Die Mappe eines Großvaters: Hubert Vogl und seine Schwabacher Drucke
14 Stationen mit 16 farbigen Linoldrucken heißt die Mappe, mit der Hubert Vogl 1974 seinem Großvater Michael Vogl (1869–1948) ein Denkmal setzt: Bauernsohn aus dem Bayerischen Wald, Rosshändler über die böhmische Grenze hinweg, Schmuggler, ziemlich das Gegenteil von liebenswürdig, ein Urviech.
Der Enkel, 1933 in Straubing geboren, 2012 in Schwabach gestorben, kraftvoll und souverän, aber auch sensibel und verletzlich, Gymnasiallehrer, sehr gebildet nicht nur in Kunstgeschichte, vor allem aber renommierter Illustrator, 1972 Begründer der Schwabacher Drucke, die er mit einer Handpresse herstellt, als Graphiker, Texter, Setzer, Drucker und Buchbinder. So entstehen über 70 Werke vielfältigen Inhalts, mit durchwegs kritisch-ironischer Sicht auf die Welt. Mit dem Titel spielt Vogl übrigens auf die im 15. und 16. Jahrhundert gebräuchliche „Schwabacher Schrift“, an, die er auch selber benützt.
Kenner des Werks sagen, es sei verwerflich, einzelne Blätter aus den Bilderzyklen herauszulösen. Um einen solchen hier vorzustellen, fehlt natürlich der Platz. Aber das Fragmentarische hat ja vielleicht auch einen Sinn, wenn es dazu führt, sich einmal intensiver mit Hubert Vogl zu beschäftigen. Das lohnt sich allemal, denn Graphik von solcher archaisch wirkenden Kraft, nicht gebrochen von Psychologisierung und souverän absehend von modernen und modischen Tendenzen, wird man heute selten finden. Die beistehenden Texte stammen ebenfalls aus der Mappe.
Rattersberg
Zwischen Krailling und Viechtafell, auf halber Höhe des Rattersberges, umgeben von den eigenen Wiesen und Feldern, eingeschlossen vom eigenen Wald, dessen schwarze Fichtenstämme eine Reihe weißer Birken säumt, versorgt von einem eigenen Wasser, liegt das Anwesen des Rattersbergers. Seit der Säkularisation gehört der Hof den Vogln. Er besteht aus drei Gebäuden, dem Wohnhaus und der Stall-Scheune, die im rechten Winkel zueinander stehen, und ein wenig abgerückt, das Austragshäusl. 1869, an Maria Empfängnis, wird auf dem Rattersberg als ältester Sohn mein Großvater Michael Vogl geboren. Wie der Mich 20 Jahre darnach den ersten Vaterschaftsprozeß hat, sind die Eltern noch zu jung zum Übergeben, daher heiratet der Älteste vom Hof: Die Josepha Strohmeierin, die Tochter vom Müllner von Drachselsried.
Die Zeugin
Vorausgegangen war manches. Den unmittelbaren Anlass gab ein Kuhhandel. Der Lenz, einen Kopf kleiner als der Mich, aber breitschulterig und kräftig, hatte im Wirtshaus versprochen: „Dem Hammel zoag is am Sonntag vor de Leit.!“ Die Waldler standen an jedem Sonntag unschlüssig auf der Dorfstraße zwischen Kirche und Gasthaus, bis sie kurz die eine und lang das andere aufsuchten. „Daß du dich noch ind Kirch traust, du Betrüger“, schrie der Lenz und versetzte dem Mich einen heftigen Renner. Der Mich griff sich vergewissernd nach der Brust- und nach der Gesäßtasche, rückte Stilett und Messer zurecht und drohte: „Wennst me no moi olangst, stich i di!“ Beim zweiten Renner stach der Mich, wie immer die halbe Klinge abgeschirmt, leider aber diesmal zu tief. Lungenstich mit Todesfolge.
Während der Schwurgerichtsverhandlung in Straubing fand sich kein einziger Zeuge für die Notwehr des Mich. Alle Dörfler hatten in dem Augenblick grad weggschaut. Der Einöder war nicht sehr beliebt, und der Tote und die zwei Messer auf dem Richtertisch sprachen gegen ihn. Die Beweisaufnahme war abgeschlossen, die Plädoyers gehalten, und dem Mich standen 15 bis 25 Jahre Zuchthaus bevor. Als sich das Gericht zur Beratung zurückziehen wollte, verlangte die Häuslerin Anna Überroider, mit der der Mich seit er denkt zkriagt war, eine Aussage machen zu dürfen, und bezeugte, daß n da Lenz zwoarmoi üban Weg oigrennt hot. Den Freispruch feierte der Mich zuerst beim Ganswirt in Straubing und am nächsten Tag kutschierte er vierspännig, dös Wagl mit Tannenreiser ziert, heim ins Dorf.
Der Austragler
Der Austragler und die Austraglerin sitzen rauchend und strickend auf der Bank vor dem Austragshäusl. Eine Idylle, die es nicht gibt! In Wirklichkeit arbeiten die Alten auf dem Hof mit, solange sie können, und dann können sie nicht mehr sitzen, sondern müssen liegen. Die Mitarbeit auf dem Hof ist auch schwierig, weil die Jungen alles verkehrt machen. Der Mich war ein schwieriger Austragler. 5 Wochen nach dem Überschreiben beim Notar packte er seinen Sohn an der Gurgel. Es war schon große Beherrschung, daß er nicht zum Messer griff. Der Mich zog in die Stadt zum anderen Sohn. Statt der Änderung der Fruchtfolge empfand er nun die Gemüse, Kompotte, Säfte und Breie, die die Schwiegertochter eben für unentbehrlich in der modernen Küche zu halten anfing, als persönliche Kränkung, bloß aufgetischt, um ihn zu ärgern. Der Brei kimmt ma unta die Zähn. Den Spinat kost selba essen. Koa Gmüas mog i net. Ein Austragler in der Stod verdirbt si beim Lesn die Augn. Von Lafen müad, von Sitzen steif, von Steh damisch, erlöst ihn erst die fortschreitende Verkalkung von sich selber.
Das Dünnbier
Die Voglin hatte Wasser in den Beinen gehabt und war schon 5 Jahre tot. Der Vogl Mich aber wurde immer gesünder. Der 2. Weltkrieg war ausgebrochen, mit Fett- und Fleischrationierung, mit Dünnbier und unfreiwilliger Diät, und bescherte dem Mich mindestens 5 Lebensjahre mehr. Dem starken Schnupfer und gelegentlichen Pfeifenraucher schlug vor allen das Dünnbier zum Vorteil aus. Herzkranzgefäße, Niere und Oberschenkelhalsknochen wurden geschont. Als die Zeitläufte immer notiger wurden, wollte der Mich mitten in der erfolgreichsten Diät nicht mehr leben. Schuld daran war neben dem Bier die Währungsreform. Zum 2. Mal war das Ersparte hin. Diesmal gab es gar Kopfgeld wie bei den Indianern. Es war unerträglich. Der Schlag, der alle Rattersberger vor ihm gefällt hatte, traf ihn. 2 Tage darauf starb er.
*
Gernot Eschrich wurde 1938 geboren und wuchs in Landshut auf. Er studierte die Fächer Deutsch, Latein und Griechisch in München und Freiburg. Von 1964 bis 2001 war er Gymnasiallehrer in Tegernsee und Gilching. Er ist Redaktionsmitglied der Zeitschrift Literatur in Bayern. Weitere Artikel von ihm finden sich HIER.
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14 Stationen mit 16 farbigen Linoldrucken heißt die Mappe, mit der Hubert Vogl 1974 seinem Großvater Michael Vogl (1869–1948) ein Denkmal setzt: Bauernsohn aus dem Bayerischen Wald, Rosshändler über die böhmische Grenze hinweg, Schmuggler, ziemlich das Gegenteil von liebenswürdig, ein Urviech.
Der Enkel, 1933 in Straubing geboren, 2012 in Schwabach gestorben, kraftvoll und souverän, aber auch sensibel und verletzlich, Gymnasiallehrer, sehr gebildet nicht nur in Kunstgeschichte, vor allem aber renommierter Illustrator, 1972 Begründer der Schwabacher Drucke, die er mit einer Handpresse herstellt, als Graphiker, Texter, Setzer, Drucker und Buchbinder. So entstehen über 70 Werke vielfältigen Inhalts, mit durchwegs kritisch-ironischer Sicht auf die Welt. Mit dem Titel spielt Vogl übrigens auf die im 15. und 16. Jahrhundert gebräuchliche „Schwabacher Schrift“, an, die er auch selber benützt.
Kenner des Werks sagen, es sei verwerflich, einzelne Blätter aus den Bilderzyklen herauszulösen. Um einen solchen hier vorzustellen, fehlt natürlich der Platz. Aber das Fragmentarische hat ja vielleicht auch einen Sinn, wenn es dazu führt, sich einmal intensiver mit Hubert Vogl zu beschäftigen. Das lohnt sich allemal, denn Graphik von solcher archaisch wirkenden Kraft, nicht gebrochen von Psychologisierung und souverän absehend von modernen und modischen Tendenzen, wird man heute selten finden. Die beistehenden Texte stammen ebenfalls aus der Mappe.
Rattersberg
Zwischen Krailling und Viechtafell, auf halber Höhe des Rattersberges, umgeben von den eigenen Wiesen und Feldern, eingeschlossen vom eigenen Wald, dessen schwarze Fichtenstämme eine Reihe weißer Birken säumt, versorgt von einem eigenen Wasser, liegt das Anwesen des Rattersbergers. Seit der Säkularisation gehört der Hof den Vogln. Er besteht aus drei Gebäuden, dem Wohnhaus und der Stall-Scheune, die im rechten Winkel zueinander stehen, und ein wenig abgerückt, das Austragshäusl. 1869, an Maria Empfängnis, wird auf dem Rattersberg als ältester Sohn mein Großvater Michael Vogl geboren. Wie der Mich 20 Jahre darnach den ersten Vaterschaftsprozeß hat, sind die Eltern noch zu jung zum Übergeben, daher heiratet der Älteste vom Hof: Die Josepha Strohmeierin, die Tochter vom Müllner von Drachselsried.
Die Zeugin
Vorausgegangen war manches. Den unmittelbaren Anlass gab ein Kuhhandel. Der Lenz, einen Kopf kleiner als der Mich, aber breitschulterig und kräftig, hatte im Wirtshaus versprochen: „Dem Hammel zoag is am Sonntag vor de Leit.!“ Die Waldler standen an jedem Sonntag unschlüssig auf der Dorfstraße zwischen Kirche und Gasthaus, bis sie kurz die eine und lang das andere aufsuchten. „Daß du dich noch ind Kirch traust, du Betrüger“, schrie der Lenz und versetzte dem Mich einen heftigen Renner. Der Mich griff sich vergewissernd nach der Brust- und nach der Gesäßtasche, rückte Stilett und Messer zurecht und drohte: „Wennst me no moi olangst, stich i di!“ Beim zweiten Renner stach der Mich, wie immer die halbe Klinge abgeschirmt, leider aber diesmal zu tief. Lungenstich mit Todesfolge.
Während der Schwurgerichtsverhandlung in Straubing fand sich kein einziger Zeuge für die Notwehr des Mich. Alle Dörfler hatten in dem Augenblick grad weggschaut. Der Einöder war nicht sehr beliebt, und der Tote und die zwei Messer auf dem Richtertisch sprachen gegen ihn. Die Beweisaufnahme war abgeschlossen, die Plädoyers gehalten, und dem Mich standen 15 bis 25 Jahre Zuchthaus bevor. Als sich das Gericht zur Beratung zurückziehen wollte, verlangte die Häuslerin Anna Überroider, mit der der Mich seit er denkt zkriagt war, eine Aussage machen zu dürfen, und bezeugte, daß n da Lenz zwoarmoi üban Weg oigrennt hot. Den Freispruch feierte der Mich zuerst beim Ganswirt in Straubing und am nächsten Tag kutschierte er vierspännig, dös Wagl mit Tannenreiser ziert, heim ins Dorf.
Der Austragler
Der Austragler und die Austraglerin sitzen rauchend und strickend auf der Bank vor dem Austragshäusl. Eine Idylle, die es nicht gibt! In Wirklichkeit arbeiten die Alten auf dem Hof mit, solange sie können, und dann können sie nicht mehr sitzen, sondern müssen liegen. Die Mitarbeit auf dem Hof ist auch schwierig, weil die Jungen alles verkehrt machen. Der Mich war ein schwieriger Austragler. 5 Wochen nach dem Überschreiben beim Notar packte er seinen Sohn an der Gurgel. Es war schon große Beherrschung, daß er nicht zum Messer griff. Der Mich zog in die Stadt zum anderen Sohn. Statt der Änderung der Fruchtfolge empfand er nun die Gemüse, Kompotte, Säfte und Breie, die die Schwiegertochter eben für unentbehrlich in der modernen Küche zu halten anfing, als persönliche Kränkung, bloß aufgetischt, um ihn zu ärgern. Der Brei kimmt ma unta die Zähn. Den Spinat kost selba essen. Koa Gmüas mog i net. Ein Austragler in der Stod verdirbt si beim Lesn die Augn. Von Lafen müad, von Sitzen steif, von Steh damisch, erlöst ihn erst die fortschreitende Verkalkung von sich selber.
Das Dünnbier
Die Voglin hatte Wasser in den Beinen gehabt und war schon 5 Jahre tot. Der Vogl Mich aber wurde immer gesünder. Der 2. Weltkrieg war ausgebrochen, mit Fett- und Fleischrationierung, mit Dünnbier und unfreiwilliger Diät, und bescherte dem Mich mindestens 5 Lebensjahre mehr. Dem starken Schnupfer und gelegentlichen Pfeifenraucher schlug vor allen das Dünnbier zum Vorteil aus. Herzkranzgefäße, Niere und Oberschenkelhalsknochen wurden geschont. Als die Zeitläufte immer notiger wurden, wollte der Mich mitten in der erfolgreichsten Diät nicht mehr leben. Schuld daran war neben dem Bier die Währungsreform. Zum 2. Mal war das Ersparte hin. Diesmal gab es gar Kopfgeld wie bei den Indianern. Es war unerträglich. Der Schlag, der alle Rattersberger vor ihm gefällt hatte, traf ihn. 2 Tage darauf starb er.
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Gernot Eschrich wurde 1938 geboren und wuchs in Landshut auf. Er studierte die Fächer Deutsch, Latein und Griechisch in München und Freiburg. Von 1964 bis 2001 war er Gymnasiallehrer in Tegernsee und Gilching. Er ist Redaktionsmitglied der Zeitschrift Literatur in Bayern. Weitere Artikel von ihm finden sich HIER.