Die Münchner Gretchen-Frage: FC Bayern oder 1860?
Spiegel bayerischer Literatur und Kultur, fundiert und unterhaltsam, Essays, Prosatexte und Gedichte von prominenten und unbekannten Autoren: Das ist die Zeitschrift Literatur in Bayern. In der 136. Ausgabe schreibt der Autor und Träger des Ernst-Hoferichter-Preises Thomas Grasberger über die Münchner Gretchen-Frage schlechthin: FC Bayern oder 1860?
*
Nein, sie könnten unterschiedlicher nicht sein, die Anhänger der beiden großen Münchner Fußballvereine – die Fans der Löwen und des FC Bayern. Arbeiter gegen Schickeria! Underdogs gegen Großkopferte! Kämpfer gegen Zauberer! Masochisten gegen Macher! Viele Klischees geistern an der Isar herum. Ein Körnchen Wahrheit steckt freilich schon drin, in solch abgewetzten Allerweltsweisheiten; auch der Blick auf die Tabellenstände und Jahresbilanzen belegt es immer wieder. Wo die FC Bayern AG mit der Präzision einer Ball spielenden Gelddruckmaschine das Prinzip Erfolg und Show verkörpert, da regieren bei 1860 München seit Jahrzehnten als bestimmende Ideen Niedergang und ewiger Grant.
Während ein Uli Hoeneß sein »Unternehmen der Unterhaltungsbranche« als »eine Marke wie Adidas, Boss, Coca-Cola oder Jil Sander« auf Hochglanz polierte, taumelte Sechzig zwischen Größenwahn und Selbstverdammnis, von der Deutschen Meisterschaft hinab zur Bayernliga, zurück zur Championsleague-Qualifikation und von dort selbstverständlich auch wieder retour, nämlich tief hinab in die Regionalliga. Und gleich wieder rauf. Irgendwie, irgendwohin: Achterbahnfahrten in Weiß-Blau!
Einmal Löwe, immer Löwe
»Jeder so, wie er es verdient«, spotten die Roten. Oder wie er es dringend braucht. Denn der echte Löwen-Fan hat in der Tat am meisten Freude, wenn er bei null Grad und Graupelschauern in seinem geliebten Grünwalder zwischen weiß-blauen Fahnen wenig vom ohnehin langweiligen Fußballspiel zu sehen bekommt; außer jenen Gegentreffer in der 89. Minute, der die Gastmannschaft vom TSV Buchbach zum unverdienten 2:1-Sieg führt. Erst dann ist er ganz in seinem Element und singt trotzig seine weiß-blauen Grant-Mantras: »Kämpfen, Löwen, kämpfen!«
Ja, es tobt das Leben in Giesing! Während keine 20 Kilometer weiter nördlich, in der roten Arena am Müllberg, erfolgsverwöhnte Zuschauer gelangweilt mit ihren goldenen Kreditkarten klappern und die sogenannte Stadionstimmung vom Band kommt, schreit sich der Löwe seine blaue Seele aus dem Leib. Purer Masochismus sei das, sagen Außenstehende, denen ein tieferer Blick ins Innerste des Löwen-Fans bis dato noch verwehrt war.
Okay, fangen wir also ganz vorne an: Mit Masochismus, also einer Lust am Gequältwerden hat das Lebensgefühl eines Sechzigers überhaupt nichts zu tun. Im Gegenteil, es ist vielmehr die Lust an der reinen Idee. Bei Sechzig geht es um nichts weniger als um Philosophie. Denn der echte Löwe ist ein Platoniker – ein Idealist im Sinne des Philosophen Platon. Wie für den antiken griechischen Denker ist auch für den echten Löwen-Fan die sinnlich wahrnehmbare Welt im Hier und Jetzt im Grunde unbedeutend, ist sie doch vergänglich, wandelbar und stets nur vorübergehend. Wer wüsste das besser als ein gebeutelter Sechzger-Fan!
All die unglücklichen Gegentore, die in letzter Minute verschossenen Elfmeter und verlorenen Partien, die Zwangsabstiege und sportlichen Katastrophen, die größenwahnsinnigen Patriarchen und Präsidenten, die zweifelhaften Berater, die ehrgeizigen Politiker und und und! Aber das alles zählt für den Löwen nicht, denn es ist nur ein schwaches Abbild einer höheren Wirklichkeit: Es ist nur eine Scheinwelt. Alles, was wirklich zählt, ist das Reich der Ideen. Und dort ist die oberste, nämlich die des Wahren, Schönen, Guten, die Idee vom Ur-Löwen. Nicht der einzelne Löwe im Hier und Jetzt zählt, sondern die »Löwenheit«. Und diese Idee ist ewig: »Einmal Löwe, immer Löwe!«
Die Höhle des Löwen
Drum wird sie auch an jedem Spieltag aufs Neue ritualhaft beschworen, vorzugsweise im Stadion an der Grünwalder Straße – der ewigen Heimstatt des Schönen, Wahren und Guten. Sechzig ist Religion. Und Religionen brauchen nicht nur eine Ur-Idee, sondern auch eine Kirche. Deshalb ist dem Löwen-Fan auch seine heilige Spielstätte an der Grünwalder Straße so wichtig. Nur dort wird mit dem gemeinsamen Beschwören des Löwen-Geistes dieser immer wieder lebendig – nicht auf dem Platz tobt der Löwe, sondern im Herzen! Nur wer mit dem Herzen sieht, ist in der Lage, die höchste Idee zu erschauen. So lautet das platonische Höhlengleichnis des Löwen.
Für das Höchste und Wahre werden freilich alle Opfer gebracht. Nicht nur tausende von Reisekilometern zu den holprigsten Fußballäckern des Landes. Nein, auch ganz private Opfer. »Was schert mich Weib, was schert mich Kind? Hauptsach’ ist, dass Sechzig g’winnt!« steht auf einem Löwen-Shirt zu lesen. Weisheiten dieser Art gibt es bestimmt auch bei anderen Vereinen. Aber beim Löwen darf man zu Recht annehmen, dass es mehr als nur einen gibt, der sie auch wörtlich genommen hat.
Leo quia absurdum
Die schnöde Materie zählt für den wahren Löwen-Fan nicht. Die Idee ist das eigentlich Seiende in der Welt; als Muster- und Urbild der real existierenden Einzeldinge. Auch wenn es manchmal richtig wehtut, ein Blauer zu sein – Masochismus ist es trotzdem keiner. Sondern eben Platon! Der reine Gedanke, ohne Raum, zeitlos, unveränderlich, wahr und schön! Das ist Sechzig! Die ewige Wahrheit ganz weit oben, jenseits des Fußballhimmels, wo selbst ein Gott nicht in der Lage wäre, sie zu zerstören. Geschweige denn irgendein Investor oder eine real existierende Mannschaft, die jedes Wochenende wieder den Löwen-Fan in tiefste Depressionen kicken könnte. Wenn er denn an solche banalen Äußerlichkeiten wie Punkte oder Siege glauben würde.
Nein, Sechzig ist mehr. Sechzig ist Religion. Und in Anlehnung an das christlich-antike »Credo quia absurdum« (»Ich glaube, weil es unvernünftig ist«) lässt sich daher sagen: »Leo quia absurdum« – »Ich bin Löwe, weil es der Wahnsinn ist.« Deshalb hält er seinem Verein stets die Treue; deshalb pilgerten einst 30.000 Blaue sogar zu den Bayernliga-Spielen ihrer Mannschaft; deshalb leuchten heute noch die Augen von ganz Giesing in weiß und blau, obwohl »nur« ein Spieltag in der Regionalliga oder der dritten Liga ansteht. Gegen Schalding-Heining oder Buchbach, gegen Halle oder weiß der Teufel, was da sonst noch so rumläuft in kurzen Hosen.
Unnötig zu erwähnen, dass die 15.000 Tickets für solche Heimspiele so gut wie immer ausverkauft sind, auch bei Minustemperaturen. Und dass danach beim Trepperlwirt die Schlange vorm Augustiner-Zapfhahn bis zur Tegernseer Landstraße hinausreicht. Löwenspiele sind eine immer wiederkehrende Anamnesis, ein ritualhaftes Wiedererinnern an jenes Goldene Zeitalter, in dem die schnöde Wirklichkeit der hehren Idee vom Ur-Löwen noch recht nahe kam. Jenes Goldene Zeitalter mit Radenkovic, Luttrop, Zeiser, Grosser, Küppers, Perusic, Heiß, Kohlars, Rebele. Die Meistermannschaft des Jahres 1966. Und das Mantra jedes Löwen-Fans. Und die damit verbundene immerwährende Gewissheit: Sechzig wird noch existieren, wenn die Bundesliga längst Geschichte ist und alle Allianz-Arenen dieser Erde vom Unkraut überwuchert sein werden.
Rote Aristoteliker
Und die Freunde des FC Bayern? Wie steht’s da mit dem Höchsten und dem Wahren? Nun, die Bayern sind gelinde gesagt ganz anders als die Löwen, denn der rote Fan ist im Grunde seines Herzens ein Aristoteliker. Er lebt nicht im luftigen Reich der Ideen, sondern im Hier und Jetzt des real existierenden Fußball-Kapitalismus.
Das »Wesen« seines Vereins betrachtet er nie losgelöst von den äußeren Dingen – von Trophäen, Bilanzen, Titeln. Er lebt nie jenseits solcher Äußerlichkeiten, sondern – ganz im Gegenteil – mitten in ihnen und (nur) mit ihnen: mit den Punkten und Toren, den Titeln, Triumphen, Pokalen, Gagen, Bilanzen. Und natürlich mit den internationalen Showstars, jenen illustren Zirkusathleten, die für immer gigantischere Ablösesummen durch die Top-Klubs des Kontinents tingeln. Nur das Höchste ist das Wahre. Oder besser gesagt: die Ware! Denn Geld will zu Geld, und will immer nur eins: mehr Geld. Der sportliche Erfolg ist da immer schon eingepreist, von vornherein. Denn ja, natürlich: Geld schießt Tore!
Klar, sowas nervt auf Dauer auch den gläubigsten Aristoteliker aus der Säbener Straße. Drum träumt er neuerdings von ESL, einer European Super League. Sie wäre die konsequente Fortschreibung des Projekts Geldmaschine. Die reichen und superreichen Fußballvereine Europas nur noch unter sich: Eine »geschlossene Liga-Gesellschaft«, die all die kickenden Unterschicht-Proleten per Satzung draußen hält. Am Ende steht eine Art ballspielendes Bora Bora oder Portofino – ein Ort, an dem man unter sich bleibt und das macht, was man immer schon am besten konnte: nämlich Geld! Die perfekte Vermarktung eines sogenannten Spiels!
Diese traurige Wahrheit des Profi-Fußballs ist die Wahrheit der FC Bayern AG, die ein Unternehmen der internationalen Unterhaltungsbranche ist. Ihr Mantra: Werde, was Du bist! Nämlich Sieger! Erfolg ist Pflicht, Stagnation das Ende. Denn ohne Stars, ohne Titel, ohne Glamour wäre der FC Bayern nichts! Kein Mensch würde mehr hingehen, würde für die Bayern schreien, weil es keinen FC Bayern mehr geben würde.
Merke: Für den Aristoteliker gibt es keine Idee außerhalb der Dinge. Nur in den Trophäen und Triumphen existiert sie, die Idee des FC Bayern München. Oder eben nicht. Deshalb würde der Stern des Südens ohne Erfolge so schnell verglühen wie ein Meteor in der Sommernacht. Die Konsequenz daraus: ESL ist ein rotes Projekt! ESL sind immer rot!
Prinzip Hoffnung
Hingegen das wahre Leben, es ist blau! Klar, es stimmt schon, manchmal wirkt dieses Leben ruppig und chaotisch und trist. Ja mei, Giesing halt. Aber es ist nie bösartig und auch nie langweilig, wenn Tausende vor den viel zu engen Käfigen hinter der Westkurve auf Einlass warten, um erst mit zehnminütiger Verspätung ins Stadion an der Grünwalder Straße zu kommen und ein Spiel gegen irgendeine Elf aus einer anderen traurigen Weltgegend zu sehen.
Meist enden solche Partien, die gegen einen schwachen Gegner in Überzahl gespielt werden, dank eines leichtsinnig verschossenen Elfmeters mit 1:1. Klar, es war wieder mal ein Grotten-Kick! Na und? Was zählt, ist Platon (und der ist kein Brasilianer, den wir im weiß-blauen Größenwahn, der dem Verein gelegentlich anhaftet, verpflichtet haben). Platon ist unser wahrer Präsident! Seine Ideenlehre ist Programm. Denn erst im Kopf des Löwen-Fans wird der Löwe lebendig: »Wir sind Sechzig, ihr seid nichts.« Und Global Player, die haben keine Heimat! Nicht einmal im grauen Himmel über Fröttmaning. 1860 hingegen ist die Ur-Idee, der alte Traum vom Fußball! Das Prinzip Hoffnung. Und das währt bekanntlich ewig.
Die Münchner Gretchen-Frage: FC Bayern oder 1860?>
Spiegel bayerischer Literatur und Kultur, fundiert und unterhaltsam, Essays, Prosatexte und Gedichte von prominenten und unbekannten Autoren: Das ist die Zeitschrift Literatur in Bayern. In der 136. Ausgabe schreibt der Autor und Träger des Ernst-Hoferichter-Preises Thomas Grasberger über die Münchner Gretchen-Frage schlechthin: FC Bayern oder 1860?
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Nein, sie könnten unterschiedlicher nicht sein, die Anhänger der beiden großen Münchner Fußballvereine – die Fans der Löwen und des FC Bayern. Arbeiter gegen Schickeria! Underdogs gegen Großkopferte! Kämpfer gegen Zauberer! Masochisten gegen Macher! Viele Klischees geistern an der Isar herum. Ein Körnchen Wahrheit steckt freilich schon drin, in solch abgewetzten Allerweltsweisheiten; auch der Blick auf die Tabellenstände und Jahresbilanzen belegt es immer wieder. Wo die FC Bayern AG mit der Präzision einer Ball spielenden Gelddruckmaschine das Prinzip Erfolg und Show verkörpert, da regieren bei 1860 München seit Jahrzehnten als bestimmende Ideen Niedergang und ewiger Grant.
Während ein Uli Hoeneß sein »Unternehmen der Unterhaltungsbranche« als »eine Marke wie Adidas, Boss, Coca-Cola oder Jil Sander« auf Hochglanz polierte, taumelte Sechzig zwischen Größenwahn und Selbstverdammnis, von der Deutschen Meisterschaft hinab zur Bayernliga, zurück zur Championsleague-Qualifikation und von dort selbstverständlich auch wieder retour, nämlich tief hinab in die Regionalliga. Und gleich wieder rauf. Irgendwie, irgendwohin: Achterbahnfahrten in Weiß-Blau!
Einmal Löwe, immer Löwe
»Jeder so, wie er es verdient«, spotten die Roten. Oder wie er es dringend braucht. Denn der echte Löwen-Fan hat in der Tat am meisten Freude, wenn er bei null Grad und Graupelschauern in seinem geliebten Grünwalder zwischen weiß-blauen Fahnen wenig vom ohnehin langweiligen Fußballspiel zu sehen bekommt; außer jenen Gegentreffer in der 89. Minute, der die Gastmannschaft vom TSV Buchbach zum unverdienten 2:1-Sieg führt. Erst dann ist er ganz in seinem Element und singt trotzig seine weiß-blauen Grant-Mantras: »Kämpfen, Löwen, kämpfen!«
Ja, es tobt das Leben in Giesing! Während keine 20 Kilometer weiter nördlich, in der roten Arena am Müllberg, erfolgsverwöhnte Zuschauer gelangweilt mit ihren goldenen Kreditkarten klappern und die sogenannte Stadionstimmung vom Band kommt, schreit sich der Löwe seine blaue Seele aus dem Leib. Purer Masochismus sei das, sagen Außenstehende, denen ein tieferer Blick ins Innerste des Löwen-Fans bis dato noch verwehrt war.
Okay, fangen wir also ganz vorne an: Mit Masochismus, also einer Lust am Gequältwerden hat das Lebensgefühl eines Sechzigers überhaupt nichts zu tun. Im Gegenteil, es ist vielmehr die Lust an der reinen Idee. Bei Sechzig geht es um nichts weniger als um Philosophie. Denn der echte Löwe ist ein Platoniker – ein Idealist im Sinne des Philosophen Platon. Wie für den antiken griechischen Denker ist auch für den echten Löwen-Fan die sinnlich wahrnehmbare Welt im Hier und Jetzt im Grunde unbedeutend, ist sie doch vergänglich, wandelbar und stets nur vorübergehend. Wer wüsste das besser als ein gebeutelter Sechzger-Fan!
All die unglücklichen Gegentore, die in letzter Minute verschossenen Elfmeter und verlorenen Partien, die Zwangsabstiege und sportlichen Katastrophen, die größenwahnsinnigen Patriarchen und Präsidenten, die zweifelhaften Berater, die ehrgeizigen Politiker und und und! Aber das alles zählt für den Löwen nicht, denn es ist nur ein schwaches Abbild einer höheren Wirklichkeit: Es ist nur eine Scheinwelt. Alles, was wirklich zählt, ist das Reich der Ideen. Und dort ist die oberste, nämlich die des Wahren, Schönen, Guten, die Idee vom Ur-Löwen. Nicht der einzelne Löwe im Hier und Jetzt zählt, sondern die »Löwenheit«. Und diese Idee ist ewig: »Einmal Löwe, immer Löwe!«
Die Höhle des Löwen
Drum wird sie auch an jedem Spieltag aufs Neue ritualhaft beschworen, vorzugsweise im Stadion an der Grünwalder Straße – der ewigen Heimstatt des Schönen, Wahren und Guten. Sechzig ist Religion. Und Religionen brauchen nicht nur eine Ur-Idee, sondern auch eine Kirche. Deshalb ist dem Löwen-Fan auch seine heilige Spielstätte an der Grünwalder Straße so wichtig. Nur dort wird mit dem gemeinsamen Beschwören des Löwen-Geistes dieser immer wieder lebendig – nicht auf dem Platz tobt der Löwe, sondern im Herzen! Nur wer mit dem Herzen sieht, ist in der Lage, die höchste Idee zu erschauen. So lautet das platonische Höhlengleichnis des Löwen.
Für das Höchste und Wahre werden freilich alle Opfer gebracht. Nicht nur tausende von Reisekilometern zu den holprigsten Fußballäckern des Landes. Nein, auch ganz private Opfer. »Was schert mich Weib, was schert mich Kind? Hauptsach’ ist, dass Sechzig g’winnt!« steht auf einem Löwen-Shirt zu lesen. Weisheiten dieser Art gibt es bestimmt auch bei anderen Vereinen. Aber beim Löwen darf man zu Recht annehmen, dass es mehr als nur einen gibt, der sie auch wörtlich genommen hat.
Leo quia absurdum
Die schnöde Materie zählt für den wahren Löwen-Fan nicht. Die Idee ist das eigentlich Seiende in der Welt; als Muster- und Urbild der real existierenden Einzeldinge. Auch wenn es manchmal richtig wehtut, ein Blauer zu sein – Masochismus ist es trotzdem keiner. Sondern eben Platon! Der reine Gedanke, ohne Raum, zeitlos, unveränderlich, wahr und schön! Das ist Sechzig! Die ewige Wahrheit ganz weit oben, jenseits des Fußballhimmels, wo selbst ein Gott nicht in der Lage wäre, sie zu zerstören. Geschweige denn irgendein Investor oder eine real existierende Mannschaft, die jedes Wochenende wieder den Löwen-Fan in tiefste Depressionen kicken könnte. Wenn er denn an solche banalen Äußerlichkeiten wie Punkte oder Siege glauben würde.
Nein, Sechzig ist mehr. Sechzig ist Religion. Und in Anlehnung an das christlich-antike »Credo quia absurdum« (»Ich glaube, weil es unvernünftig ist«) lässt sich daher sagen: »Leo quia absurdum« – »Ich bin Löwe, weil es der Wahnsinn ist.« Deshalb hält er seinem Verein stets die Treue; deshalb pilgerten einst 30.000 Blaue sogar zu den Bayernliga-Spielen ihrer Mannschaft; deshalb leuchten heute noch die Augen von ganz Giesing in weiß und blau, obwohl »nur« ein Spieltag in der Regionalliga oder der dritten Liga ansteht. Gegen Schalding-Heining oder Buchbach, gegen Halle oder weiß der Teufel, was da sonst noch so rumläuft in kurzen Hosen.
Unnötig zu erwähnen, dass die 15.000 Tickets für solche Heimspiele so gut wie immer ausverkauft sind, auch bei Minustemperaturen. Und dass danach beim Trepperlwirt die Schlange vorm Augustiner-Zapfhahn bis zur Tegernseer Landstraße hinausreicht. Löwenspiele sind eine immer wiederkehrende Anamnesis, ein ritualhaftes Wiedererinnern an jenes Goldene Zeitalter, in dem die schnöde Wirklichkeit der hehren Idee vom Ur-Löwen noch recht nahe kam. Jenes Goldene Zeitalter mit Radenkovic, Luttrop, Zeiser, Grosser, Küppers, Perusic, Heiß, Kohlars, Rebele. Die Meistermannschaft des Jahres 1966. Und das Mantra jedes Löwen-Fans. Und die damit verbundene immerwährende Gewissheit: Sechzig wird noch existieren, wenn die Bundesliga längst Geschichte ist und alle Allianz-Arenen dieser Erde vom Unkraut überwuchert sein werden.
Rote Aristoteliker
Und die Freunde des FC Bayern? Wie steht’s da mit dem Höchsten und dem Wahren? Nun, die Bayern sind gelinde gesagt ganz anders als die Löwen, denn der rote Fan ist im Grunde seines Herzens ein Aristoteliker. Er lebt nicht im luftigen Reich der Ideen, sondern im Hier und Jetzt des real existierenden Fußball-Kapitalismus.
Das »Wesen« seines Vereins betrachtet er nie losgelöst von den äußeren Dingen – von Trophäen, Bilanzen, Titeln. Er lebt nie jenseits solcher Äußerlichkeiten, sondern – ganz im Gegenteil – mitten in ihnen und (nur) mit ihnen: mit den Punkten und Toren, den Titeln, Triumphen, Pokalen, Gagen, Bilanzen. Und natürlich mit den internationalen Showstars, jenen illustren Zirkusathleten, die für immer gigantischere Ablösesummen durch die Top-Klubs des Kontinents tingeln. Nur das Höchste ist das Wahre. Oder besser gesagt: die Ware! Denn Geld will zu Geld, und will immer nur eins: mehr Geld. Der sportliche Erfolg ist da immer schon eingepreist, von vornherein. Denn ja, natürlich: Geld schießt Tore!
Klar, sowas nervt auf Dauer auch den gläubigsten Aristoteliker aus der Säbener Straße. Drum träumt er neuerdings von ESL, einer European Super League. Sie wäre die konsequente Fortschreibung des Projekts Geldmaschine. Die reichen und superreichen Fußballvereine Europas nur noch unter sich: Eine »geschlossene Liga-Gesellschaft«, die all die kickenden Unterschicht-Proleten per Satzung draußen hält. Am Ende steht eine Art ballspielendes Bora Bora oder Portofino – ein Ort, an dem man unter sich bleibt und das macht, was man immer schon am besten konnte: nämlich Geld! Die perfekte Vermarktung eines sogenannten Spiels!
Diese traurige Wahrheit des Profi-Fußballs ist die Wahrheit der FC Bayern AG, die ein Unternehmen der internationalen Unterhaltungsbranche ist. Ihr Mantra: Werde, was Du bist! Nämlich Sieger! Erfolg ist Pflicht, Stagnation das Ende. Denn ohne Stars, ohne Titel, ohne Glamour wäre der FC Bayern nichts! Kein Mensch würde mehr hingehen, würde für die Bayern schreien, weil es keinen FC Bayern mehr geben würde.
Merke: Für den Aristoteliker gibt es keine Idee außerhalb der Dinge. Nur in den Trophäen und Triumphen existiert sie, die Idee des FC Bayern München. Oder eben nicht. Deshalb würde der Stern des Südens ohne Erfolge so schnell verglühen wie ein Meteor in der Sommernacht. Die Konsequenz daraus: ESL ist ein rotes Projekt! ESL sind immer rot!
Prinzip Hoffnung
Hingegen das wahre Leben, es ist blau! Klar, es stimmt schon, manchmal wirkt dieses Leben ruppig und chaotisch und trist. Ja mei, Giesing halt. Aber es ist nie bösartig und auch nie langweilig, wenn Tausende vor den viel zu engen Käfigen hinter der Westkurve auf Einlass warten, um erst mit zehnminütiger Verspätung ins Stadion an der Grünwalder Straße zu kommen und ein Spiel gegen irgendeine Elf aus einer anderen traurigen Weltgegend zu sehen.
Meist enden solche Partien, die gegen einen schwachen Gegner in Überzahl gespielt werden, dank eines leichtsinnig verschossenen Elfmeters mit 1:1. Klar, es war wieder mal ein Grotten-Kick! Na und? Was zählt, ist Platon (und der ist kein Brasilianer, den wir im weiß-blauen Größenwahn, der dem Verein gelegentlich anhaftet, verpflichtet haben). Platon ist unser wahrer Präsident! Seine Ideenlehre ist Programm. Denn erst im Kopf des Löwen-Fans wird der Löwe lebendig: »Wir sind Sechzig, ihr seid nichts.« Und Global Player, die haben keine Heimat! Nicht einmal im grauen Himmel über Fröttmaning. 1860 hingegen ist die Ur-Idee, der alte Traum vom Fußball! Das Prinzip Hoffnung. Und das währt bekanntlich ewig.