Gedanken zu 60 Jahren bundesweiter Vorlesewettbewerb
Die 139. Ausgabe der Zeitschrift Literatur in Bayern widmet sich dem Schwerpunktthema In Worten wohnen. Thomas Maier-Bandomer schreibt darin über die Freude des Vorlesens.
*
Lange ist es her, dass mir als Kind vorgelesen wurde, meist von meiner Mutter manchmal vom Vater. Das Vorlesen war dabei immer mit sehr bequemen Körperhaltungen verbunden, ausgestreckt oder zusammengerollt auf dem Wohnzimmersofa, oft natürlich im Bett. Und in mir entstand das, was ich viel später als »Kopfkino« zu bezeichnen lernte: Die Figuren, Fabelwesen und Märchengestalten wurden lebendig, sprachen zu mir, ich litt mit ihnen und freute mich umso mehr über geglückte Rettungsversuche und tollkühne Taten. Davon losgelöst entwickelten einzelne Phrasen eine Eigendynamik, Däumlings neugieriges Eindringen in ein Mauseloch etwa blieb mir mit »ein Dieb, ein Dieb, so sprach die Maus / und zog ihn rückwärts wieder raus« dauerhaft in Erinnerung.
Eine Generation später, selbst Vater und Vorleser geworden, lernte ich das Spannungsfeld des lauten abendlichen Lesens zwischen Freude und eigener Erschöpfung kennen, so manches Mal zwischen den Zeilen hinüberdämmernd in die Welt des Traums, noch ehe das Kind schlief, Papa, das versteh' ich nicht, Papa, weiterlesen! Das Gespür für die innere Kohärenz literarischer Texte war dem Drei- oder Vierjährigen durchaus gegeben, da kam man nicht aus. Auch eigenmächtiges Kürzen bekannter Vorlesegeschichten ging gar nicht, Zensur war unerwünscht und wurde mit allen Mitteln bekämpft. Gut so!
Seit gut einem Jahrzehnt hat das Vorlesen neu an Bedeutung gewonnen. Das Hörbuch ist neben das Printmedium Buch getreten, auf langen Reisen, täglichen Autofahrten, aber auch zu Hause öffnet es neue Kanäle für Literatur. Das Kopfkino wird dadurch vielleicht etwas blasser, dafür erlebt der Hörende eine erste Interpretation des Textes durch die Art des Vortrags, eingelesen von guten Sprechern oder den Autoren selbst. So werden Nichtleser zu Literaturfans, wenn Lesen dem Hören Platz macht, das gesprochene Wort zwar zunächst rezeptiv, aber doch intensiv aufgenommen und verinnerlicht wird.
Wenn nun Menschen einander laut vorlesen, einfach so, im halb öffentlichen Raum, ist dies ein Glücksfall. Seit sechzig Jahren gibt es eine besondere Art des Rezitierens von literarischen Texten, geübt und praktiziert von jährlich mehr als einer halben Million Kindern und Jugendlichen: den bundesweiten Vorlesewettbewerb, initiiert von der Stiftung Buchkultur und Leseförderung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels im Jahr 1959. Dabei ist »Wettbewerb« eigentlich kein passender Name. Zwar gibt es in jeder Runde des Vorlesens offizielle Sieger, als Klassensieger in den sechsten Jahrgangsstufen aller deutschen Schulen, dann als Schulsieger, und schließlich in den regionalen Entscheidungen, die bis zum Bundesfinale in Berlin führen, jedes Jahr im Juni. Aber in Wirklichkeit gewinnen bei diesem besonderen Wettbewerb alle: die lesenden Kinder, die Familien, die Mitschüler und die Zuhörer – ja, sogar die Jury, die mit viel mehr Freude als Strenge die Wertungspunkte vergibt. Seit 16 Jahren darf ich den Wettbewerb auf Kreisebene mitorganisieren, eine kleine Jury von Literaturfreunden und -profis zusammenstellen, um dann ein gutes Dutzend junger Leserinnen und Leser im Alter von elf bis 13 Jahren zu empfangen, die ihre Geschichten zum Besten geben. Zuvor haben sie Textstellen ausgewählt, nach Höhepunkten gesucht, das szenische Lesen geübt und damit sich und die Ihren schon einmal gut unterhalten. Im Wettbewerb selbst treten sie zunächst aufgeregt an den Lesetisch, doch sobald sie sitzen und die ersten Sätze des lauten Vortrags geschafft sind, gewinnt die Literatur, zeigt die Lesefantasie ihre Macht: Dann erwachen die Figuren zum Leben, die Märchengestalten und Fabelwesen, wie damals, in unserer eigenen Kindheit. Dann wird das Publikum mitgenommen auf die Lesereise durch Geschichten und Geschichte, in die Nachbarwohnung nebenan, in fantastische Länder und fremde Wirklichkeiten, und immer auch zu sich selbst. Die Spannung der Kinder, wie gut man denn selbst lesen könne im Wettbewerb, weicht schnell der Spannung auf die nächste Geschichte, die nächsten Abenteuer. Jugendbuchklassiker wie Krabat, die Rote Zora oder Timm Thaler sind beliebter Vorlesestoff, aber auch Neuerscheinungen, ernste Texte von Krieg und Vertreibung, Schicksale der Geflüchteten, Geschichten vom Ankommen und Weiterziehen. Für die Zuhörer ist die Versuchung groß, all dies gleich selbst lesen zu wollen. Vorlesen steckt an.
Am Ende entscheidet die Jury im Sinn des Wettbewerbs, wer mit dem meisten Textverständnis vorgetragen, den Text am besten betont und interpretiert hat. Es werden zwei Texte gelesen, zunächst der selbst gewählte, dann ein unbekannter, der von den Organisatoren ausgewählt wurde. Einzelne Lesefehler zählen nicht, niemand muss fehlerfrei lesen, denn darum geht es nicht beim Vorlesen. Die Spannung weiterzugeben, sprachliche Bilder durch das Sprechen entstehen zu lassen, da rauf kommt es an, und das gelingt stets allen Vorlesern. Einem Kind aber gelingt es noch ein bisschen besser als den anderen, und das wird dann zum Sieger gekürt, der in die nächste Runde ziehen darf. Wer die Finalrunden erreicht, auf den warten Sprechrollen beim Rundfunk oder Einladungen zum Mitwirken bei Hörbüchern. So schließt sich ein Kreis. Enttäuschte Kinder, die nicht siegten, habe ich kaum einmal erlebt. Der Gewinn des Zuhörens und die Erkenntnis, aktiver Teil dieses Literaturevents zu sein, sind allemal stärker.
Und diese Erlebnisse sind es auch, auf die ich setze in der zunehmend digitalisierten Welt, entgegen allem Kulturpessimismus: Wer das Vorlesen erlebt, und erst recht, wer selbst vorliest, der wird die Begeisterung für Literatur weitergeben, das Kopfkino bei anderen Menschen entstehen lassen, ihnen fantastische Welten eröffnen und den Weg weisen zur eigenen Fantasie.
Thomas Maier-Bandomer, Lehrer für Deutsch und Geschichte, organisierte zusammen mit seiner Kollegin Katja Böhm auch dieses Jahr den Vorlesewettbewerb am Gymnasium Starnberg sowie für den Landkreis Starnberg. In der Jury waren außerdem Elisabeth Carr von den Kunsträumen am See und llona Obermeier, Leiterin der Stadtbücherei Starnberg.
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Die 139. Ausgabe der Zeitschrift Literatur in Bayern widmet sich dem Schwerpunktthema In Worten wohnen. Thomas Maier-Bandomer schreibt darin über die Freude des Vorlesens.
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Lange ist es her, dass mir als Kind vorgelesen wurde, meist von meiner Mutter manchmal vom Vater. Das Vorlesen war dabei immer mit sehr bequemen Körperhaltungen verbunden, ausgestreckt oder zusammengerollt auf dem Wohnzimmersofa, oft natürlich im Bett. Und in mir entstand das, was ich viel später als »Kopfkino« zu bezeichnen lernte: Die Figuren, Fabelwesen und Märchengestalten wurden lebendig, sprachen zu mir, ich litt mit ihnen und freute mich umso mehr über geglückte Rettungsversuche und tollkühne Taten. Davon losgelöst entwickelten einzelne Phrasen eine Eigendynamik, Däumlings neugieriges Eindringen in ein Mauseloch etwa blieb mir mit »ein Dieb, ein Dieb, so sprach die Maus / und zog ihn rückwärts wieder raus« dauerhaft in Erinnerung.
Eine Generation später, selbst Vater und Vorleser geworden, lernte ich das Spannungsfeld des lauten abendlichen Lesens zwischen Freude und eigener Erschöpfung kennen, so manches Mal zwischen den Zeilen hinüberdämmernd in die Welt des Traums, noch ehe das Kind schlief, Papa, das versteh' ich nicht, Papa, weiterlesen! Das Gespür für die innere Kohärenz literarischer Texte war dem Drei- oder Vierjährigen durchaus gegeben, da kam man nicht aus. Auch eigenmächtiges Kürzen bekannter Vorlesegeschichten ging gar nicht, Zensur war unerwünscht und wurde mit allen Mitteln bekämpft. Gut so!
Seit gut einem Jahrzehnt hat das Vorlesen neu an Bedeutung gewonnen. Das Hörbuch ist neben das Printmedium Buch getreten, auf langen Reisen, täglichen Autofahrten, aber auch zu Hause öffnet es neue Kanäle für Literatur. Das Kopfkino wird dadurch vielleicht etwas blasser, dafür erlebt der Hörende eine erste Interpretation des Textes durch die Art des Vortrags, eingelesen von guten Sprechern oder den Autoren selbst. So werden Nichtleser zu Literaturfans, wenn Lesen dem Hören Platz macht, das gesprochene Wort zwar zunächst rezeptiv, aber doch intensiv aufgenommen und verinnerlicht wird.
Wenn nun Menschen einander laut vorlesen, einfach so, im halb öffentlichen Raum, ist dies ein Glücksfall. Seit sechzig Jahren gibt es eine besondere Art des Rezitierens von literarischen Texten, geübt und praktiziert von jährlich mehr als einer halben Million Kindern und Jugendlichen: den bundesweiten Vorlesewettbewerb, initiiert von der Stiftung Buchkultur und Leseförderung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels im Jahr 1959. Dabei ist »Wettbewerb« eigentlich kein passender Name. Zwar gibt es in jeder Runde des Vorlesens offizielle Sieger, als Klassensieger in den sechsten Jahrgangsstufen aller deutschen Schulen, dann als Schulsieger, und schließlich in den regionalen Entscheidungen, die bis zum Bundesfinale in Berlin führen, jedes Jahr im Juni. Aber in Wirklichkeit gewinnen bei diesem besonderen Wettbewerb alle: die lesenden Kinder, die Familien, die Mitschüler und die Zuhörer – ja, sogar die Jury, die mit viel mehr Freude als Strenge die Wertungspunkte vergibt. Seit 16 Jahren darf ich den Wettbewerb auf Kreisebene mitorganisieren, eine kleine Jury von Literaturfreunden und -profis zusammenstellen, um dann ein gutes Dutzend junger Leserinnen und Leser im Alter von elf bis 13 Jahren zu empfangen, die ihre Geschichten zum Besten geben. Zuvor haben sie Textstellen ausgewählt, nach Höhepunkten gesucht, das szenische Lesen geübt und damit sich und die Ihren schon einmal gut unterhalten. Im Wettbewerb selbst treten sie zunächst aufgeregt an den Lesetisch, doch sobald sie sitzen und die ersten Sätze des lauten Vortrags geschafft sind, gewinnt die Literatur, zeigt die Lesefantasie ihre Macht: Dann erwachen die Figuren zum Leben, die Märchengestalten und Fabelwesen, wie damals, in unserer eigenen Kindheit. Dann wird das Publikum mitgenommen auf die Lesereise durch Geschichten und Geschichte, in die Nachbarwohnung nebenan, in fantastische Länder und fremde Wirklichkeiten, und immer auch zu sich selbst. Die Spannung der Kinder, wie gut man denn selbst lesen könne im Wettbewerb, weicht schnell der Spannung auf die nächste Geschichte, die nächsten Abenteuer. Jugendbuchklassiker wie Krabat, die Rote Zora oder Timm Thaler sind beliebter Vorlesestoff, aber auch Neuerscheinungen, ernste Texte von Krieg und Vertreibung, Schicksale der Geflüchteten, Geschichten vom Ankommen und Weiterziehen. Für die Zuhörer ist die Versuchung groß, all dies gleich selbst lesen zu wollen. Vorlesen steckt an.
Am Ende entscheidet die Jury im Sinn des Wettbewerbs, wer mit dem meisten Textverständnis vorgetragen, den Text am besten betont und interpretiert hat. Es werden zwei Texte gelesen, zunächst der selbst gewählte, dann ein unbekannter, der von den Organisatoren ausgewählt wurde. Einzelne Lesefehler zählen nicht, niemand muss fehlerfrei lesen, denn darum geht es nicht beim Vorlesen. Die Spannung weiterzugeben, sprachliche Bilder durch das Sprechen entstehen zu lassen, da rauf kommt es an, und das gelingt stets allen Vorlesern. Einem Kind aber gelingt es noch ein bisschen besser als den anderen, und das wird dann zum Sieger gekürt, der in die nächste Runde ziehen darf. Wer die Finalrunden erreicht, auf den warten Sprechrollen beim Rundfunk oder Einladungen zum Mitwirken bei Hörbüchern. So schließt sich ein Kreis. Enttäuschte Kinder, die nicht siegten, habe ich kaum einmal erlebt. Der Gewinn des Zuhörens und die Erkenntnis, aktiver Teil dieses Literaturevents zu sein, sind allemal stärker.
Und diese Erlebnisse sind es auch, auf die ich setze in der zunehmend digitalisierten Welt, entgegen allem Kulturpessimismus: Wer das Vorlesen erlebt, und erst recht, wer selbst vorliest, der wird die Begeisterung für Literatur weitergeben, das Kopfkino bei anderen Menschen entstehen lassen, ihnen fantastische Welten eröffnen und den Weg weisen zur eigenen Fantasie.
Thomas Maier-Bandomer, Lehrer für Deutsch und Geschichte, organisierte zusammen mit seiner Kollegin Katja Böhm auch dieses Jahr den Vorlesewettbewerb am Gymnasium Starnberg sowie für den Landkreis Starnberg. In der Jury waren außerdem Elisabeth Carr von den Kunsträumen am See und llona Obermeier, Leiterin der Stadtbücherei Starnberg.