Lyrikkolumne: Über ein Gedicht von Karin Fellner
Die 137. Ausgabe der Zeitschrift Literatur in Bayern schreibt Pia-Elisabeth Leuschner, Mitarbeiterin des Lyrik Kabinetts München, über ein Gedicht der Münchner Lyrikerin Karin Fellner – als Beginn einer neuen Lyrik-Kolumne in dieser Zeitschrift: Bayerische Kleinode.
*
Federung, komplementär
Wenn eins sich verliert ins Driften, über den Block und weg,
steht’s andere vielgliedrig im Alltagssturm, hält fest.
Wird’s andere k-fach knotig, knurrt und verkrallt,
streicht eins alle Zollstationen aus dem nächtlichen Wald.
Entfernen eins und ’s andere sich voneinander, zieht
etwas hin, zu, zurück an jenem disjunkten Weg.
Sagen eins und ’s andere zugleich: »Du bist mein Ko.«
(ergänze: -sen, -libri, -bold.)
Aus: Karin Fellner, eins: zum andern (Parasitenpresse 2019), S. 42
»… Welt ist – beziehungsweise …«: Dieses Fragment eines Alltagssatzes, en passant aufgeschnappt, verwandelt Karin Fellner – in einem anderen als dem hier abgedruckten Gedicht – durch eine winzige Rückung vom Klein- zum Großbuchstaben in jenes Zentralthema, über das ihr vierter Gedichtband faszinierend klug nachdenkt: »Welt ist Beziehungsweise«, d.h. ist unentrinnbar eine Form, mit anderen in Beziehung zu treten.
Alles – Schatten und Licht, Angst und Zuversicht, A und O – ist solcherart dialektisch verstrebt und gewinnt nur daraus Kontur. Das weiß und zeigt nicht zuletzt der Titel jenes Bandes: eins: zum andern. Denn der Doppelpunkt legt eine Hebung der Stimme nahe, die hinführt auf etwas, das dann als Erklärung oder Weiterführung angeschlossen wird. Wer so »eins« sagt, dessen Stimme kommt erst wieder zu Senkung und Ruhe, wenn sie »zum andern« gefunden hat.
»Federung, komplementär« ist eines der innigsten Liebesgedichte jenes Bandes: acht Verse von (sobald man ihre Grundbewegung verstanden hat) beglückender und kristalliner Einfachheit. Denn wenn »eins« der Liebenden die Bodenhaftung verliert und wegzudriften droht, »steht’s andere« (um das hier mitklingende Echo aus Goethes »Grenzen der Menschheit« zu zitieren) »mit festen, / Markigen Knochen / Auf der wohlbegründeten, / […] Erde« und gibt Halt in den Turbulenzen des Alltags.
Und wenn umgekehrt jenes »andere« – vielleicht »Kik«, dem der Band gewirdmet ist – sich leidvoll und lautmalerisch knurrig in sich selbst verkrallt, streicht wiederum jenes eine »alle Zollstationen aus dem nächtlichen Wald«, wie man abendliche Pflichttermine streicht und Kontrollinstanzen nicht mehr gelten lässt, um dem Partner beizustehen. Und wann immer die beiden sich voneinander entfernen, zieht etwas sie wieder zueinander hin und zurück – weil getrennte Wege zu gehen so befremdlich ist wie das Fremdwort »disjunkt« innerhalb dieses planvoll schlichten Sprechens (das etwa – die Umgangssprache imitierend – Vokale verschluckt).
Wenn nun zwei gleichzeitig dasselbe sagen – so will’s der Volksmund –, bleiben sie ein weiteres Jahr zusammen. Hier bezeugen sie dabei einzig jenes Bezogen-Sein selbst, worin jeder den anderen als »Ko(mplementär)« schätzt. So ist diesem Bekenntnis vieles ergänzend hinzudenken: die Abgeklärtheit des Zen in Kosen, Bücher (lat. libri) in die flirrend-flüchtige Augenweide eines Vogel-Winzlings und mitunter eben auch mut- oder böswillige Koboldhaftigkeit (von k.o., Koitus oder Kohinoor ganz zu schweigen …). Fest steht allein, DASS beide sich wechselseitig ergänzen und in allen Gravitationen des Lebens abfedern. Derart beziehungs-weise ist die anderweitige Welt leider selten.
*
Karin Fellner, geboren 1970, lebt in München als freie Autorin, Lektorin und gefragte Leiterin von Schreibworkshops für Jugendliche (u.a. Literaturhaus München, Lyrik Kabinett). Für ihre bislang vier Gedichtbände wurde sie mehrfach ausgezeichnet, jüngst mit einem Arbeitsstipendium des Freistaats Bayern (2018).
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Die 137. Ausgabe der Zeitschrift Literatur in Bayern schreibt Pia-Elisabeth Leuschner, Mitarbeiterin des Lyrik Kabinetts München, über ein Gedicht der Münchner Lyrikerin Karin Fellner – als Beginn einer neuen Lyrik-Kolumne in dieser Zeitschrift: Bayerische Kleinode.
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Federung, komplementär
Wenn eins sich verliert ins Driften, über den Block und weg,
steht’s andere vielgliedrig im Alltagssturm, hält fest.
Wird’s andere k-fach knotig, knurrt und verkrallt,
streicht eins alle Zollstationen aus dem nächtlichen Wald.
Entfernen eins und ’s andere sich voneinander, zieht
etwas hin, zu, zurück an jenem disjunkten Weg.
Sagen eins und ’s andere zugleich: »Du bist mein Ko.«
(ergänze: -sen, -libri, -bold.)
Aus: Karin Fellner, eins: zum andern (Parasitenpresse 2019), S. 42
»… Welt ist – beziehungsweise …«: Dieses Fragment eines Alltagssatzes, en passant aufgeschnappt, verwandelt Karin Fellner – in einem anderen als dem hier abgedruckten Gedicht – durch eine winzige Rückung vom Klein- zum Großbuchstaben in jenes Zentralthema, über das ihr vierter Gedichtband faszinierend klug nachdenkt: »Welt ist Beziehungsweise«, d.h. ist unentrinnbar eine Form, mit anderen in Beziehung zu treten.
Alles – Schatten und Licht, Angst und Zuversicht, A und O – ist solcherart dialektisch verstrebt und gewinnt nur daraus Kontur. Das weiß und zeigt nicht zuletzt der Titel jenes Bandes: eins: zum andern. Denn der Doppelpunkt legt eine Hebung der Stimme nahe, die hinführt auf etwas, das dann als Erklärung oder Weiterführung angeschlossen wird. Wer so »eins« sagt, dessen Stimme kommt erst wieder zu Senkung und Ruhe, wenn sie »zum andern« gefunden hat.
»Federung, komplementär« ist eines der innigsten Liebesgedichte jenes Bandes: acht Verse von (sobald man ihre Grundbewegung verstanden hat) beglückender und kristalliner Einfachheit. Denn wenn »eins« der Liebenden die Bodenhaftung verliert und wegzudriften droht, »steht’s andere« (um das hier mitklingende Echo aus Goethes »Grenzen der Menschheit« zu zitieren) »mit festen, / Markigen Knochen / Auf der wohlbegründeten, / […] Erde« und gibt Halt in den Turbulenzen des Alltags.
Und wenn umgekehrt jenes »andere« – vielleicht »Kik«, dem der Band gewirdmet ist – sich leidvoll und lautmalerisch knurrig in sich selbst verkrallt, streicht wiederum jenes eine »alle Zollstationen aus dem nächtlichen Wald«, wie man abendliche Pflichttermine streicht und Kontrollinstanzen nicht mehr gelten lässt, um dem Partner beizustehen. Und wann immer die beiden sich voneinander entfernen, zieht etwas sie wieder zueinander hin und zurück – weil getrennte Wege zu gehen so befremdlich ist wie das Fremdwort »disjunkt« innerhalb dieses planvoll schlichten Sprechens (das etwa – die Umgangssprache imitierend – Vokale verschluckt).
Wenn nun zwei gleichzeitig dasselbe sagen – so will’s der Volksmund –, bleiben sie ein weiteres Jahr zusammen. Hier bezeugen sie dabei einzig jenes Bezogen-Sein selbst, worin jeder den anderen als »Ko(mplementär)« schätzt. So ist diesem Bekenntnis vieles ergänzend hinzudenken: die Abgeklärtheit des Zen in Kosen, Bücher (lat. libri) in die flirrend-flüchtige Augenweide eines Vogel-Winzlings und mitunter eben auch mut- oder böswillige Koboldhaftigkeit (von k.o., Koitus oder Kohinoor ganz zu schweigen …). Fest steht allein, DASS beide sich wechselseitig ergänzen und in allen Gravitationen des Lebens abfedern. Derart beziehungs-weise ist die anderweitige Welt leider selten.
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Karin Fellner, geboren 1970, lebt in München als freie Autorin, Lektorin und gefragte Leiterin von Schreibworkshops für Jugendliche (u.a. Literaturhaus München, Lyrik Kabinett). Für ihre bislang vier Gedichtbände wurde sie mehrfach ausgezeichnet, jüngst mit einem Arbeitsstipendium des Freistaats Bayern (2018).