Hans Buchner: Zwei Gedichte
Die 139. Ausgabe der Zeitschrift Literatur in Bayern widmet sich dem Schwerpunktthema In Worten wohnen. Pia-Elisabeth Leuschner, Mitarbeiterin des Lyrik Kabinetts in München, schreibt darin über zwei Gedichte aus Hans Buchners neuem Lyrikband.
*
Auf der Terrasse
Hinter den Augen
eine Halde aus
kleinteiligem Müll
zusammengelesen
in der letzten halben Stunde.
Wenn der Blick
über den Rand der Zeitung
hinausgleitet,
hält sich
das kräftige Blau der Glockenblume,
das satte Gelb der Goldruten
eine halbe Minute oben
auf dem Kamm des
Unrats, um dann ins
Bodenlose zu rutschen.
Aus: Blitzlichter bei abnehmendem Mond. Gedichte 2007-2017, Vindobona 2019, S. 13.
Jemand liest Zeitung. Über die entfalteten Seiten hinweg fasst sein Blick kurz zwei Natureindrücke (die subtil durch Alliterationen und Assonanzen zum Leuchten gebracht wer den: »Blau der Glockenblume«, »Gelb der Goldruten« mit den wiederkehrenden Vokalen ›u‹ und ›u‹). Indem er den Blick wieder senkt, entgleitet ihm diese Positivität in eine von der Druckerschwärze ausgelöste innere Dunkelheit. Kaum merklich werden dabei metaphorisches und eigentliches Sehen verwoben: Die satten Komplementärfarben der Blüten sind als tatsächlich gesehene vorzustellen; der kleinteilige Müll dagegen (bzw. der Unrat) – den man spontan auch als Teil der Gartenszenerie und dort als Umweltverschmutzung zu visualisieren bereit ist – liegt» hinter den Augen«, im Denken des Sprechers, und ist im Wortsinn zusammengelesen, denn er metaphorisiert die Zeitungsnachrichten. Wenn am Ende das Blühen vom »Kamm des Unrats« ins Bodenlose rutscht, möchten wir uns gern beruhigen: Da liest doch jemand nur Zeitung. Und doch: Wer bringt sie weg, die Assoziationen und Fragen – was an Grauen in der Zeitung steht, wie lang es solche leuchtenden Natureindrücke noch geben wird ... angesichts von ...?
Die meisten der Gedichte Hans Buchners machen aufwendige Erläuterungen glücklich überflüssig. Sie werfen Lichtblitze auf Alltagssituationen und erhellen deren existentiellen Kern – mit einer Achtsamkeit des Wahrnehmens und Reflektierens, die durch ein ganzes Leben hindurch gereift sind und aus dem Verzicht auf sprachformale Experimente eine nachhallende Unmittelbarkeit gewinnen. Der »abnehmende Mond« des Bandtitels bezeichnet dabei metaphorisch einen Zeitpunkt spät in einem Menschenleben, den der Dichter ohne jede Larmoyanz oder Selbstschonung auslotet: das Schwinden der eigenen Kräfte oder veränderte Reaktionen Jüngerer werden ebenso unerbittlich beobachtet wie bedrohliche Entwicklungen von Umweltzerstörung, sozialer Verrohung oder rasanter Technisierung. Freuden der Natur oder liebender Intimität im Alter werden in bewegter Dankbarkeit gefeiert.
Das folgende Gedicht emblematisiert das Generationenverhältnis dieser Phase. Es variiert Aspekte der Spiegelverkehrung (von Wortfügungen, im Hinblick auf das Laufen oder Erklären der Welt); das Komma im Gedichttitel steht für die Spiegelachse, an der die Umkehrung stattfindet. Wer selbst miterlebt, wie neue Begriffe die Welt verändern (und wer verfolgt, wohin die Personen des Gedichts schauen), kann es unmittelbar nachvollziehen: das Glück jenes fragilen Moments, wenn sich Blicke über den Abgrund der Lebenszeit-Differenz hinweg begegnen – auf Augenhöhe.
Enkelopa, Opaenkel
Noch trage ich ihn auf meinen Schultern,
wenn er müde ist, zeige ihm
Dinge, die er nicht kennt.
Bald werde ich ihn bitten,
langsamer zu gehen, mir
neugeborene Begriffe zu deuten.
Wenn er mir dann ins Gesicht
schaut statt ins Schaufenster nebenan,
werde ich glücklich sein.
Aus: Blitzlichter bei abnehmendem Mond, S. 107.
Hans Buchner, geb. 1938 in Basel, promoviert in Philosophie, Gymnasiallehrer, leitete den Gutachterausschuss für Schulbibliotheken in Bayern, 19 Jahre Koordinator für Korea bei amnesty international. Der erste Gedichtband Quersumme erschien 2006. Blitzlichter ist erhältlich bei der Buchhandlung am Partnachplatz, Albert-Roßhaupter Str. 73a, 82373 München.
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Die 139. Ausgabe der Zeitschrift Literatur in Bayern widmet sich dem Schwerpunktthema In Worten wohnen. Pia-Elisabeth Leuschner, Mitarbeiterin des Lyrik Kabinetts in München, schreibt darin über zwei Gedichte aus Hans Buchners neuem Lyrikband.
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Auf der Terrasse
Hinter den Augen
eine Halde aus
kleinteiligem Müll
zusammengelesen
in der letzten halben Stunde.
Wenn der Blick
über den Rand der Zeitung
hinausgleitet,
hält sich
das kräftige Blau der Glockenblume,
das satte Gelb der Goldruten
eine halbe Minute oben
auf dem Kamm des
Unrats, um dann ins
Bodenlose zu rutschen.
Aus: Blitzlichter bei abnehmendem Mond. Gedichte 2007-2017, Vindobona 2019, S. 13.
Jemand liest Zeitung. Über die entfalteten Seiten hinweg fasst sein Blick kurz zwei Natureindrücke (die subtil durch Alliterationen und Assonanzen zum Leuchten gebracht wer den: »Blau der Glockenblume«, »Gelb der Goldruten« mit den wiederkehrenden Vokalen ›u‹ und ›u‹). Indem er den Blick wieder senkt, entgleitet ihm diese Positivität in eine von der Druckerschwärze ausgelöste innere Dunkelheit. Kaum merklich werden dabei metaphorisches und eigentliches Sehen verwoben: Die satten Komplementärfarben der Blüten sind als tatsächlich gesehene vorzustellen; der kleinteilige Müll dagegen (bzw. der Unrat) – den man spontan auch als Teil der Gartenszenerie und dort als Umweltverschmutzung zu visualisieren bereit ist – liegt» hinter den Augen«, im Denken des Sprechers, und ist im Wortsinn zusammengelesen, denn er metaphorisiert die Zeitungsnachrichten. Wenn am Ende das Blühen vom »Kamm des Unrats« ins Bodenlose rutscht, möchten wir uns gern beruhigen: Da liest doch jemand nur Zeitung. Und doch: Wer bringt sie weg, die Assoziationen und Fragen – was an Grauen in der Zeitung steht, wie lang es solche leuchtenden Natureindrücke noch geben wird ... angesichts von ...?
Die meisten der Gedichte Hans Buchners machen aufwendige Erläuterungen glücklich überflüssig. Sie werfen Lichtblitze auf Alltagssituationen und erhellen deren existentiellen Kern – mit einer Achtsamkeit des Wahrnehmens und Reflektierens, die durch ein ganzes Leben hindurch gereift sind und aus dem Verzicht auf sprachformale Experimente eine nachhallende Unmittelbarkeit gewinnen. Der »abnehmende Mond« des Bandtitels bezeichnet dabei metaphorisch einen Zeitpunkt spät in einem Menschenleben, den der Dichter ohne jede Larmoyanz oder Selbstschonung auslotet: das Schwinden der eigenen Kräfte oder veränderte Reaktionen Jüngerer werden ebenso unerbittlich beobachtet wie bedrohliche Entwicklungen von Umweltzerstörung, sozialer Verrohung oder rasanter Technisierung. Freuden der Natur oder liebender Intimität im Alter werden in bewegter Dankbarkeit gefeiert.
Das folgende Gedicht emblematisiert das Generationenverhältnis dieser Phase. Es variiert Aspekte der Spiegelverkehrung (von Wortfügungen, im Hinblick auf das Laufen oder Erklären der Welt); das Komma im Gedichttitel steht für die Spiegelachse, an der die Umkehrung stattfindet. Wer selbst miterlebt, wie neue Begriffe die Welt verändern (und wer verfolgt, wohin die Personen des Gedichts schauen), kann es unmittelbar nachvollziehen: das Glück jenes fragilen Moments, wenn sich Blicke über den Abgrund der Lebenszeit-Differenz hinweg begegnen – auf Augenhöhe.
Enkelopa, Opaenkel
Noch trage ich ihn auf meinen Schultern,
wenn er müde ist, zeige ihm
Dinge, die er nicht kennt.
Bald werde ich ihn bitten,
langsamer zu gehen, mir
neugeborene Begriffe zu deuten.
Wenn er mir dann ins Gesicht
schaut statt ins Schaufenster nebenan,
werde ich glücklich sein.
Aus: Blitzlichter bei abnehmendem Mond, S. 107.
Hans Buchner, geb. 1938 in Basel, promoviert in Philosophie, Gymnasiallehrer, leitete den Gutachterausschuss für Schulbibliotheken in Bayern, 19 Jahre Koordinator für Korea bei amnesty international. Der erste Gedichtband Quersumme erschien 2006. Blitzlichter ist erhältlich bei der Buchhandlung am Partnachplatz, Albert-Roßhaupter Str. 73a, 82373 München.