Ein Streifzug durch die bairische Literatur zum Ersten Weltkrieg
Spiegel bayerischer Literatur und Kultur, fundiert und unterhaltsam, Essays, Prosatexte und Gedichte von prominenten und unbekannten Autoren: Das ist die Zeitschrift Literatur in Bayern. In der 137. Ausgabe mit dem Schwerpunt Krieg und Frieden nähert sich Hannes S. Macher dem Ersten Weltkrieg auf literarischen Spuren durch Bayern.
*
In der »Unlust an der Kultur«, dem tief verwurzelten »Verlangen, einmal aus der bürgerlichen Welt der Gesetze und Paragraphen auszubrechen und die uralten Blutinstinkte auszutoben«, hat Stefan Zweig den »unheimlichen, in Worten kaum zu schildernden Rausch von Millionen« zu Beginn des Ersten Weltkriegs zu erklären versucht.
Taumelnd stürzten sich nicht nur die Volksmassen nach den Kriegserklärungen in den ersten Augusttagen 1914 an die Front und in die Schlachten, sondern auch Intellektuelle jubelten: Max Reger aus Weiden beispielsweise komponierte eine Vaterländische Ouvertüre, gewidmet »Dem deutschen Heer«. Franz Marc, der in Sindelsdorf unweit des Kochelsees als »Blauer Reiter« die Malerei revolutionierte und 1916 als Kriegsfreiwilliger mit 36 Jahren bei Verdun den »Heldentod« starb, war bei Kriegsausbruch davon überzeugt: »Um Reinigung wird der Krieg geführt und das kranke Blut vergossen«. Und Lovis Corinth, oberhalb des Walchensees residierend, meinte, dass die Kriegserklärung »zündend« eingeschlagen habe und der Welt zeige, »daß heute deutsche Kunst an der Spitze der Welt marschiert«.
An vorderster Literatenfront natürlich Ludwig Thoma, der in seinem Gedicht mit dem Titel Endlich mit unbändiger Freude über den Kriegsbeginn gejuchzt hat:
»[...] Jetzt, Michel, in die Hand gespuckt!
Und nimm den gröbsten Stecken!
Wie oft hat dir die Faust gejuckt!
Jetzt endlich kann es flecken –
Jetzt hau ihm – hau ihm auf den Kopf
Und zeig mit jedem Hiebe
Dem unverschämten, eitlen Tropf
Die lang verhalt’ne Liebe.«
(Aus: L.T.: Gesammelte Werke, Band 1, München 1928, S. 542f.)
Und weil ihm selbst die Faust ganz gewaltig gejuckt hat, spuckte er nochmals kräftig in die Hände, um Eine Boarische (bei Metz) gleich hinterher zu schicken, die in keiner Werkausgabe aufgenommen, aber nach der Veröffentlichung im Simplicissimus als Postkarte vertrieben wurde. Als Illustrator für dieses nationalistische Gegeifer gewann er den ansonsten Bauernlackel, Wirtshaushocker und ostelbische Junker kongenial karikierenden Eduard Thöny.
»De Fahna her!
Und nieder ’s G’wehr!
Franzos’n, kemma wieder z’samm?
Des werd’s uns net vagess’n hamm!
Was boarisch is,
Des wißt’s as g’wißs!
Und ’s is no heut,
Wia’s g'wes’n is zur Vaterszeit,
De sell’n habt’s kennt
Und habt’s as blaue Teufi g’nennt.
Heut san ma grau
Und nimma blau,
De Teufi aba san ma blieb’n
Und hamm’s enk ins Gedächtnis g’schrieb’n.«
Bereits am 31. Juli und nochmals am 2. August meldete sich Thoma als Kriegsfreiwilliger zum Sanitätsdienst an die Front. Er musste freilich bis zum April 1915 warten und schrieb in der Zwischenzeit nicht nur weitere Pamphlete, sondern auch die beiden von Larmoyanz triefenden, aber auch (bei den Frauenrollen) mit einigen nachdenklich stimmenden Untertönen durchsetzten Kriegspropaganda-Einakter Der erste August (»Was sei muaß, soll ma frisch o’packa«) und Christnacht 1914.
Aus dem Autor, der in seinen Gedichten und Satiren nicht nur den preußischen Militarismus und die Flottenpolitik unter Wilhelm I., sondern auch das Säbelrasseln der europäischen Mächte anprangerte, wurde der Kriegsapologet und Hetzer gegen das »perfide Albion« und den »Erbfeind Frankreich«. Die Simplicissimus-Redaktion war über die neue Ausrichtung der Zeitschrift unter ihrem Chefredakteur Thoma gespalten, verhöhnte ihn jedoch, als er im August 1915, nach einer Ruhrerkrankung, als kriegsuntauglich nach Hause zurückkehren musste.
Selbst Rainer Maria Rilke, eigentlich Feingeist und immerhin der Verfasser der Duineser Elegien und der Sonette an Orpheus, glaubte am 2. und 3. August 1914 in seinen Fünf Gesängen den Kriegsgott verherrlichen und die Mütter auffordern zu müssen, ihre Söhne in den Krieg zu schicken.
»[...] Endlich ein Gott. Da wir den friedlichen oft
nicht mehr ergriffen, ergreift uns plötzlich der Schlacht- Gott,
schleudert den Brand: und über dem Herzen voll Heimat
schreit, den er donnernd bewohnt, sein rötlicher Himmel.
[...]
Heil mir, daß ich Ergriffene sehe. Schon lange
war uns das Schauspiel nicht wahr
und das erfundene Bild sprach nicht entscheidend uns an.
[...]
Einmal schon, da ihr gebart, empfandet ihr Trennung,
Mütter, –
empfindet auch wieder das Glück, daß ihr die Gebenden seid.
Gebt wie Unendliche, gebt. Seid diesen treibenden Tagen
eine reiche Natur. Segnet die Söhne hinaus. [...]«
(Aus: Kriegs-Almanach 1915, Leipzig, Insel-Verlag 1915)
Keinen Segen erteilte dagegen Erich Mühsam dem beginnenden Morden. Am 3./4. August 1914 vertraute er voll Abscheu und schrecklicher Vorahnungen seinem Tagebuch an: »[...] Es ist Krieg. Alles Fürchterliche ist entfesselt. Seit einer Woche ist die Welt verwandelt. Seit 3 Tagen rasen die Götter. Wie furchtbar sind diese Zeiten! Wie schrecklich nah ist uns allen der Tod! Immer und immer wieder hat mich der Gedanke an Krieg beschäftigt. Ich versuchte, mir ihn auszumalen, mit seinen Schrecken, ich schrieb gegen ihn, weil ich seine Entsetzlichkeit zu fassen wähnte. Jetzt ist er da. Ich sehe starke schöne Menschen einzeln und in Truppen in Kriegsbereitschaft die Straßen durchziehn. Ich drücke Dutzenden täglich zum Abschied die Hand, ich weiß nahe Freunde und Bekannte auf der Reise ins Feld oder bereit auszuziehn, [...] weiß, daß viele nicht zurückkehren werden, lese Depeschen und Nachrichten, die – jetzt schon, ehe noch die Katastrophe eingesetzt hat, – einem das Herz aufschreien machen, ich sehe alles schaudervoll nahe und viel schlimmer noch in der Realität, als die theoretisierende Phantasie es ausdachte. [...] Ich, der Anarchist, der Antimilitarist, der Feind der nationalen Phrase, der Antipatriot und hassende Kritiker der Rüstungsfurie.«
Und einen Tag später, in der Nacht vom 4. auf den 5. August, notierte Mühsam in seinem Tagebuch: »[...] Eine entsetzliche Botschaft steht auf den Anschlagtafeln: Kurz nach 7 Uhr (also vor noch nicht 6 Stunden) erschien in Berlin der englische Botschafter im Auswärtigen Amt, um Deutschland den Krieg zu erklären. [...] Krieg mit England! Der ist der Schlimmste! Wie das ertragen werden kann, – ich habe graue Zweifel. [...] Krieg! Tod! Nacht über die Welt! Es ist schaurig, es ist unausdenkbar. [...]« (Aus: E. M.: Tagebücher, Band 3, Berlin 2012, S. 140 ff.)
Was bei Mühsam noch als Schreckensvision erscheint, haben Georg Trakl in Grodek (1914) und Bert Brecht in seinem Gedicht Der belgische Acker (1915) als grausame Realität dargestellt, nachdem Frank Wedekind in seinem Chanson Die Diplomaten den Unwillen der europäischen Regierungen, den Frieden zu erhalten, mit Witz und Sarkasmus angeprangert hatte: »[...] Sag an, wie nennen sich / Die Herrn, die uns das taten? / Diplomaten! / Schwaches Herz und kühne Stirn, / Großes Maul und kleines Hirn! [...]«
Vor allem Ernst Toller hat das fürchterliche Morden in den Schützengräben erleben müssen: »Durch einen dieser zerschossenen Wälder [...] ziehen sich die Schützengräben der Franzosen und der Deutschen. Wir liegen so nahe beieinander, dass wir, steckten wir die Köpfe aus den Gräben, miteinander sprechen könnten, ohne unsere Stimme zu erheben. Wir schlafen aneinandergekauert in schlammigen Unterständen, von den Wänden rinnt Wasser, an unserem Brot nagen die Ratten. [...] Heute sind wir zehn Mann, morgen acht, zwei haben Granaten zerfleischt. Wir begraben unsere Toten nicht. Wir setzen sie in die kleinen Nischen, die in die Grabenwand geschachtet sind für uns zum Ausruhen. Wenn ich geduckt durch den Graben schleiche, weiß ich nicht, ob ich an einem Toten oder einem Lebenden vorübergehe. Hier haben Leichen und Lebende die gleichen graugelben Gesichter. Nicht immer müssen wir nach einem Platz für die Toten suchen. Oft werden ihre Körper so zerrissen, dass nur ein Fetzen Fleisch, an einem Beinstumpf klebend, an sie erinnert. Oder sie verröcheln im Drahtverhau zwischen den Gräben. Oder wenn Minen ein Grabenstück in die Luft sprengen, wird die Erde selbst zum Totengräber. Dreihundert Meter rechts von uns, im Hexenkessel, liegt an einem Blockhaus, das zwanzigmal Besitz der Deutschen, zwanzigmal Besitz der Franzosen war, ein Haufen Leichen. Die Körper sind ineinander verschlungen wie in großer Umarmung. Ein furchtbarer Gestank ging davon aus, jetzt bedeckt alle die gleiche dünne Decke weißen Ätzkalks. [...]« (Aus: E. T.: Eine Jugend in Deutschland, Reinbek 1963, S. 48 f.)
Den anderen Pazifisten Oskar Maria Graf nicht zu vergessen, der bekanntlich nach Befehlsverweigerung, verschärftem Arrest, Hungerstreik und Zusammenbruch im Feldlazarett als geistesgestört in die Heimat entlassen wurde. Das war ja auch sein längst erstrebtes Ziel als Kriegsgegner. Als er am 1. Dezember 1914 zum Militär eingezogen und an die Ostfront beordert wurde, bekannte er: »Vom ersten Tag meines Soldatendaseins an überlegte ich stets nur das eine: Wie kannst du diesem Zwang, dieser Sinnlosigkeit entrinnen? Ich entwickelte in meiner Abwehr eine derart instinktsichere, abgebrühte Energie, daß ich manchmal über mich selbst staunte. Es wurde unmöglich, mich regelrecht militärisch auszubilden. Ich war nicht nur ein schlechter, ich war überhaupt kein Soldat!« (Aus: O. M. G.: Das Leben meiner Mutter, München 1984, S. 433)
Ob Thomas Mann, der im Sommer 1917 gerade an seinem Zauberberg feilte, diese Realität und das Elend nicht nur in den Schützengräben, sondern auf allen Kriegsschauplätzen auch bedacht hat, als er das von seinen Kindern so geliebte Landhaus in Bad Tölz verkaufte, um mit dem größten Teil des Erlöses Kriegsanleihen zu zeichnen, darf bezweifelt werden. Denn er hat nicht nur in seinem Essay Friedrich und die große Koalition die Durchführung des Schlieffen-Plans, den völkerrechtswidrigen Marsch der deutschen Truppen durch das neutrale Belgien in Richtung Frankreich, verteidigt, sondern auch im Brief vom 18. September 1914 an seinen Bruder Heinrich den Krieg als »einen großen, grundanständigen, ja feierlichen Volkskrieg« bezeichnet. Doch Glück für ihn – und für die deutsche Literatur! – , dass ihn ein Stabsarzt, »ein offenbar ziviler und den schönen Wissenschaften blindlings ergebener Mann«, bei der Musterung vor der Einberufung bewahrt hat, wie Wolfgang Frühwald in seinem profunden und stilistisch – wie immer – funkelnden Essay Das große Morden – Der Erste Weltkrieg in der Literatur voll Sarkasmus feststellte.
Ebenso realistisch wie auch höchst anrührend hat Lena Christ in ihrer Erzählung Es ist ein Schnitter ... jedenfalls die Stimmung in einem bayerischen Dorf eingefangen, nachdem die ersten Gefallenen bereits zu beklagen, die Jugendlichen jedoch von der Kriegseuphorie noch infiziert waren.
»[...] Aber da sitzt die Großmutter am Tisch, hat die alte Hornbrille in der einen Hand, ein Papier in der andern ... und auf dem Papier steht: ›Mutter, der Martl liegt tot in Rufgland. Ich bin verwundet im Lazarett. ‹ Starr sitzt sie – ihr Blick aber ruht auf einer alten Zeitung am Tisch. Da stehen die endsgroßen Buchstaben der Aufschrift: ›Hundertfünfzigtausend Russen liegen tot in den masurischen Seen – hunderttausend sind gefangen ... ‹ Und langsam legt sie den Brief aus der Hand, schaut auf das Kind und wieder auf die Zeitung. Und setzt langsam wieder die Hornbrille auf und starrt vor sich hin und schlingt die Finger ineinander wie zum Beten. Dann nimmt sie das uralte, abgegriffene Betbuch vom Fensterbrett, schlägt es auf, setzt das Kind auf ihren Schoß und liest. [...] Das Kind springt plötzlich vom Schoß der Alten und läuft hinaus, denn Gesang wird laut von der Straße her. Und es zieht ein Häuflein Wehrkraftbuben, von einer Übung heimkehrend, gegen den Bahnhof; sie schwenken den mit Tannenreis geschmückten Hut, begrüßen die Bauern, denen sie im Herbst mit frischer Hand die Ernte eingebracht, die Erdäpfel vom Feld geholt und den Traid gedroschen – und singen mit heller Stimme:
›Kein schönrer Tod ist in der Welt,
Als wer vom Feind erschlagen,
Auf grüner Heid – im breiten Feld,
Darf nicht hörn groß Wehklagen. ‹«
(Aus: L. Ch.: Unsere Bayern anno 14, München 1942, S. 46 ff.; Neuauflage München 2014, Allitera Verlag)
Das schreckliche Ende dieser »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts« (George F. Kennan) ist bekannt: Mindestens achteinhalb Millionen tote Soldaten, mehr als 21 Millionen Verwundete, zerstörte Städte, verwüstete Landschaften und Millionen vom Krieg Traumatisierte. Die Welt war 1914 aus den Fugen geraten und die Apokalypse hatte über die Vernunft gesiegt.
Ein Streifzug durch die bairische Literatur zum Ersten Weltkrieg>
Spiegel bayerischer Literatur und Kultur, fundiert und unterhaltsam, Essays, Prosatexte und Gedichte von prominenten und unbekannten Autoren: Das ist die Zeitschrift Literatur in Bayern. In der 137. Ausgabe mit dem Schwerpunt Krieg und Frieden nähert sich Hannes S. Macher dem Ersten Weltkrieg auf literarischen Spuren durch Bayern.
*
In der »Unlust an der Kultur«, dem tief verwurzelten »Verlangen, einmal aus der bürgerlichen Welt der Gesetze und Paragraphen auszubrechen und die uralten Blutinstinkte auszutoben«, hat Stefan Zweig den »unheimlichen, in Worten kaum zu schildernden Rausch von Millionen« zu Beginn des Ersten Weltkriegs zu erklären versucht.
Taumelnd stürzten sich nicht nur die Volksmassen nach den Kriegserklärungen in den ersten Augusttagen 1914 an die Front und in die Schlachten, sondern auch Intellektuelle jubelten: Max Reger aus Weiden beispielsweise komponierte eine Vaterländische Ouvertüre, gewidmet »Dem deutschen Heer«. Franz Marc, der in Sindelsdorf unweit des Kochelsees als »Blauer Reiter« die Malerei revolutionierte und 1916 als Kriegsfreiwilliger mit 36 Jahren bei Verdun den »Heldentod« starb, war bei Kriegsausbruch davon überzeugt: »Um Reinigung wird der Krieg geführt und das kranke Blut vergossen«. Und Lovis Corinth, oberhalb des Walchensees residierend, meinte, dass die Kriegserklärung »zündend« eingeschlagen habe und der Welt zeige, »daß heute deutsche Kunst an der Spitze der Welt marschiert«.
An vorderster Literatenfront natürlich Ludwig Thoma, der in seinem Gedicht mit dem Titel Endlich mit unbändiger Freude über den Kriegsbeginn gejuchzt hat:
»[...] Jetzt, Michel, in die Hand gespuckt!
Und nimm den gröbsten Stecken!
Wie oft hat dir die Faust gejuckt!
Jetzt endlich kann es flecken –
Jetzt hau ihm – hau ihm auf den Kopf
Und zeig mit jedem Hiebe
Dem unverschämten, eitlen Tropf
Die lang verhalt’ne Liebe.«
(Aus: L.T.: Gesammelte Werke, Band 1, München 1928, S. 542f.)
Und weil ihm selbst die Faust ganz gewaltig gejuckt hat, spuckte er nochmals kräftig in die Hände, um Eine Boarische (bei Metz) gleich hinterher zu schicken, die in keiner Werkausgabe aufgenommen, aber nach der Veröffentlichung im Simplicissimus als Postkarte vertrieben wurde. Als Illustrator für dieses nationalistische Gegeifer gewann er den ansonsten Bauernlackel, Wirtshaushocker und ostelbische Junker kongenial karikierenden Eduard Thöny.
»De Fahna her!
Und nieder ’s G’wehr!
Franzos’n, kemma wieder z’samm?
Des werd’s uns net vagess’n hamm!
Was boarisch is,
Des wißt’s as g’wißs!
Und ’s is no heut,
Wia’s g'wes’n is zur Vaterszeit,
De sell’n habt’s kennt
Und habt’s as blaue Teufi g’nennt.
Heut san ma grau
Und nimma blau,
De Teufi aba san ma blieb’n
Und hamm’s enk ins Gedächtnis g’schrieb’n.«
Bereits am 31. Juli und nochmals am 2. August meldete sich Thoma als Kriegsfreiwilliger zum Sanitätsdienst an die Front. Er musste freilich bis zum April 1915 warten und schrieb in der Zwischenzeit nicht nur weitere Pamphlete, sondern auch die beiden von Larmoyanz triefenden, aber auch (bei den Frauenrollen) mit einigen nachdenklich stimmenden Untertönen durchsetzten Kriegspropaganda-Einakter Der erste August (»Was sei muaß, soll ma frisch o’packa«) und Christnacht 1914.
Aus dem Autor, der in seinen Gedichten und Satiren nicht nur den preußischen Militarismus und die Flottenpolitik unter Wilhelm I., sondern auch das Säbelrasseln der europäischen Mächte anprangerte, wurde der Kriegsapologet und Hetzer gegen das »perfide Albion« und den »Erbfeind Frankreich«. Die Simplicissimus-Redaktion war über die neue Ausrichtung der Zeitschrift unter ihrem Chefredakteur Thoma gespalten, verhöhnte ihn jedoch, als er im August 1915, nach einer Ruhrerkrankung, als kriegsuntauglich nach Hause zurückkehren musste.
Selbst Rainer Maria Rilke, eigentlich Feingeist und immerhin der Verfasser der Duineser Elegien und der Sonette an Orpheus, glaubte am 2. und 3. August 1914 in seinen Fünf Gesängen den Kriegsgott verherrlichen und die Mütter auffordern zu müssen, ihre Söhne in den Krieg zu schicken.
»[...] Endlich ein Gott. Da wir den friedlichen oft
nicht mehr ergriffen, ergreift uns plötzlich der Schlacht- Gott,
schleudert den Brand: und über dem Herzen voll Heimat
schreit, den er donnernd bewohnt, sein rötlicher Himmel.
[...]
Heil mir, daß ich Ergriffene sehe. Schon lange
war uns das Schauspiel nicht wahr
und das erfundene Bild sprach nicht entscheidend uns an.
[...]
Einmal schon, da ihr gebart, empfandet ihr Trennung,
Mütter, –
empfindet auch wieder das Glück, daß ihr die Gebenden seid.
Gebt wie Unendliche, gebt. Seid diesen treibenden Tagen
eine reiche Natur. Segnet die Söhne hinaus. [...]«
(Aus: Kriegs-Almanach 1915, Leipzig, Insel-Verlag 1915)
Keinen Segen erteilte dagegen Erich Mühsam dem beginnenden Morden. Am 3./4. August 1914 vertraute er voll Abscheu und schrecklicher Vorahnungen seinem Tagebuch an: »[...] Es ist Krieg. Alles Fürchterliche ist entfesselt. Seit einer Woche ist die Welt verwandelt. Seit 3 Tagen rasen die Götter. Wie furchtbar sind diese Zeiten! Wie schrecklich nah ist uns allen der Tod! Immer und immer wieder hat mich der Gedanke an Krieg beschäftigt. Ich versuchte, mir ihn auszumalen, mit seinen Schrecken, ich schrieb gegen ihn, weil ich seine Entsetzlichkeit zu fassen wähnte. Jetzt ist er da. Ich sehe starke schöne Menschen einzeln und in Truppen in Kriegsbereitschaft die Straßen durchziehn. Ich drücke Dutzenden täglich zum Abschied die Hand, ich weiß nahe Freunde und Bekannte auf der Reise ins Feld oder bereit auszuziehn, [...] weiß, daß viele nicht zurückkehren werden, lese Depeschen und Nachrichten, die – jetzt schon, ehe noch die Katastrophe eingesetzt hat, – einem das Herz aufschreien machen, ich sehe alles schaudervoll nahe und viel schlimmer noch in der Realität, als die theoretisierende Phantasie es ausdachte. [...] Ich, der Anarchist, der Antimilitarist, der Feind der nationalen Phrase, der Antipatriot und hassende Kritiker der Rüstungsfurie.«
Und einen Tag später, in der Nacht vom 4. auf den 5. August, notierte Mühsam in seinem Tagebuch: »[...] Eine entsetzliche Botschaft steht auf den Anschlagtafeln: Kurz nach 7 Uhr (also vor noch nicht 6 Stunden) erschien in Berlin der englische Botschafter im Auswärtigen Amt, um Deutschland den Krieg zu erklären. [...] Krieg mit England! Der ist der Schlimmste! Wie das ertragen werden kann, – ich habe graue Zweifel. [...] Krieg! Tod! Nacht über die Welt! Es ist schaurig, es ist unausdenkbar. [...]« (Aus: E. M.: Tagebücher, Band 3, Berlin 2012, S. 140 ff.)
Was bei Mühsam noch als Schreckensvision erscheint, haben Georg Trakl in Grodek (1914) und Bert Brecht in seinem Gedicht Der belgische Acker (1915) als grausame Realität dargestellt, nachdem Frank Wedekind in seinem Chanson Die Diplomaten den Unwillen der europäischen Regierungen, den Frieden zu erhalten, mit Witz und Sarkasmus angeprangert hatte: »[...] Sag an, wie nennen sich / Die Herrn, die uns das taten? / Diplomaten! / Schwaches Herz und kühne Stirn, / Großes Maul und kleines Hirn! [...]«
Vor allem Ernst Toller hat das fürchterliche Morden in den Schützengräben erleben müssen: »Durch einen dieser zerschossenen Wälder [...] ziehen sich die Schützengräben der Franzosen und der Deutschen. Wir liegen so nahe beieinander, dass wir, steckten wir die Köpfe aus den Gräben, miteinander sprechen könnten, ohne unsere Stimme zu erheben. Wir schlafen aneinandergekauert in schlammigen Unterständen, von den Wänden rinnt Wasser, an unserem Brot nagen die Ratten. [...] Heute sind wir zehn Mann, morgen acht, zwei haben Granaten zerfleischt. Wir begraben unsere Toten nicht. Wir setzen sie in die kleinen Nischen, die in die Grabenwand geschachtet sind für uns zum Ausruhen. Wenn ich geduckt durch den Graben schleiche, weiß ich nicht, ob ich an einem Toten oder einem Lebenden vorübergehe. Hier haben Leichen und Lebende die gleichen graugelben Gesichter. Nicht immer müssen wir nach einem Platz für die Toten suchen. Oft werden ihre Körper so zerrissen, dass nur ein Fetzen Fleisch, an einem Beinstumpf klebend, an sie erinnert. Oder sie verröcheln im Drahtverhau zwischen den Gräben. Oder wenn Minen ein Grabenstück in die Luft sprengen, wird die Erde selbst zum Totengräber. Dreihundert Meter rechts von uns, im Hexenkessel, liegt an einem Blockhaus, das zwanzigmal Besitz der Deutschen, zwanzigmal Besitz der Franzosen war, ein Haufen Leichen. Die Körper sind ineinander verschlungen wie in großer Umarmung. Ein furchtbarer Gestank ging davon aus, jetzt bedeckt alle die gleiche dünne Decke weißen Ätzkalks. [...]« (Aus: E. T.: Eine Jugend in Deutschland, Reinbek 1963, S. 48 f.)
Den anderen Pazifisten Oskar Maria Graf nicht zu vergessen, der bekanntlich nach Befehlsverweigerung, verschärftem Arrest, Hungerstreik und Zusammenbruch im Feldlazarett als geistesgestört in die Heimat entlassen wurde. Das war ja auch sein längst erstrebtes Ziel als Kriegsgegner. Als er am 1. Dezember 1914 zum Militär eingezogen und an die Ostfront beordert wurde, bekannte er: »Vom ersten Tag meines Soldatendaseins an überlegte ich stets nur das eine: Wie kannst du diesem Zwang, dieser Sinnlosigkeit entrinnen? Ich entwickelte in meiner Abwehr eine derart instinktsichere, abgebrühte Energie, daß ich manchmal über mich selbst staunte. Es wurde unmöglich, mich regelrecht militärisch auszubilden. Ich war nicht nur ein schlechter, ich war überhaupt kein Soldat!« (Aus: O. M. G.: Das Leben meiner Mutter, München 1984, S. 433)
Ob Thomas Mann, der im Sommer 1917 gerade an seinem Zauberberg feilte, diese Realität und das Elend nicht nur in den Schützengräben, sondern auf allen Kriegsschauplätzen auch bedacht hat, als er das von seinen Kindern so geliebte Landhaus in Bad Tölz verkaufte, um mit dem größten Teil des Erlöses Kriegsanleihen zu zeichnen, darf bezweifelt werden. Denn er hat nicht nur in seinem Essay Friedrich und die große Koalition die Durchführung des Schlieffen-Plans, den völkerrechtswidrigen Marsch der deutschen Truppen durch das neutrale Belgien in Richtung Frankreich, verteidigt, sondern auch im Brief vom 18. September 1914 an seinen Bruder Heinrich den Krieg als »einen großen, grundanständigen, ja feierlichen Volkskrieg« bezeichnet. Doch Glück für ihn – und für die deutsche Literatur! – , dass ihn ein Stabsarzt, »ein offenbar ziviler und den schönen Wissenschaften blindlings ergebener Mann«, bei der Musterung vor der Einberufung bewahrt hat, wie Wolfgang Frühwald in seinem profunden und stilistisch – wie immer – funkelnden Essay Das große Morden – Der Erste Weltkrieg in der Literatur voll Sarkasmus feststellte.
Ebenso realistisch wie auch höchst anrührend hat Lena Christ in ihrer Erzählung Es ist ein Schnitter ... jedenfalls die Stimmung in einem bayerischen Dorf eingefangen, nachdem die ersten Gefallenen bereits zu beklagen, die Jugendlichen jedoch von der Kriegseuphorie noch infiziert waren.
»[...] Aber da sitzt die Großmutter am Tisch, hat die alte Hornbrille in der einen Hand, ein Papier in der andern ... und auf dem Papier steht: ›Mutter, der Martl liegt tot in Rufgland. Ich bin verwundet im Lazarett. ‹ Starr sitzt sie – ihr Blick aber ruht auf einer alten Zeitung am Tisch. Da stehen die endsgroßen Buchstaben der Aufschrift: ›Hundertfünfzigtausend Russen liegen tot in den masurischen Seen – hunderttausend sind gefangen ... ‹ Und langsam legt sie den Brief aus der Hand, schaut auf das Kind und wieder auf die Zeitung. Und setzt langsam wieder die Hornbrille auf und starrt vor sich hin und schlingt die Finger ineinander wie zum Beten. Dann nimmt sie das uralte, abgegriffene Betbuch vom Fensterbrett, schlägt es auf, setzt das Kind auf ihren Schoß und liest. [...] Das Kind springt plötzlich vom Schoß der Alten und läuft hinaus, denn Gesang wird laut von der Straße her. Und es zieht ein Häuflein Wehrkraftbuben, von einer Übung heimkehrend, gegen den Bahnhof; sie schwenken den mit Tannenreis geschmückten Hut, begrüßen die Bauern, denen sie im Herbst mit frischer Hand die Ernte eingebracht, die Erdäpfel vom Feld geholt und den Traid gedroschen – und singen mit heller Stimme:
›Kein schönrer Tod ist in der Welt,
Als wer vom Feind erschlagen,
Auf grüner Heid – im breiten Feld,
Darf nicht hörn groß Wehklagen. ‹«
(Aus: L. Ch.: Unsere Bayern anno 14, München 1942, S. 46 ff.; Neuauflage München 2014, Allitera Verlag)
Das schreckliche Ende dieser »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts« (George F. Kennan) ist bekannt: Mindestens achteinhalb Millionen tote Soldaten, mehr als 21 Millionen Verwundete, zerstörte Städte, verwüstete Landschaften und Millionen vom Krieg Traumatisierte. Die Welt war 1914 aus den Fugen geraten und die Apokalypse hatte über die Vernunft gesiegt.