem amtierenden bayerischen König Ludwig III. benannt. (c) Gemeindearchiv Bad Wiessee

Der Journalist, Literaturkritiker und Autor Dr. Reinjan Mulder (* 1949) studierte Philosophie und Jura und arbeitete an der Universität Amsterdam und am Nationalen Büro für Soziale und Kulturelle Planung. 2011 erschien sein Roman Coffee Company, im selben Jahr erwarb das Rijksmuseum sein konzeptuelles Fotokunstwerk Objectief Nederland. 2019 wurde Mulder in die „Schriftstellergalerie“ des Niederländischen Literaturmuseums in Den Haag aufgenommen.

2019 erschien auch sein Buch Zwavelwater über die Geschichte Jod-Schwefelbades Bad Wiessee, einst begründet vom niederländischen Bergbauingenieur und Pionier der Erdölindustrie Adrian Stoop. 2020 wurde es unter dem Titel Schwefelwasser vom Volk Verlag in der Reihe „Vergessenes Bayern“ verlegt. Das Buch ist ein wichtiges Zeugnis der Orts- und Regionalgeschichte im Tegernseer Tal. Herausgeberin ist Dr. Ingvild Richardsen, die im Rahmen des Pilotprojekts TELITO auch eine „LiteraTour“ zur Geschichte des Jod-Schwefelbades entwickelt.

In dem vorliegenden Auszug aus Schwefelwasser begibt sich Reinjan Mulder auf Spurensuche, reist ein zweites Mal nach Bad Wiessee und zurück in den Sommer des Jahres 1966. Was ist echtes Idyll – was verblasst unter dem forschenden Blick des Alters?

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Hotel Quellenhof

Ein halbes Jahrhundert später kehre ich nach Bad Wiessee zurück – es ist das erste Mal, seit ich 1966 mit meinen Schulkameraden dort war. Ich tue das nicht nur, weil ich wieder auf die Aueralm wandern und von dort zum Hirschberg hinüberschauen möchte, an den ich noch oft zurückdenke. Nein, diesmal möchte ich auch mehr über das niederländische Kurbad in Deutschland erfahren – und über mich selbst, den jungen Mann, der ich damals war.

Inzwischen weiß ich aus Adriaan Stoops Biografie, in wessen Ferienhaus ich damals als 17-Jähriger gewohnt habe, und mit diesem Wissen im Gepäck will ich mir Bad Wiessee noch einmal genauer ansehen.

Der Mann, der 1926 das Haus am Hang erbauen hatte lassen, war nicht einfach nur irgendein unbekannter, reicher Onkel einer Schulfreundin aus der Alfa-Klasse gewesen, er war ein niederländischer Schatzgräber, einer der Mitbegründer des späteren Shell-Unternehmens, der Mann, dem es auch in Bad Wiessee gelungen war, ein niederländisches Imperium aufzubauen.

Was für ein Imperium war das gewesen und was war davon noch übrig? Mit einem Freund war ich hin und wieder in Süddeutschland wandern gegangen und dann hatte ich ihm oft von der wunderbaren Woche erzählt, die ich mit meinen Schulfreunden in Bad Wiessee verbracht hatte. Dabei wurde mir bewusst, wie wichtig diese Woche für mich gewesen war: Dort in Bad Wiessee hatte mein Leben mit Deutschland begonnen. Später habe ich über ein deutsches Thema promoviert, ich habe für NRC Handelsblad über Deutschland geschrieben, Deutsche kennengelernt und es gab kein Jahr mehr, in dem ich nicht nach Deutschland fuhr.

Schon bevor ich in Bad Wiessee ankomme, merke ich, wie verwirrend es ist, mit über 60 Jahren an einen Ort zurückzukehren, an dem man vor einem halben Leben zum letzten Mal gewesen ist. Man weiß viel mehr als damals und zugleich empfindet man vielleicht viel weniger. Der Zauber, der Reiz des Neuen, dem ich 1966 erlegen war, war verflogen – doch weil ich jetzt viel mehr über Deutschland und Adriaan Stoop wusste, gewann auch alles an Tiefe. Deutschland war für mich jetzt viel weniger die unheilvolle Quelle allen Übels, gleichzeitig hatte ich nun aber auch das Drama, das sich hier abgespielt hat, schärfer vor Augen. Würde meine Mutter noch leben und könnte ich ihr wieder Ansichtskarten schicken, so wären mir acht Sätze diesmal viel zu wenig. Heute könnte ich Bände darüber schreiben, was mir durch den Kopf geht.

Allein schon die Zugfahrt nimmt mich jetzt, wo ich weiß, welche Rolle die deutsche Eisenbahn während des Krieges gespielt hat, viel mehr mit als damals. Während die Bahnhöfe von Düsseldorf, Köln und München, in denen mein Zug 1966 hielt, für mich damals bloß schlecht beleuchtete, nächtliche Orte waren, an denen uniformierte Männer mit viel zu großen Mützen, die sie zu Übermenschen machen sollten, auf- und abgingen, kann ich heute kein deutsches Bahnhofsgelände und auf der Fahrt keine alte, gotische Aufschrift auf einem Stellwerk und keinen verfallenen Lokomotivschuppen mehr sehen, ohne dass an meinem geistigen Auge Güterzüge voller ausgehungerter Menschen vorüberziehen. Diese Bilder sind für immer auf meiner Netzhaut eingebrannt.

Links: Adriaan Stoop, Bergbauingenieur, Unternehmer und Inhaber des Jod-Schwefelbads (c) Bayerisches Wirtschaftsarchiv. Rechts: Klein-Texas im Tegernseer Tal. Das Foto zeigt den Bau des 5. Bohrturms auf einer hölzernen Plattform (c) Museum Tegernseer Tal, Buch zum 40-jährigen Dienstjubiläum von André Driessen als Badedirektor, 1954.

Je länger der Krieg zurückliegt, desto mehr Geschichten kenne ich darüber. Mittlerweile habe ich mehrere hundert Bücher über Deutschland gelesen. Was mir mein Vater auf den deutschen Bahnhöfen über die „Hurra-Mützen“ erzählt hat, ist mir noch immer gegenwärtig, aber in der Zwischenzeit sind noch so viele andere Assoziationen hinzugekommen.

Ab meinem 18. Lebensjahr ist mir Deutschland immer vertrauter geworden – wie eine zweite Heimat, nach der ich mich sehne, wenn ich in den Niederlanden bin. Auf immer mehr Wandertouren habe ich die Romantik sanft ansteigender Alpenwiesen, die mit kleinen Segelbooten befahrenen Bergseen in der Abendstimmung und die großen, eindrucksvollen Holzhäuser lieben gelernt und unzählige deutsche Wörter sind mir – gewollt oder ungewollt – ans Herz gewachsen: Tal, Hütte, See, Bach, Wald, Wandern. All das kann ich nicht mehr aus meinem Leben wegdenken.

Dadurch, dass ich die Briefe meiner Mutter an meine Oma und meine eigenen Ansichtskarten wiedergefunden habe, ist mir klar geworden, wie unwirklich die Situation 1966 für mich – diesen frühreifen Jungen vom Lande, der in der Tanzschule seiner Mutter unter älteren Mädchen aufgewachsen war – gewesen sein muss:

Durch einen Zufall hatte ich mich plötzlich in einer deutschen Berglandschaft wiedergefunden. Heute beflügelt diese Vergangenheit meine Neugier auf die Wirklichkeit von Haus Jungbrunnen.

Der Biografie von Adriaan Stoop habe ich entnommen, dass dieses Landhaus 1926 von dem Architekten Alois Degano erbaut wurde und dass es nach Stoops Tod ein verbindendes Element für seine Familie geblieben ist. Außerdem war das Haus einst ein Teil der niederländischen Kuranstalt und manche Kosten wurden von den deutschen Badegästen gedeckt, die aus allen Teilen des Landes nach Bad Wiessee kamen, um sich zu erholen. Alle, die zur Familie gehörten, brauchten nur bei der Badeanstalt Bescheid zu geben, schon konnten sie sich für einen Pappenstiel in unserem Landhaus einquartieren. Die Badeanstalt sorgte dann dafür, dass der Kachelofen bei der Ankunft geheizt war, die Betten wurden gemacht und gegen Bezahlung konnte man sogar den Kühlschrank in der Küche befüllen lassen.

Natürlich ist mir klar, dass das Haus Jungbrunnen in meiner Erinnerung größer (und wichtiger) geworden ist als es wirklich war. Aber was bedeutet „als es wirklich war“? In unserer Erinnerung ist unsere Jugend doch immer anders als sie wirklich war. Aber andererseits sind doch auch unsere Erinnerungen eine Art von Wirklichkeit. Für mich, den Gymnasiasten von 1966, war unser Haus in der Gartensiedlung, mit seinem Vorder- und Hinterzimmer und dem Atelier hinter dem Haus, in dem meine Mutter übte, ein kleiner Palast. Doch als wir nach ihrem Tod mit dem Makler durch das Haus gingen, war von diesem Palast so gut wie nichts mehr übrig, und erst anderthalb Jahre später fand sich ein Käufer.

Vielleicht war bei genauerem Hinsehen alles in Deutschland weniger außergewöhnlich als meine Mutter das in ihren Briefen dargestellt hatte. Besonders an dem Lederhosen-Blasorchester, das Reinets Familie in Bad Wiessee besessen haben soll, habe ich zu zweifeln begonnen. War das möglich? In dem Pavillon im Kurpark wurde zwar ab und an Musik gespielt, aber wem konnte in einem fremden Land ein ganzes Kurorchester gehören? Doch inzwischen ist auch das zu einer Art Wirklichkeit für mich geworden.

Inzwischen war ich mir auch gar nicht mehr sicher, ob es das Haus Jungbrunnen überhaupt noch gab. Vor meiner Abreise habe ich auf der Website der Tageszeitung Münchner Merkur gelesen, dass das Haus abgerissen werden könnte. Es sei an Deutsche verkauft worden, die auf dem Grundstück Wohnungen errichten wollten. Die Schutzgemeinschaft Tegernseer Tal habe daraufhin gegen einen Abriss protestiert, weil Haus Jungbrunnen für das „Ortsbild prägend“ sein sollte – aber war es das wirklich?

Dieser Schutzgemeinschaft zufolge ist der Architekt von Haus Jungbrunnen ein wichtiger Vertreter des süddeutschen Heimatstils, daher sei das Haus in der Tegernseer Gegend von großer Bedeutung.

Haus Jungbrunnen ist also mehr als irgendein Ferienhaus einer reichen, niederländischen Familie, in der ich zufällig jemanden kannte.

Es wurde von einem bekannten Architekten, in einem für die Gegend charakteristischen Stil entworfen:

Ortsbild prägende Zeugen unserer Kulturgeschichte, die den eigentlichen Charme, den Reiz, das Besondere unserer „Heimat“ausmachen, werden ausschließlich gewinnorientierten Investoren zu Liebe ausgelöscht.

Gäste vor dem neu errichteten Quellentempel der ersten Heilquelle im Jahr 1913; die Angestellten im Hintergrund wirken in ihren weißen Kitteln geradezu engelhaft. (c) Bayerisches Wirtschaftsarchiv

Es gibt noch etwas anderes, was ich diesmal in Bad Wiessee gerne tun möchte: Nun möchte ich Adriaan Stoops Badekur, der ich beim letzten Mal recht ängstlich aus dem Weg gegangen war, am eigenen Leib erfahren. Ob es das freundliche, weiße Badehaus am Rande des Parks wohl noch gab? Und würde ich mich nach dieser Jodschwefelwasserkur wieder wie der 17-Jährige fühlen, der ich 1966 gewesen war?

Könnte ich mich vollständig regenerieren – eine körperliche Wiedergeburt?

Und könnte dann, so wie auf dem Gemälde von Cranach, alles wieder von vorne beginnen? Mit einem neuen, zweiten Leben, anderen Eltern, einem besseren Studium, einer schöneren Wohnung und einem Beruf, bei dem man nicht von heute auf morgen auf die Straße gesetzt werden kann?

Vielleicht könnte ich dann noch meine frühere Nachbarsfreundin heiraten. Wenn man in einem Jungbrunnen gebadet hat, sollte das doch alles wieder möglich sein.

Doch ich will hier auch noch die Wirklichkeit des niederländischen Kurbads ergründen, das ich damals besucht habe. Seit 1966 ist eine ganze Flut an Studien und Dokumentationen über Deutschland publiziert worden und daher weiß ich jetzt, dass das, was damals für uns „das Böse“ in Deutschland war, im tiefsten Süden des Landes entstanden ist. Bayern soll früher die Heimat des revanchistischen Nationalismus gewesen sein. Schon in den Zwanzigerjahren hatte Hitler München zur „Hauptstadt der Bewegung“ ernannt, was sich später auch auf die weitere Umgebung der Stadt ausgewirkt hat. Der deutsche Nationalismus, an den Hitler anknüpfte, war ein ländliches Phänomen, das den Begriff Heimat kultivierte und sich in Lederhosen und Dirndln kleidete. Deshalb zogen die Anhänger der Bewegung schon in den frühen Dreißigerjahren in die kleinen Städte und Dörfer im Umkreis von München – und weil Bayern nirgendwo ländlicher ist als in den Alpen, befleckten sie auch die Gegend rund um den Tegernsee.

Wie hat sich das auf das niederländische Jod-Schwefelbad in Bad Wiessee ausgewirkt? Wie passte Adriaan Stoops Badeanstalt zu Hitlers Plänen für ein „Tausendjähriges Reich“?

Ich habe ein Zimmer im Hotel Quellenhof gebucht – zum einen wegen seines Namens, zum anderen, weil es nicht weit vom Haus Jungbrunnen entfernt liegt. Das Hotel befindet sich unterhalb des Adalbert-Stifter-Wegs und von der Vorderseite hat man eine gute Aussicht auf den Franzosenwald, der hinter unserem Landhaus anfängt. Außerdem soll sich laut Website im Souterrain ein kleines, beheiztes Hallenbad befinden, in dem sanft beleuchtete Fresko-Figuren auf die Schwimmer herabsehen, und gerade jetzt, im Februar, wo der See noch zugefroren ist und die Wanderwege in den Bergen zugeschneit und vereist sein können, finde ich das verlockend.

Trotzdem beschleicht mich auf dem letzten Stück der Fahrt, im Regionalzug von München nach Gmund, Unsicherheit. Wie würde es sein, die Orte wiederzusehen, an denen ich Deutschland vor so langer Zeit kennen – und lieben – gelernt habe? Auf der Website des Hotels habe ich besondere Angebote für „ältere Besucher“ entdeckt.

So sind etwa für Personen, die unter Hautproblemen, Atembeschwerden und Rheuma leiden, „tägliche Behandlungen“ im Jod-Schwefelbad von Bad Wiessee möglich. Das ist doch schon mal was. Das Kurbad von Adriaan Stoop gibt es also noch und offenbar gibt es jetzt auch ein breiteres Angebot an Badebehandlungen als früher – vor allem für Menschen in meinem Alter. Neben den Wannenbädern, die Kees und Leo 1966 genommen hatten, gibt es jetzt auch „Sprühbäder“, bei denen das Wasser für eine Viertelstunde am Körper herabrinnt; außerdem werden nun „Augenbäder“ und „Inhalationen“ angeboten.

Auch 50 Jahre später laufen die Geschäfte mit dem von Stoop aus den Tiefen heraufgepumpten Schwefelwasser in Bad Wiessee gut.

Als der Zug langsamer und der Wald an beiden Seiten der kurvigen Einspurbahn lockerer wird, sehe ich plötzlich zwischen den Bäumen Wasser in der Dämmerung glitzern. Der See! Langsam fahren wir über den beschrankten Bahnübergang und bleiben dann, in einer Kurve vor dem kleinen Chalet, das noch immer der Bahnhof von Gmund ist, stehen.

So wie damals bin ich auch heute der einzige, der aussteigt. Und so wie damals gehe ich, jetzt allerdings mit einem Rollkoffer, in Richtung Parkplatz. Und wieder sehe ich, nun bei Sonnenuntergang, das Postamt mit dem Wandbild auf der anderen Straßenseite.

[...]

 

Aus: Reinjan Mulder: Schwefelwasser. Das Wunder von Bad Wiessee. Eine Zeitreise, Volk Verlag 2020, € 20.