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12.10.2020, 08:10 Uhr
Lea Wittig
Text & Debatte
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Über den Bestseller „Normale Menschen" von Sally Rooney

Sally Rooney ist ein neuer Star der Literaturszene. Nach ihrem Debütroman Gespräche mit Menschen (2017) gelang der 29-jährigen Schriftstellerin aus Irland mit ihrem zweiten Roman Normale Menschen 2018 der internationale Durchbruch. Allein in den USA wurden in den ersten vier Monaten nach der Veröffentlichung über 64 000 Hardcover-Exemplare verkauft. Im Jahr 2020 folgte die Fernsehadaption. Die Schauspieler*innen der beiden Hauptcharaktere wurden über Nacht zu den beliebtesten Neuentdeckungen der britischen Filmwelt. Jetzt ist der Roman Normale Menschen auch in Deutschland erschienen.

Er wird entweder geliebt oder gehasst. Die Meinungen der Leser*innen scheinen weit auseinander zu liegen; die deutsche Kritikerszene reagiert dagegen eher einhellig - streng. Aber wie auch immer man zu dem Buch steht, Rooney schafft, was bisher noch nicht vielen zeitgenössischen Autor*innen gelungen ist: Der Roman, der von der Beziehung zwischen Marianne und Connell erzählt, ist ganz unaufdringlich auch Porträt einer Generation. Mit Zeitsprüngen fächert Rooney die Beziehung zweier junger Menschen auf, die aus unterschiedlichen sozialen Klassen stammen. Diese Reibung ist die Triebfeder und das Schmerzzentrum des Romans. Wer also eine kitschige Romanze à la David Nicholls' One Day erwartet, wird enttäuscht. Zum Glück.

Der Roman beginnt, als Marianne Sheridan und Connell Waldron mit dem letzten Jahr in der High School zu kämpfen haben. Mit ihnen treffen zwei recht klischeehafte Welten aufeinander: Marianne ist gut in der Schule, stammt aus einer reichen Familie, liest Proust, ist jedoch sozial isoliert von ihren Mitschülern und wird von ihrer Familie, vor allem dem großen Bruder, emotional misshandelt. Connell hingegen wächst in einer Arbeiterfamilie auf, ist dafür aber in der Schule die beliebte Sportskanone. Seine Mutter ist die Putzfrau der Sheridans, und so kommt es, dass sich die beiden Teenager des Öfteren über den Weg laufen, obwohl die Freundesgruppe von Connell den Kontakt zur Außenseiterin Marianne nie erlauben würde. Heimlich beginnen sie eine Liebesbeziehung, haben zum ersten Mal Sex. Als sie sich jedoch in der Öffentlichkeit begegnen, wird Marianne von Connell ignoriert, denn er fürchtet das Urteil seiner Freunde. Schließlich zerbricht die Beziehung unter dem Gewicht der unterschiedlichen Herkunft.

 

Suche mit geschlossenen Augen

Aber die Geschichte der beiden ist damit noch lange nicht zu Ende. Als sie die kleine Stadt schließlich hinter sich lassen und nach Dublin ans Trinity College gehen, sind plötzlich ihre Rollen vertauscht. Marianne erfreut sich neuer Popularität, während Connell mit dem Verlust der seinen zu kämpfen hat. Der einstige Sunnyboy der Kleinstadt fühlt sich in Dublin verloren. Marianne kann dagegen endlich ihrem Außenseitum entfliehen. Beiden gemein ist, dass sie das Leben in der Großstadt als ungewohnt kalt und fremd empfinden. Nicht nur Connell, auch Marianne strebt hier nach sozialer Akzeptanz. So nähern sie sich wieder an. Mittlerweile wissen beide, wie es ist, nicht dazuzugehören, kennen die Angst, nicht genug zu sein. Ihr Leben wird immer noch von sozialen Erwartungen bestimmt, vor denen es kein Entkommen zu geben scheint.

 

Sally Rooney © Patrick Bolger

 

Marianne und Connell sind nicht perfekt. Sie sagen oft nicht, was sie denken, sie sind nicht ehrlich, sie geben zu viel auf die Meinung anderer und stehen deshalb oft nicht zu einander. Auch wenn Mariannes Vorliebe für Masochismus, Connells heldenhafte Abrechnung mit Mariannes Bruder und seine kritische Stellungnahme zur Buchbranche, die ironischerweise von „Selbstvermarktung“ gelenkt werde, den Roman vereinzelt etwas absurd wirken lassen, so geht es am Ende doch um etwas ganz anderes: Depression, häusliche Gewalt, Zukunftsängste und soziale Unsicherheiten. Die Charaktere in Normale Menschen haben Fehler und Macken. Sie sind verletzlich und verletzend. Sie sind auf der Suche und machen die Augen zu. Sind sie deshalb normal? Will Rooney einer westlichen Generation, die im Überfluss aufwächst und dabei mehr Zweifel und Ängste als ihre Elterngeneration hat, einen Spiegel vorhalten und zeigen, es geht uns doch allen so?

Normale Menschen ist kein Buch, das Spannung aufbaut, inspirieren oder großartig unterhalten soll. Der neutrale Schreibstil wirkt in manchen Passagen so distanziert, dass man das Gefühl hat, die klaren Parataxen werden emotionslos aneinandergereiht und den Figuren vor die Füße geschmissen. Aber vielleicht ist das genau der Punkt: Es ist, als wäre Rooney selbst vorsichtig und wolle als Erzählinstanz nicht zu viel von sich preisgeben, so wie ihre Hauptfiguren, die mit mangelnder Kommunikation zu kämpfen haben.

 

In eine WhatsApp passt kein Herz

Inhaltlich schafft es der Roman noch expliziter, die Gefühle und Gedanken einer Generation junger Erwachsener einzufangen, und deshalb sollte man ihm eine Chance geben. Viel zu oft werden ja die Probleme junger Erwachsener nur belächelt. Etwa, dass es nie mehr Möglichkeiten zur Kommunikation gab, dank Internet und sozialen Medien, aber die Generation von Marianne und Connell trotzdem unter Verständigungsproblemen leidet. Als würden all die Smartphones eine innere Barriere schaffen, wie eine dritte Instanz, die beim Dialog vorhanden sein muss, um vieles überhaupt ausdrücken zu können. In einer WhatsApp sein Herz auszuschütten fällt mitunter leichter, als es seinem Partner persönlich zu sagen. Aber der Preis kann hoch sein, wenn Nähe und Unmittelbarkeit verkümmern. Dieses Dilemma ist so realistisch dargestellt, dass man sich als Teil der Twitter-Generation geradezu ertappt fühlt.

Der Roman besticht daneben durch seine subtile Kritik an unserem konstanten Wunsch nach Anerkennung und Akzeptanz. Ist auch die Angst, alleine dazustehen, die Folge einer immer stärker vernetzten Welt? Die wiederholten Trennungen des jungen Paares hängen zumindest mit Gruppenzwang, soziale Erwartungen und Unsicherheiten zusammen. Viele Leser*innen werden sich damit identifizieren können. Der Roman schafft Stellvertreter für eine gesamte Altersgruppe von suchenden, zweifelnden jungen Menschen.

Am Schluss bleibt offen, ob Marianne und Connell eine Zukunft haben und wo es die beiden hin verschlägt. Übertragen auf ihre Generation passt das Ende trotzdem gut. Globale Pandemie, Klimawandel, Arbeitslosigkeit trotz Hochschulabschluss. In diesen Zeiten lässt sich kaum vorhersagen, was in ein paar Wochen sein wird; wie soll man da wissen, wie das Leben in fünf Jahren aussieht? Das offene Ende drückt diese Unklarheit aus. Manchen wird das frustrieren. Nach so viel sachlichem Realismus, gegen den das eigene Leben geradezu wie ein Fantasieabenteuer wirken mag, wünscht man sich fast ein illusorisches Happy End. Normale Menschen lässt einen mit gemischten Gefühlen zurück.

Ein Trostpflaster: Auch wenn der Leser nicht erfahren wird, wie es mit dem komplizierten On-Off-Liebespaar weitergeht (es sei denn, Rooney wird aufgrund des Erfolgs der Verfilmung gezwungen, eine Fortsetzung zu schreiben), so kann sich der eine oder andere Optimist doch freuen. Denn immerhin finden Connell und Marianne im Laufe des Buches wiederholt in der Beziehung die notwendige Stütze, wenn alles andere unsicher erscheint. Dann haben sich die beiden, im Jetzt, und es ist vielleicht unwichtig, was in einem Monat, einem Jahr oder einem Jahrzehnt passiert.

 

Lea Wittig, 1999 geboren, ist in Ingolstadt aufgewachsen. Sie studiert Englische Literatur in London und betreibt den literarischen Blog leareadsclassics.blog.