Schalom Ben-Chorin zum 20. Todesjahr (II)
Vor 20 Jahren starb der 1913 in München als Fritz Rosenthal geborene jüdische Intellektuelle Schalom Ben-Chorin in Jerusalem. In seiner Autobiografie Jugend an der Isar (1974) gewährt der Autor nicht nur Einblicke in persönliche Erlebnisse, sondern hinterlässt uns ein Zeugnis bayerisch-jüdischer Geschichte. Kindheit und Jugend von Fritz Rosenthal führen entlang der blühenden Isarauen und werden verdüstert durch den Aufzug der Nationalsozialisten in der „Stadt der Bewegung“. Bis zu seinem Tode in Israel bewahrt er sich jedoch sein inneres „Zweistromland“, bleibt sein Herz zwischen Jordan und Isar angesiedelt. Ben-Chorin erinnert sich daran, wie seine jüdische Familie das christliche Weihnachtsfest in ihr Brauchtum integrierte, er sich während seiner Jugendzeit in die Geisteswelt Schwabings begab, und wie die Schikanen der neuen Machthaber ihn dazu bewogen, seine Münchner Heimat – rechtzeitig – zu verlassen. Anlässlich des 20. Todesjahres von Schalom Ben-Chorin wandelt dieser zweiteilige Blog auf den Pfaden einer jüdischen Jugend an der Isar. Heute am 2. Weihnachtstag bringen wir den letzten Teil.
*
Stille Nacht – Heilige Nacht
Die Weihnachtsnacht des Jahres 1928 bleibt mir unvergeßlich, denn sie wurde zu einem Wendepunkt in meinem Leben. Der Fünfzehnjährige erfuhr schmerzlich die Weisung, die einst an seinen Stammvater Abraham ergangen war: „Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will.“ (Schalom Ben-Chorin: Jugend an der Isar. München 1974, S. 15.)
Mit dieser Erinnerung beginnt Ben-Chorin die erste Station seiner Memoiren: Am Weihnachtsfest entzündet sich die jugendliche Identitätssuche des Jugendlichen. Wie auch bei den Nachbarn pflegt man in seinem Elternhaus Weihnachten zu feiern, wenn auch eher als säkulares Ritual ohne Bezugnahme auf den religiösen Sinn. In vielen deutsch-jüdischen Wohnzimmern leuchtet in den Dezembermonaten ein Weihnachtsbaum, und in der Familie Ben-Chorins wird diese Tradition bereits von den Großeltern adaptiert. Manche Familien geben an, diesen Brauch dem christlichen Dienstmädchen zuliebe zu pflegen. Andere integrieren den Baum in ihre eigenen Riten, indem sie seine Herkunft aus dem germanischen Julfest belegen. Der Christbaum ist also ursprünglich ein Symbol der Wintersonnenwende. Im Hause der Rosenthals wird über das Fest nicht weiter diskutiert. Jahr für Jahr entlockt der funkelnde Baum den beiden Geschwistern Fritz und Jeanny ein strahlendes Gesicht – die Freude an diesem Brauch bedarf keiner weiteren Rechtfertigung. Welche Gründe man auch immer für diesen jüdisch-christlichen Synkretismus anführen mag – Ben-Chorin beginnt in diesem Jahr mit dem eingemeindeten Brauch zu hadern.
Es kam uns nicht in den Sinn, daß es etwa um dieselbe Zeit der Wintersonnwende ein jüdisches Lichterfest gibt, Chanukka genannt, das an den Sieg der Makkabäer über den Diadochenkönig Antiochus Epiphanes (167 v. Chr.) und an ein Ölwunder im Tempel zu Jerusalem erinnert. [...] Das [...] war mir in der Weihnachtsnacht des Jahre 1928 noch nicht bewußt, wohl aber spürte ich zutiefst, daß wir kein Recht hatten, ein Fest der Christenheit zu begehen und gleichzeitig an unserem Judentum festzuhalten. Es war eine schmerzliche Erkenntnis, denn ich liebte dieses Fest mit allen Sinnen. (Ebd., S. 16.)
Auch dieses Jahr wird zwei Wochen vor Weihnachten der Salon abgesperrt, wo die Eltern die Geschenke für Heiligabend aufbewahren, die darauf warten, an Heiligabend auf einem mit Damasttuch überdeckten und mit Tannenreisern dekortierten Gabentisch drapiert zu werden. Mutter und Schwester behängen vorab den Weihnachtsbaum mit prachtvollem Schmuck. Und Bruder Ben-Chorin begehrt gegen die alljährliche Sitte auf, nicht ohne auch einen inneren Kampf auszutragen:
Die Rebellion meiner Jugend setzte genau dort ein, wo sie für mich am qualvollsten war. Oscar Wilde sagt in seiner Ballade vom Zuchthaus zu Reading: „Denn jeder tötet, was er liebt.“ Genau das mußte ich nun erfahren, mußte töten, was ich liebte, mußte es in mir abtöten. Der Weihnachtsbaum war nur ein Symbol, er leuchtete in der Nacht unserer Verwirrung, sein Licht war mild und schön, aber – für uns – ein Irrlicht. Im Schimmer seiner Kerzen fühlten wir uns geborgen, meinten wir zugehörig zu sein, fraglos eingetan in unsere Umwelt. Noch ahnten wir nicht die tödliche Gefahr dieser Illusion, aber der junge Mensch, der ich damals war, nach Klarheit und Wahrheit suchend, fühlte den Widerspruch [...], [der] mit diesem Baum und diesem Fest im jüdischen Hause verbunden war. Die Kunst des Schweigens habe ich nie gelernt. In der Jugend ist man wohl im allgemeinen noch weniger zum Schweigen geneigt. Schweigen, wenn man doch eigentlich widersprechen möchte, ist die Haltung der Resignation, die der Mensch erst durch eine unendliche Reihe von Enttäuschungen lernt. Resignation war sicher nicht mein Teil, Rebellion standen Jugend und Situation besser an. In unverblümter und sicher nicht sehr liebevoller Weise formulierte ich meine Absage an die häusliche Feier: „Ich mache diesen Klimbim nicht mehr mit!“ (Ebd., S. 17.)
Im selben Moment, in dem er diese schroffen Worte über die Lippen bringt, und noch lange Zeit danach, wenn auch nicht auf ewig, verspürt er Reue.
Die Lieder waren schön, der Baum war noch schöner, die Geschenke prächtig. Und alles roch so gut nach Wachs und Lebkuchen, nach gebratenen Äpfeln und Marzipan. [...] Und nun sollte all diese Herrlichkeit mit dem scheußlichen Wort „Klimbim“ abgetan werden. Es schnitt mir, wie auch meiner lieben Mutter, durchs Herz, und es entflammte den Zorn meiner Schwester. (Ebd., S. 18.)
Der Theaterkritiker Alfred Kerr hat in Bezug auf die jüdische Lebenswelt einmal die Unterscheidung zwischen Assimilierten und Assimilanten eingeführt. Ben-Chorin weiß, was seinen Entschluss zu einer so heiklen Angelegenheit macht:
Wir waren bereits Assimilierte und die Weihnachtsfeier in unserem Hause wurde nicht etwa programmatisch eingeführt, um ein sichtbares Zeichen der Angleichung an die Umwelt zu setzen. Es war eine Selbstverständlichkeit, dieses Fest zu feiern. Wir suchten auch zu Ostern buntgefärbte Eier im Garten und zu Nikolaus fehlten weder Nikolaus noch Knecht Ruprecht, um den kleinen Jungen zu erschrecken und zu beglücken. Der Rhythmus des Jahres mit seinen roten Kalenderzahlen war auch der Rhythmus unseres Lebens. [...] Der Mensch braucht Festzeiten und er will sie nicht allein begehen. Er will mit den Fröhlichen fröhlich sein und mit den Trauernden weinen. (Ebd., S. 18f.)
Ben-Chorin erklärt, dass bei allem Einklang mit der christlich geprägten Umwelt die Juden keineswegs alle ihre eigenen Feiertage verabschiedet hätten. Wie so viele gehören allerdings auch seine Eltern und er zu den sog. „Dreitagejuden“, die zumindest zwei Tage Neujahr (Rosch ha-Schana, Ende September/Anfang Oktober) und den Versöhnungstag (Jom Kippur, Ende September) feierlich begehen. Sie besuchen an diesen Tagen auch die Synagoge, doch man „verstand nichts von den hebräischen Gebeten und langweilte sich daher.“ (Ebd., S. 19.) Das Pendant zu ihnen ist der „Dreitagechrist“, der nur an Weihnachten, Karfreitag und Ostern sein Christentum pflegt. „Mir genügte das Dreitagejudentum nicht mehr. Ich wollte dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr meines Judentums bewußt sein, an das die Umwelt uns schmerzhaft genug erinnert hatte.“ (Ebd., S. 19.)
Bereits fünf Jahre zuvor, im Jahre 1923 des Hitlerputsches in München, schlug dem Zehnjährigen auf der Straße das erste Mal die Feindseligkeit gegenüber seinem Judentum entgegen. Die Welle der Aggression ebbte nochmals ab, um zehn Jahre später als Tsunami wiederzukehren. In dieser Zeit führt seine frühe Sensibilität den Heranwachsenden zu seinen Wurzeln zurück, will Fritz Rosenthal ergründen, woher seine Ahnen kommen, woher er kommt, und wo sie hingehen sollen. In der Weihnachtsnacht 1928 bricht dieses Ergründen-Wollen in dem 15-Jährigen mit aller Macht des jugendlichen Stürmer und Drängers hervor.
Meine Mutter sagte: „Wenn du nicht mit uns feiern willst, hast du hier keinen Platz mehr.“ Ich nahm es wörtlich, zog den Wintermantel an, setzte meine Schülermütze auf und – ging. Jetzt stand ich auf der verschneiten Oettingenstraße mit dem Rücken zum Elternhaus. Die Straße war sehr still. Der Schnee dämpfte die Schritte. In der Weihnachtsnacht gab es hier kaum Verkehr. Ab und zu bimmelte eine Trambahn. Vom benachbarten Türmchen des Vinzentinums schlug es halb acht Uhr. Ich war ratlos und wußte nicht, wohin ich meine Schritte wenden sollte. (Ebd., S. 21f.)
Ziellos streift er durch die Straßen, lässt seine Blicke entlang der Fenster streifen, hinter denen die Familien in ihren warmen Stuben am Weihnachtsbaum zusammensitzen – und ist dem Verzweifeln nahe.
Ich war dem Weinen nahe, steigerte mich etwas pathetisch in die Rolle des wandernden Juden. Meine symbolische Existenz geriet aber sehr rasch in Widerspruch zu den Unbilden der Witterung. Es begann zu schneien, ein eisiger Wind blies von der Isar her. Sollte ich etwa die Nacht im Freien zubringen, um als Märtyrer meiner Überzeugung zu erfrieren? Plötzlich kam mir der Gedanke, eine streng orthodoxe jüdische Familie aufzusuchen, denn ich war sicher, dort Verständnis zu finden. (Ebd., S. 22.)
Dem Jungen kommt die Familie Rotter in den Sinn, mit dessen etwa zehn Jahre älteren Sohn er eine Freundschaft pflegt, die den Charakter eines Lehrer-Schüler-Verhältnisses hat. Hier sieht er eine Möglichkeit, in die bis dato unbekannte Sphäre der jüdischen Religion einzutauchen und seine Wurzeln zu erschließen.
Die Familie saß noch beim Abendbrot, als ich zu ungewöhnlicher Stunde klingelte. Hier in diesem Hause spürte man nichts von Weihnachten. An den Wänden des Wohnzimmers standen in alten Regalen die riesigen Folianten des Talmud, der für mich ein verschlossenes Buch mit sieben Siegeln war. [...] Die Familie bestand nur aus dem erwachsenen Sohn, seiner früh gealterten Mutter und ihrer Schwester, einer gutherzigen, aber einfältigen alten Jungfer. Man kann sich das Erstaunen der braven Leute vorstellen, als ich ihnen mit dürren Worten darlegte, daß ich von zuhause geflohen sei, eigentlich hinausgeschmissen wurde. Was nun? Unter dem Einfluss des Sohnes war die Mutter immerhin bereit, mich für eine Nacht zu beherbergen – daraus aber sollte dann ein ganzes Jahr werden. (Ebd., S. 23.)
Weihnachten in München 1930 und 1949. Fotos: Bayerische Staatsbibliothek/Bildarchiv
Zwar gibt es seinerzeit in München nur eine jüdische Gemeinde, diese jedoch unterteilt sich in eine liberale Mehrheit und orthodoxe Minderheit. Insofern wechselt Ben-Chorin sozusagen die Fronten. Die Orthodoxen nehmen sich seiner an, wie seine ob des bockigen Verhaltens des Sohnes bestürzte Mutter sich weigert, den bei den Rotters wohnenden Sohn zu unterhalten. Und das Leben nach strengen 613 Geboten und Verboten wird für diesen zur Herausforderung. „Es begann damit, daß man am Morgen keine drei Schritte gehen durfte, ohne die Fingerspitzen mit einem Segensspruch im Wasser zu netzen.“ (Ebd., S. 24.) Vor dem Frühstück legt man die Gebetsriemen für die tägliche Andacht an sowie den Gebetsmantel, der im Laufe des Tages durch ein Leibchen unter dem Hemd ersetzt wird. Ben-Chorin erinnert sich daran, wie er in der Umkleide beim Turnunterricht von einem Mitschüler für dieses Utensil aufgezogen wird und daraufhin eine Rauferei mit diesem anzettelt. Die orthodoxen Regeln – wie das Schreibverbot am Schabbat – erschwert es den orthodoxen Kindern, dem Schulrhythmus zu folgen. Und doch gibt es auch naiv-kindliche Formen der Symbiose zwischen christlichen und orthodoxen Kindern. Als einer von Ben-Chorins orthodoxen Mitschülern heimlich ein Brot im Unterricht isst – was er ohne Kopfbedeckung eigentlich nicht dürfte – hält sein Bankhintermann ihm ein Blatt Papier über den Kopf. Die Koexistenz klappt hier, wie sie dort ihre Schwierigkeiten mit sich bringt. Doch an etwas anderem droht der orthodoxe Weg zunehmend zu scheitern:
In meiner neuen Umgebung bedrückte mich das oft seelenlose Zeremoniell, das ich nur schwer durchzustehen vermochte, aber andererseits erlebte ich mit offenen Sinnen die Schönheiten des jüdischen Jahres. Der Beginn des Sabbats, der Freitagabend, blieb, so geschult, für mich die Zäsur der Woche. Der Tisch war festlich gedeckt, die Sabbatlichter strahlten in silbernen Leuchtern, der silberne Kelch mit dem Segenswein stand neben den duftenden Sabbatbroten, die von einer Samtdecke verhüllt waren. All das hatte ich in meinem Elternhause nicht gesehen [...]. [Doch] [s]o schön der Freitagabend mit seinen Gebeten und Gesängen in meiner neuen Familie auch war, so wurde der Sabbat selbst doch oft zu einer Art Zwangsneurose. Nicht einmal einen Schlüssel durfte man bei sich tragen, ohne ihn mit einem Gürtel zu verknüpfen, einem sogenannten Sabbatgürtel, so daß der Schlüssel Bestandteil des Gürtels war. (Ebd., S. 26ff.)
Dabei steht im Neuen Testament: „Der Sabbat ist dem Menschen gegeben, nicht der Mensch dem Sabbat“ (Markus 2,27). Und der Talmud überliefert dieselbe Aussage: „Der Sabbat ist in euren Händen, denn es heißt: der Sabbat ist für euch.“ (Joma 85 b) Ben-Chorin wird später zu der Einsicht kommen, dass die Orthodoxie bzw. das gesetzestreue Judentum für ihn den Bogen überspannt und auf diese Weise
das an sich Richtige bis ins Absurde vortreibt. Aber ist nicht wiederum das Absurde Kennzeichen des Glaubens? Credo quia absurdum est, wie ein dem Tertullian zugeschriebenes Wort lauten soll. Und war nicht der tiefste religiöse Denker des 19. Jahrhunderts, Sören Kierkegaard, den mein unvergeßlicher Freund, der Dichter Max Brod, den „Matador des Paradoxen“ nannte, der Philosoph des Absurden? Aber es gibt Stufen des Absurden. [...] Hier [...] in der buchstäblichen und oft noch verschärften Erfüllung des Gesetzes, ging es nicht um das Pathos des Absurden, sondern um seine Trivialität. (Ebd., S. 28f.)
Vor seinem Ausriss in der Weihnachtsnacht des Jahres 1928 war es schon einmal zu einer jugendlichen Rebellion im Zusammenhang mit der alterstypischen Suche nach spiritueller Erweckung gekommen. Es scheint, als wäre der (Rück-)Weg zum liberalen Judentum, in dem sich Ben-Chorin noch als ein wichtiger Vermittler zwischen Juden und Christen erweisen sollte, schon hier vorgezeichnet worden. Kurz nach der Bar Mizwa, einem Zeremoniell ähnlich der Konfirmation, mit dem die Aufnahme eines Jugendlichen im Alter von 12 oder 13 Jahren in die Gemeinde erfolgt, wird Ben-Chorin auf eigenen Wunsch hin in eine Lehranstalt bei Würzburg entsandt, die Präparandie des jüdischen Lehrerseminars. Diese erweist sich als ein unwirtlicher, muffiger Ort, an dem „sich jüdische Gesetzlichkeit und bayerischer Kasernenhofton höchst unerfreulich ergänzten.“ (Ebd., S. 37.) Ben-Chorin weiß eine äußerst amüsante Anekdote aus dieser Zeit zu erzählen:
Wir waren in einem elenden Quartier nahe dem Bockshaus der Gemeinde untergebracht. [...] Die Örtlichkeit befand sich außerhalb des Wohnquartiers auf dem Hofe, was uns natürlich zu unpraktisch war, so daß sich die Zimmergenossen nächtlich ungeniert am offenen Fenster erleichterten. Das führte zu einem peinlichen Zwischenfall: Als der Direktor in der Abendkühle seinen Spaziergang unter unserem Fenster absolvierte, ergoß sich auf ihn der Strahl eines meiner Mitschüler […]. Der Übeltäter wurde also in das Rektoratszimmer zitiert und scharf verwarnt. Er hatte aber die Stirn, sein unsittliches Betragen rituell zu entkräften, indem er sagte: „Wenn der Herr Direktor nicht ohne Hut gegangen wäre, was für einen frommen Juden verboten ist, wäre ihm nicht passiert, was nun geschehen ist.“ (Ebd., S. 37.)
Diese aufmüpfige Antwort hat zur Folge, dass der Schüler unmittelbar entlassen wird. Er setzt am Tag seines Abgangs noch einen oben drauf und versteigert unter seinen Mitschülern seinen Gebetsriemen und Mantel. (Der Mann hat es übrigens trotzdem zum Universitätsprofessor gebracht.) Ben-Chorin zieht aus dem Vorfall ebenfalls Konsequenzen und macht sich mit seinem Koffer zu Fuß auf zum Würzburger Bahnhof, um nach Hause zu fahren und dieser Schule den Rücken zu kehren.
Dort erwartete mich bereits einer der Lehrer, um mir ins Gewissen zu reden. Statt einer Antwort kaufte ich mir ein paar Würstchen und verspeiste sie vor den entsetzten Blicken des Pädagogen. Die Würstchen waren natürlich alles andere als koscher, denn sie stammten vom verpönten Borstentier, vom Schwein. [...] [I]ch wollte auf diese Weise bekunden, daß ich mit dieser orthodoxen Zwangserziehungsanstalt nichts mehr gemeinsam hatte. Ich bereute meine unreife Brüskierung meiner Lehrer zwar sehr bald, aber ich konnte meine Absage damals nicht anders zeigen. Die Wege des suchenden Menschen verlaufen nicht geradlinig. Das Erhabene und das Lächerliche liegen nah beieinander und immer wieder gilt, was Conrad Ferdinand Meyer über seine Dichtung Huttens letzte Tage setzte: Ich bin kein ausgeklügelt Buch, / Ich bin ein Mensch mit seinem Widerspruch. (Ebd., S. 38.)
Zugleich dürfte dieser Widerspruch genau die Voraussetzung dafür gewesen sein, dass Ben-Chorin zum wichtigen Brückenbauer zwischen Christentum und Judentum werden sollte. Erst dadurch vermochte er beide Seiten kennen und verstehen zu lernen. Schließlich muss jeder Brückenbauer die beiden Ufer erst einmal sondiert haben, bevor er diese miteinander verbinden kann.
Schalom Ben-Chorin zum 20. Todesjahr (II)>
Vor 20 Jahren starb der 1913 in München als Fritz Rosenthal geborene jüdische Intellektuelle Schalom Ben-Chorin in Jerusalem. In seiner Autobiografie Jugend an der Isar (1974) gewährt der Autor nicht nur Einblicke in persönliche Erlebnisse, sondern hinterlässt uns ein Zeugnis bayerisch-jüdischer Geschichte. Kindheit und Jugend von Fritz Rosenthal führen entlang der blühenden Isarauen und werden verdüstert durch den Aufzug der Nationalsozialisten in der „Stadt der Bewegung“. Bis zu seinem Tode in Israel bewahrt er sich jedoch sein inneres „Zweistromland“, bleibt sein Herz zwischen Jordan und Isar angesiedelt. Ben-Chorin erinnert sich daran, wie seine jüdische Familie das christliche Weihnachtsfest in ihr Brauchtum integrierte, er sich während seiner Jugendzeit in die Geisteswelt Schwabings begab, und wie die Schikanen der neuen Machthaber ihn dazu bewogen, seine Münchner Heimat – rechtzeitig – zu verlassen. Anlässlich des 20. Todesjahres von Schalom Ben-Chorin wandelt dieser zweiteilige Blog auf den Pfaden einer jüdischen Jugend an der Isar. Heute am 2. Weihnachtstag bringen wir den letzten Teil.
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Stille Nacht – Heilige Nacht
Die Weihnachtsnacht des Jahres 1928 bleibt mir unvergeßlich, denn sie wurde zu einem Wendepunkt in meinem Leben. Der Fünfzehnjährige erfuhr schmerzlich die Weisung, die einst an seinen Stammvater Abraham ergangen war: „Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will.“ (Schalom Ben-Chorin: Jugend an der Isar. München 1974, S. 15.)
Mit dieser Erinnerung beginnt Ben-Chorin die erste Station seiner Memoiren: Am Weihnachtsfest entzündet sich die jugendliche Identitätssuche des Jugendlichen. Wie auch bei den Nachbarn pflegt man in seinem Elternhaus Weihnachten zu feiern, wenn auch eher als säkulares Ritual ohne Bezugnahme auf den religiösen Sinn. In vielen deutsch-jüdischen Wohnzimmern leuchtet in den Dezembermonaten ein Weihnachtsbaum, und in der Familie Ben-Chorins wird diese Tradition bereits von den Großeltern adaptiert. Manche Familien geben an, diesen Brauch dem christlichen Dienstmädchen zuliebe zu pflegen. Andere integrieren den Baum in ihre eigenen Riten, indem sie seine Herkunft aus dem germanischen Julfest belegen. Der Christbaum ist also ursprünglich ein Symbol der Wintersonnenwende. Im Hause der Rosenthals wird über das Fest nicht weiter diskutiert. Jahr für Jahr entlockt der funkelnde Baum den beiden Geschwistern Fritz und Jeanny ein strahlendes Gesicht – die Freude an diesem Brauch bedarf keiner weiteren Rechtfertigung. Welche Gründe man auch immer für diesen jüdisch-christlichen Synkretismus anführen mag – Ben-Chorin beginnt in diesem Jahr mit dem eingemeindeten Brauch zu hadern.
Es kam uns nicht in den Sinn, daß es etwa um dieselbe Zeit der Wintersonnwende ein jüdisches Lichterfest gibt, Chanukka genannt, das an den Sieg der Makkabäer über den Diadochenkönig Antiochus Epiphanes (167 v. Chr.) und an ein Ölwunder im Tempel zu Jerusalem erinnert. [...] Das [...] war mir in der Weihnachtsnacht des Jahre 1928 noch nicht bewußt, wohl aber spürte ich zutiefst, daß wir kein Recht hatten, ein Fest der Christenheit zu begehen und gleichzeitig an unserem Judentum festzuhalten. Es war eine schmerzliche Erkenntnis, denn ich liebte dieses Fest mit allen Sinnen. (Ebd., S. 16.)
Auch dieses Jahr wird zwei Wochen vor Weihnachten der Salon abgesperrt, wo die Eltern die Geschenke für Heiligabend aufbewahren, die darauf warten, an Heiligabend auf einem mit Damasttuch überdeckten und mit Tannenreisern dekortierten Gabentisch drapiert zu werden. Mutter und Schwester behängen vorab den Weihnachtsbaum mit prachtvollem Schmuck. Und Bruder Ben-Chorin begehrt gegen die alljährliche Sitte auf, nicht ohne auch einen inneren Kampf auszutragen:
Die Rebellion meiner Jugend setzte genau dort ein, wo sie für mich am qualvollsten war. Oscar Wilde sagt in seiner Ballade vom Zuchthaus zu Reading: „Denn jeder tötet, was er liebt.“ Genau das mußte ich nun erfahren, mußte töten, was ich liebte, mußte es in mir abtöten. Der Weihnachtsbaum war nur ein Symbol, er leuchtete in der Nacht unserer Verwirrung, sein Licht war mild und schön, aber – für uns – ein Irrlicht. Im Schimmer seiner Kerzen fühlten wir uns geborgen, meinten wir zugehörig zu sein, fraglos eingetan in unsere Umwelt. Noch ahnten wir nicht die tödliche Gefahr dieser Illusion, aber der junge Mensch, der ich damals war, nach Klarheit und Wahrheit suchend, fühlte den Widerspruch [...], [der] mit diesem Baum und diesem Fest im jüdischen Hause verbunden war. Die Kunst des Schweigens habe ich nie gelernt. In der Jugend ist man wohl im allgemeinen noch weniger zum Schweigen geneigt. Schweigen, wenn man doch eigentlich widersprechen möchte, ist die Haltung der Resignation, die der Mensch erst durch eine unendliche Reihe von Enttäuschungen lernt. Resignation war sicher nicht mein Teil, Rebellion standen Jugend und Situation besser an. In unverblümter und sicher nicht sehr liebevoller Weise formulierte ich meine Absage an die häusliche Feier: „Ich mache diesen Klimbim nicht mehr mit!“ (Ebd., S. 17.)
Im selben Moment, in dem er diese schroffen Worte über die Lippen bringt, und noch lange Zeit danach, wenn auch nicht auf ewig, verspürt er Reue.
Die Lieder waren schön, der Baum war noch schöner, die Geschenke prächtig. Und alles roch so gut nach Wachs und Lebkuchen, nach gebratenen Äpfeln und Marzipan. [...] Und nun sollte all diese Herrlichkeit mit dem scheußlichen Wort „Klimbim“ abgetan werden. Es schnitt mir, wie auch meiner lieben Mutter, durchs Herz, und es entflammte den Zorn meiner Schwester. (Ebd., S. 18.)
Der Theaterkritiker Alfred Kerr hat in Bezug auf die jüdische Lebenswelt einmal die Unterscheidung zwischen Assimilierten und Assimilanten eingeführt. Ben-Chorin weiß, was seinen Entschluss zu einer so heiklen Angelegenheit macht:
Wir waren bereits Assimilierte und die Weihnachtsfeier in unserem Hause wurde nicht etwa programmatisch eingeführt, um ein sichtbares Zeichen der Angleichung an die Umwelt zu setzen. Es war eine Selbstverständlichkeit, dieses Fest zu feiern. Wir suchten auch zu Ostern buntgefärbte Eier im Garten und zu Nikolaus fehlten weder Nikolaus noch Knecht Ruprecht, um den kleinen Jungen zu erschrecken und zu beglücken. Der Rhythmus des Jahres mit seinen roten Kalenderzahlen war auch der Rhythmus unseres Lebens. [...] Der Mensch braucht Festzeiten und er will sie nicht allein begehen. Er will mit den Fröhlichen fröhlich sein und mit den Trauernden weinen. (Ebd., S. 18f.)
Ben-Chorin erklärt, dass bei allem Einklang mit der christlich geprägten Umwelt die Juden keineswegs alle ihre eigenen Feiertage verabschiedet hätten. Wie so viele gehören allerdings auch seine Eltern und er zu den sog. „Dreitagejuden“, die zumindest zwei Tage Neujahr (Rosch ha-Schana, Ende September/Anfang Oktober) und den Versöhnungstag (Jom Kippur, Ende September) feierlich begehen. Sie besuchen an diesen Tagen auch die Synagoge, doch man „verstand nichts von den hebräischen Gebeten und langweilte sich daher.“ (Ebd., S. 19.) Das Pendant zu ihnen ist der „Dreitagechrist“, der nur an Weihnachten, Karfreitag und Ostern sein Christentum pflegt. „Mir genügte das Dreitagejudentum nicht mehr. Ich wollte dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr meines Judentums bewußt sein, an das die Umwelt uns schmerzhaft genug erinnert hatte.“ (Ebd., S. 19.)
Bereits fünf Jahre zuvor, im Jahre 1923 des Hitlerputsches in München, schlug dem Zehnjährigen auf der Straße das erste Mal die Feindseligkeit gegenüber seinem Judentum entgegen. Die Welle der Aggression ebbte nochmals ab, um zehn Jahre später als Tsunami wiederzukehren. In dieser Zeit führt seine frühe Sensibilität den Heranwachsenden zu seinen Wurzeln zurück, will Fritz Rosenthal ergründen, woher seine Ahnen kommen, woher er kommt, und wo sie hingehen sollen. In der Weihnachtsnacht 1928 bricht dieses Ergründen-Wollen in dem 15-Jährigen mit aller Macht des jugendlichen Stürmer und Drängers hervor.
Meine Mutter sagte: „Wenn du nicht mit uns feiern willst, hast du hier keinen Platz mehr.“ Ich nahm es wörtlich, zog den Wintermantel an, setzte meine Schülermütze auf und – ging. Jetzt stand ich auf der verschneiten Oettingenstraße mit dem Rücken zum Elternhaus. Die Straße war sehr still. Der Schnee dämpfte die Schritte. In der Weihnachtsnacht gab es hier kaum Verkehr. Ab und zu bimmelte eine Trambahn. Vom benachbarten Türmchen des Vinzentinums schlug es halb acht Uhr. Ich war ratlos und wußte nicht, wohin ich meine Schritte wenden sollte. (Ebd., S. 21f.)
Ziellos streift er durch die Straßen, lässt seine Blicke entlang der Fenster streifen, hinter denen die Familien in ihren warmen Stuben am Weihnachtsbaum zusammensitzen – und ist dem Verzweifeln nahe.
Ich war dem Weinen nahe, steigerte mich etwas pathetisch in die Rolle des wandernden Juden. Meine symbolische Existenz geriet aber sehr rasch in Widerspruch zu den Unbilden der Witterung. Es begann zu schneien, ein eisiger Wind blies von der Isar her. Sollte ich etwa die Nacht im Freien zubringen, um als Märtyrer meiner Überzeugung zu erfrieren? Plötzlich kam mir der Gedanke, eine streng orthodoxe jüdische Familie aufzusuchen, denn ich war sicher, dort Verständnis zu finden. (Ebd., S. 22.)
Dem Jungen kommt die Familie Rotter in den Sinn, mit dessen etwa zehn Jahre älteren Sohn er eine Freundschaft pflegt, die den Charakter eines Lehrer-Schüler-Verhältnisses hat. Hier sieht er eine Möglichkeit, in die bis dato unbekannte Sphäre der jüdischen Religion einzutauchen und seine Wurzeln zu erschließen.
Die Familie saß noch beim Abendbrot, als ich zu ungewöhnlicher Stunde klingelte. Hier in diesem Hause spürte man nichts von Weihnachten. An den Wänden des Wohnzimmers standen in alten Regalen die riesigen Folianten des Talmud, der für mich ein verschlossenes Buch mit sieben Siegeln war. [...] Die Familie bestand nur aus dem erwachsenen Sohn, seiner früh gealterten Mutter und ihrer Schwester, einer gutherzigen, aber einfältigen alten Jungfer. Man kann sich das Erstaunen der braven Leute vorstellen, als ich ihnen mit dürren Worten darlegte, daß ich von zuhause geflohen sei, eigentlich hinausgeschmissen wurde. Was nun? Unter dem Einfluss des Sohnes war die Mutter immerhin bereit, mich für eine Nacht zu beherbergen – daraus aber sollte dann ein ganzes Jahr werden. (Ebd., S. 23.)
Weihnachten in München 1930 und 1949. Fotos: Bayerische Staatsbibliothek/Bildarchiv
Zwar gibt es seinerzeit in München nur eine jüdische Gemeinde, diese jedoch unterteilt sich in eine liberale Mehrheit und orthodoxe Minderheit. Insofern wechselt Ben-Chorin sozusagen die Fronten. Die Orthodoxen nehmen sich seiner an, wie seine ob des bockigen Verhaltens des Sohnes bestürzte Mutter sich weigert, den bei den Rotters wohnenden Sohn zu unterhalten. Und das Leben nach strengen 613 Geboten und Verboten wird für diesen zur Herausforderung. „Es begann damit, daß man am Morgen keine drei Schritte gehen durfte, ohne die Fingerspitzen mit einem Segensspruch im Wasser zu netzen.“ (Ebd., S. 24.) Vor dem Frühstück legt man die Gebetsriemen für die tägliche Andacht an sowie den Gebetsmantel, der im Laufe des Tages durch ein Leibchen unter dem Hemd ersetzt wird. Ben-Chorin erinnert sich daran, wie er in der Umkleide beim Turnunterricht von einem Mitschüler für dieses Utensil aufgezogen wird und daraufhin eine Rauferei mit diesem anzettelt. Die orthodoxen Regeln – wie das Schreibverbot am Schabbat – erschwert es den orthodoxen Kindern, dem Schulrhythmus zu folgen. Und doch gibt es auch naiv-kindliche Formen der Symbiose zwischen christlichen und orthodoxen Kindern. Als einer von Ben-Chorins orthodoxen Mitschülern heimlich ein Brot im Unterricht isst – was er ohne Kopfbedeckung eigentlich nicht dürfte – hält sein Bankhintermann ihm ein Blatt Papier über den Kopf. Die Koexistenz klappt hier, wie sie dort ihre Schwierigkeiten mit sich bringt. Doch an etwas anderem droht der orthodoxe Weg zunehmend zu scheitern:
In meiner neuen Umgebung bedrückte mich das oft seelenlose Zeremoniell, das ich nur schwer durchzustehen vermochte, aber andererseits erlebte ich mit offenen Sinnen die Schönheiten des jüdischen Jahres. Der Beginn des Sabbats, der Freitagabend, blieb, so geschult, für mich die Zäsur der Woche. Der Tisch war festlich gedeckt, die Sabbatlichter strahlten in silbernen Leuchtern, der silberne Kelch mit dem Segenswein stand neben den duftenden Sabbatbroten, die von einer Samtdecke verhüllt waren. All das hatte ich in meinem Elternhause nicht gesehen [...]. [Doch] [s]o schön der Freitagabend mit seinen Gebeten und Gesängen in meiner neuen Familie auch war, so wurde der Sabbat selbst doch oft zu einer Art Zwangsneurose. Nicht einmal einen Schlüssel durfte man bei sich tragen, ohne ihn mit einem Gürtel zu verknüpfen, einem sogenannten Sabbatgürtel, so daß der Schlüssel Bestandteil des Gürtels war. (Ebd., S. 26ff.)
Dabei steht im Neuen Testament: „Der Sabbat ist dem Menschen gegeben, nicht der Mensch dem Sabbat“ (Markus 2,27). Und der Talmud überliefert dieselbe Aussage: „Der Sabbat ist in euren Händen, denn es heißt: der Sabbat ist für euch.“ (Joma 85 b) Ben-Chorin wird später zu der Einsicht kommen, dass die Orthodoxie bzw. das gesetzestreue Judentum für ihn den Bogen überspannt und auf diese Weise
das an sich Richtige bis ins Absurde vortreibt. Aber ist nicht wiederum das Absurde Kennzeichen des Glaubens? Credo quia absurdum est, wie ein dem Tertullian zugeschriebenes Wort lauten soll. Und war nicht der tiefste religiöse Denker des 19. Jahrhunderts, Sören Kierkegaard, den mein unvergeßlicher Freund, der Dichter Max Brod, den „Matador des Paradoxen“ nannte, der Philosoph des Absurden? Aber es gibt Stufen des Absurden. [...] Hier [...] in der buchstäblichen und oft noch verschärften Erfüllung des Gesetzes, ging es nicht um das Pathos des Absurden, sondern um seine Trivialität. (Ebd., S. 28f.)
Vor seinem Ausriss in der Weihnachtsnacht des Jahres 1928 war es schon einmal zu einer jugendlichen Rebellion im Zusammenhang mit der alterstypischen Suche nach spiritueller Erweckung gekommen. Es scheint, als wäre der (Rück-)Weg zum liberalen Judentum, in dem sich Ben-Chorin noch als ein wichtiger Vermittler zwischen Juden und Christen erweisen sollte, schon hier vorgezeichnet worden. Kurz nach der Bar Mizwa, einem Zeremoniell ähnlich der Konfirmation, mit dem die Aufnahme eines Jugendlichen im Alter von 12 oder 13 Jahren in die Gemeinde erfolgt, wird Ben-Chorin auf eigenen Wunsch hin in eine Lehranstalt bei Würzburg entsandt, die Präparandie des jüdischen Lehrerseminars. Diese erweist sich als ein unwirtlicher, muffiger Ort, an dem „sich jüdische Gesetzlichkeit und bayerischer Kasernenhofton höchst unerfreulich ergänzten.“ (Ebd., S. 37.) Ben-Chorin weiß eine äußerst amüsante Anekdote aus dieser Zeit zu erzählen:
Wir waren in einem elenden Quartier nahe dem Bockshaus der Gemeinde untergebracht. [...] Die Örtlichkeit befand sich außerhalb des Wohnquartiers auf dem Hofe, was uns natürlich zu unpraktisch war, so daß sich die Zimmergenossen nächtlich ungeniert am offenen Fenster erleichterten. Das führte zu einem peinlichen Zwischenfall: Als der Direktor in der Abendkühle seinen Spaziergang unter unserem Fenster absolvierte, ergoß sich auf ihn der Strahl eines meiner Mitschüler […]. Der Übeltäter wurde also in das Rektoratszimmer zitiert und scharf verwarnt. Er hatte aber die Stirn, sein unsittliches Betragen rituell zu entkräften, indem er sagte: „Wenn der Herr Direktor nicht ohne Hut gegangen wäre, was für einen frommen Juden verboten ist, wäre ihm nicht passiert, was nun geschehen ist.“ (Ebd., S. 37.)
Diese aufmüpfige Antwort hat zur Folge, dass der Schüler unmittelbar entlassen wird. Er setzt am Tag seines Abgangs noch einen oben drauf und versteigert unter seinen Mitschülern seinen Gebetsriemen und Mantel. (Der Mann hat es übrigens trotzdem zum Universitätsprofessor gebracht.) Ben-Chorin zieht aus dem Vorfall ebenfalls Konsequenzen und macht sich mit seinem Koffer zu Fuß auf zum Würzburger Bahnhof, um nach Hause zu fahren und dieser Schule den Rücken zu kehren.
Dort erwartete mich bereits einer der Lehrer, um mir ins Gewissen zu reden. Statt einer Antwort kaufte ich mir ein paar Würstchen und verspeiste sie vor den entsetzten Blicken des Pädagogen. Die Würstchen waren natürlich alles andere als koscher, denn sie stammten vom verpönten Borstentier, vom Schwein. [...] [I]ch wollte auf diese Weise bekunden, daß ich mit dieser orthodoxen Zwangserziehungsanstalt nichts mehr gemeinsam hatte. Ich bereute meine unreife Brüskierung meiner Lehrer zwar sehr bald, aber ich konnte meine Absage damals nicht anders zeigen. Die Wege des suchenden Menschen verlaufen nicht geradlinig. Das Erhabene und das Lächerliche liegen nah beieinander und immer wieder gilt, was Conrad Ferdinand Meyer über seine Dichtung Huttens letzte Tage setzte: Ich bin kein ausgeklügelt Buch, / Ich bin ein Mensch mit seinem Widerspruch. (Ebd., S. 38.)
Zugleich dürfte dieser Widerspruch genau die Voraussetzung dafür gewesen sein, dass Ben-Chorin zum wichtigen Brückenbauer zwischen Christentum und Judentum werden sollte. Erst dadurch vermochte er beide Seiten kennen und verstehen zu lernen. Schließlich muss jeder Brückenbauer die beiden Ufer erst einmal sondiert haben, bevor er diese miteinander verbinden kann.