Versuch einer Spurensicherung: Ernst Penzoldts "Nachruf auf ein Haus"
Der Sohn eines Medizinprofessors und Schriftsteller Ernst Penzoldt verlebt nach eigenen Worten „eine wundervolle, fast verwöhnte Jugendzeit“. Nach dem Studium der Bildhauerei in Weimar und Kassel meldet er sich 1914 freiwillig zum Militärdienst und beginnt während des Krieges zu schreiben. In den 1920er-Jahren gelingt ihm dann der Durchbruch, als er literarische Werke bei den renommierten Verlagen Reclam und Insel publiziert. 1927 bekommt Penzoldt die Chance, im berühmten literarischen Salon von Elsa Bernstein vor Gästen wie Thomas Mann zu lesen, der den „Reiz und Rang seines Talentes“ sofort spürt. 1929/30 schreibt Penzoldt sein erfolgreichstes Buch, Die Powenzbande, einen Roman gegen das Spießbürgertum. In seinem zu Ostern 1941 erschienenen „Nachruf auf ein Haus“ widmet sich Ernst Penzoldt seinem inzwischen abgerissenen Erlanger Geburtshaus. Harald Beck hat diesen kleinen schönen Text für die anstehenden Osterfeiertage ausgekramt und kommentiert.
***
Nachruf auf ein Haus
Vor einigen Tagen bekam ich einen Zeitungsausschnitt zugesandt, in dem berichtet war, daß das Haus Güterhallenstraße Nr. 12 der Spitzhacke verfallen sei und abgebrochen werde. Der Ausschnitt enthielt nichts anderes als die Todesanzeige des Hauses meiner Kindheit.
Wenn wir mit unseren Eltern vom Ferienaufenthalt in den bayerischen Bergen heimreisten und der Zug schon bremste des nahen Bahnhofs wegen, dann standen wir, gewöhnlich viel zu früh zum Aussteigen fertig, am Fenster des Abteils, um im Vorüberfahren das graue Haus zu grüßen, unser Haus. Nun wird man es nicht mehr sehen, es wird von nun an nur ein gedachter Raum sein.
Die Arbeiter, die es abtragen, werden vielleicht noch unter den Schichten der Tapeten auf den Rest eines Musters stoßen aus der Zeit, da wir dort wohnten, auf eines jener Ornamente, die mich, wenn ich krank war, verführten, allerlei Gesichter und Fratzen darin zu sehen. Die letzten Bäume werden gefällt werden, die uns noch gekannt haben, als wir klein waren.
Ehedem war es ein freundliches Haus, aus dem weißen Sandstein gebaut, wie er dortzulande gebrochen wird, aber auf dem Bilde, das jenem Zeitungsausschnitt beigedruckt war, sieht es düster, fast unheimlich aus, geschwärzt von Ruß und Rauch der Lokomotiven. Es ist ein einfacher, fast quadratischer Bau mit Schieferdach. Als einziger Zierat läuft ein gotischer Vierpaßfries unter dem Dach entlang. Es ist nur neunzig Jahre alt geworden, kein Alter für ein rechtschaffenes Haus.
Von der Bahn aber und von der alten Stadtmauer erhielt es seinen unverlierbaren Zauber. Garten und Haus bebten unter der eisernen Wucht der vorüberfahrenden Züge. Nachts, wenn ich wach lag, wanderten die Lichter durchs Zimmer, in entgegengesetzter Richtung, was mich lange Zeit beunruhigte, knickten um die Ecken und geisterten eins nach dem anderen zum Fenster hinaus. In den fahlen viereckigen Lichtflecken regten sich die Schatten der Reisenden wie in einer Camera obscura. Ich sah, wie an stillen Herbsttagen die Blätter plötzlich losließen und von den Bäumen fielen, wenn ein Zug vorüberlärmte. Dampf und Rauch wehten greifbar und mich umhüllend in den Rosengarten. Am Rande des Gartens befand sich ein steinerner Auslug, ein Überbleibsel der Stadtmauer, den wir die Kanzel nannten. Von dort konnte man bis zum Bahnhof schauen, Abreise und Ankunft der Reisenden miterleben, die Mechanik der Weichen, des Rangierens beobachten: kurz, das ganze romantische Theater der Eisenbahn mit ihren Rauchphantasien, allnächtlichen Illuminationen, dem Pfeifen der Lokomotiven, dem Tuten des Bahnwärters und dem grillenhaften Zirpen und Zwitschern der Drähte. An unserer Kanzel ist einmal Bismarck vorübergefahren, und ich bin nicht ganz sicher, ob ich es nur aus Erzählungen anderer weiß, aber ich habe ein deutliches Bild davon in meiner Erinnerung, wie der alte Herr groß und breit im Fenster des Salonwagens stand, während wir Hurra riefen und winkten und stolz waren, daß er uns gesehen hatte.
Geburtshaus an der Bahn, Radierung von Ernst Penzoldt. c/oStadtarchiv Erlangen
In der Stadtmauer war auch ein Pförtchen, das in die Stadt führte, und das Dach des Hauses war gekrönt von einer umgitterten Plattform, von der aus man die ganze Welt sah. Im östlichen Teil des Gartens wuchsen uralte Ulmen um einen ovalen steinernen Tisch, an dem wir meines Wissens nie saßen. Er hatte etwas von einem Opferstein oder schien für eine Tafelrunde von Riesen bestimmt. Immer lagen auf der bemoosten rauhen Fläche ein paar Blätter und Spelze. All das gab dem kleinen Besitz etwas Schloßartiges und Märchenhaftes, ungeachtet des prosaischen Namens der Straße, an der er lag, der Güterhallenstraße.
Im Erdgeschoß befand sich das Wartezimmer für die Patienten, das Eßzimmer und meines Vaters ärztliche Gelehrtenstube, ein geheiligter Bezirk, den ich als Kind nicht ohne Scheu betrat. Am Boden lag ein großes Bärenfell mit ausgestopftem Kopf. Zwischen dem weit aufgesperrten, furchterregenden Gesicht bleckte eine appetitliche fleischfarbene Zunge aus Papiermache. Ich war nicht gern allein mit diesem Untier und wagte nur in Gegenwart Erwachsener meine winzige Hand in den rosigen Rachen zu stecken. Auch dann, wie sehr es mich lockte, es immer wieder zu tun, zog ich sie rasch zurück, aus Furcht, der Bär könnte doch am Ende zubeißen, wie die Bocca della verità in Rom.
Auf einem Gestell standen Reagenzgläser, wie eine kleine gläserne Orgel anzusehen, zuweilen mit goldgelber Flüssigkeit angefüllt. Daneben lagen zierliche Glastrichter mit plissierten Papierfiltern und eine Onyxschale mit rosa und blauen Lackmuspapierstreifen, von denen ich lange Zeit glaubte, es seien Reste von Luftschlangen.
Dieser Plan des Bahnhofsgeländes aus dem Jahr 1925 zeigt die Lage des Gebäudes, das die Beschriftung „vormal. Pezold’sche Haus“ trägt, was sich zu diesem Zeitpunkt noch auf Penzoldt senior bezog. c/o Klaus Hubert
Auf dem großen billardähnlichen Schreibtisch, den nur meine Mutter abstauben durfte, stand ein Globus, von der stark verkleinerten muskulösen Bronzefigur des Riesen Atlas mit sichtlicher Anstrengung auf den Schultern getragen. Mein Vater belehrte mich, daß dieser bunte Ball mit den seltsamen Gesichtern, wofür ich die Länder bisher gehalten, ein getreues Abbild unserer Erde sei. Er zeigte mir die Meere, darauf auf punktierten Linien kleine Dampfer fuhren, die Kontinente, Europa, Deutschland vor allem (es war kleiner als mein Ohr), und machte endlich mit dem Bleistift einen winzigen Punkt. Hier etwa, sagte er, sei die Stelle, wo Erlangen liege, unser Haus an der Bahn, darin ich geboren war, und dies Zimmer mit ihm und mir und dem Globus, dem Abbild der Erde.
Das gefiel mir über die Maßen. Ich benützte den nächsten unbewachten Augenblick, um, mit Mamas Opernglas bewaffnet, heimlich in die Studierstube zu schleichen, meinend, ich könnte mit Hilfe der Vergrößerung unsere Stadt, unser Haus und vielleicht mich selber auf dem Globus sehen. Allein es wollte mir nicht glücken. Ich versuchte es mit Vaters Lupe, und als sie versagte, mit den Augen, bis ich fast mit der Nase auf den geographischen Ort meines Daseins stieß. Wirklich glaubte ich nun ein Gesicht zu sehen, den Widerschein meines eigenen Gesichts, und ich erschrak davor, denn es war ungefähr, wie wenn man sich in einer Gartenkugel spiegelt.
Warum bewegte es mich so sehr, daß dieses Haus an der Bahn nun dem Erdboden gleichgemacht wird? Ich habe doch nur sechs Jahre meines Lebens dort verspielt, freilich die ersten. Ich könnte nicht einmal mehr von allen Möbeln sagen, wo sie einst standen, nicht von allen Bildern, wo sie hingen. Aber an den großen Amerikanerofen im Kinderzimmer erinnere ich mich deutlich und an seine Fenster aus Marienglas (als wohnte jemand darin). Er war von einem Gitter umgeben wie ein Hundezwinger, damit wir uns nicht verbrennen sollten. Auch an das dunkle Kämmerchen erinnere ich mich, vor dem ich mich fürchtete, obwohl nur Besen und Eimer darin standen, und auch an die blasse Wachsbüste des Mädchens von Lille, die ich einmal zerbrach. Im oberen Stock des Hauses lagen die Schlafzimmer. Dort bin ich geboren. Aber die Stelle, wo es geschah, ist nun unsichtbar, ist gleichsam Luft geworden.
Mädchen von Lille, 1902
Wenn ich wieder einmal in meine Heimat komme und mich jemand fragt, wo bist du eigentlich geboren, dann werde ich mit dem Finger nach oben zeigen und sagen, dort ungefähr, fünf Meter vom Erdboden, wo eben der Zitronenfalter fliegt, dort etwa muß es wohl gewesen sein.
***
Kommentierung
Am 13. April 1936 veröffentlichte das Erlanger Tagblatt jenen Artikel, den Ernst Penzoldt im ersten Satz seiner Erinnerungen an sein Geburtshaus in der Güterhallenstraße 12 erwähnt. Die Überschrift ist von trauriger Eindeutigkeit für ihn: „Unter Spitzeisen und Pickel. 1. Das sog. Hofmann’sche oder Penzoldt’sche Haus“.
Auf den Tag genau fünf Jahre später, am Ostersonntag, dem 13. April 1941, erscheint der „Nachruf auf ein Haus“ in den Münchner Neuesten Nachrichten.
Bild des Hauses von 1936. c/o Stadtarchiv Erlangen
Penzoldt erwähnt darin, dass sein Erlanger Geburtshaus nur neunzig Jahre alt war, als es 1936 abgerissen wird, eine Information, die er vermutlich dem Erlanger Tagblatt entnommen hat. Die Katastereinträge im Staatsarchiv Nürnberg für Haus Nr. 227 a (b war der große Garten) in Erlangen widerlegen diese Angabe. Der Pathologieprofessor an der Klinik der Erlanger Hochschule, Franz von Dittrich (1815-1859), ließ das Gebäude erst im Jahr 1855 erbauen, so dass es bei seinem Abriss 1936 gerade 80 Jahre alt war. Nach Dittrichs frühem Tod verkauften die Erben das Anwesen 1860 für 9000 Gulden an den prominenten evangelischen Theologieprofessor Johann Christian von Hofmann (1810-1877). Seine Frau Charlotte, geb. Lamayer, überlebte ihn um sechs Jahre. 1883 ging das Haus vorübergehend in den Besitz des ortsansässigen Baumeisters Wolfgang Harbauer über, der es spätestens 1885 an Franz Penzoldt, Professor für Innere Medizin und Pharmakologie an der Universität Erlangen, verkaufte.
1886 wurde eine Gedenkplakette für Johann von Hofmann am Haus angebracht, das von seinen ehemaligen Studenten scherzhaft „Der Schriftbeweis“ genannt wurde, nach einem vielbeachteten, 1852-1856 verfassten dreibändigen Werk des Theologen. Ein biographischer Essay über ihn erwähnt: „Vor allem hielt er sich [...] wie er es bei Karl von Raumer in Erlangen und bei Wackernagel in Berlin selbst erlebt hatte, einen Abend der Woche für seine Studenten frei.“ Die Vermutung liegt also nahe, dass der mysteriöse ovale steinerne Tisch im Garten, den Penzoldt erwähnt, bei geeigneter Witterung den samstäglichen Treffen Hofmanns mit seinen Studenten diente.
Nachdem der selbst lungenkranke Franz Penzoldt wohl erkannt hatte, dass die unmittelbare Nähe des Hauses zu den rußschnaubenden Dampflokomotiven am Erlanger Hauptbahnhof der Gesundheit der Familie nicht zuträglich war – das ursprünglich strahlend weiße Gebäude war innerhalb weniger Jahre ergraut – zog er 1898 um in eine große Villa in der Sieglitzhofer Straße 44 (heute Hindenburgstraße) im deutlich vornehmeren Professorenviertel der Stadt.
Das Haus in der Güterhallenstraße wurde an die Bahnverwaltung verkauft, die darin Wohnungen für Bahnbeamte einrichtete. So konnte die Reichsbahn den Abriss 1936 ohne Schwierigkeiten vornehmen. Der stark zunehmende Verkehr hatte es erforderlich gemacht, den hinderlichen schienengleichen Schrankenübergang am Bahnhof durch eine Unterführung zu ersetzen.
Bahnübergang nach dem begonnenen Abriss 1936. Das Haus hat sein Dach bereits eingebüßt. c/o Stadtarchiv Erlangen
Ernst Penzoldt gelang es, alarmiert durch den ihm zugesandten Zeitungsausschnitt, einen Stein des alten Hauses zu retten und zu beschriften. Er befindet sich heute als Schenkung seiner Tochter Ulla im Amtszimmer des Stadtarchivars Andreas Jakob.
c/o Andreas Jakob
Ernst Penzoldts Geburtshaus hat vielfältigen Niederschlag in seinem bildernerischen wie im schriftstellerischen Werk gefunden. So beginnt sein literarischer Erstling, Der Zwerg, von 1927:
Adrian ter Mooren, von dem ich vor allem zu erzählen habe, wurde in der kleinen Stadt Regnitz in einem Hause geboren, das an der Eisenbahn lag. Oder genauer: Die Bahn lag an dem Hause, denn es war älter als jene. Damals, als die Bahn gebaut wurde – Adrians Vater war ein Kind, als es geschah, und wußte noch genau, wie es vorher ausgesehen –, nahm man ein Stück des großen Gartens weg und aller benachbarten Gärten, so daß, wie der vor kurzem verstorbene alte Herr ter Mooren zornig zu sagen pflegte, »einem alle Leute im Vorüberfahren in die Fenster gucken konnten«. Es nutzte auch nichts, daß er am Ende des Gartens eine ziemlich hohe Mauer hatte errichten lassen. Bei Westwind und auch bei Regen quoll dennoch der Rauch der Lokomotiven in den Garten und schwärzte Blumen und Bäume. Überall roch es nach Eisenbahn, und der Alte fuhr nie damit, wie sein Sohn, wenn auch selten, es tat. Immer aber fiel ihm dann ein, wenn sein lärmender Zug für Sekunden die Stelle traf, die Garten gewesen war und sehr still, wie es ausgesehen hatte, damals als er klein war, mit den alten Ulmen und dem steinernen Tisch darunter, mit dem Springbrunnen und den bunten Glaskugeln zwischen den Rosenbeeten.
Die Schmetterlingsmetapher am Ende seines Nachrufs lässt vermuten, dass Ernst Penzoldt so wenigstens die Seele der Güterhallenstraße 12 gerettet sah.
***
Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlags. Der Verfasser dankt dem Suhrkamp Verlag, Sebastian Lentz von der Familie Penzoldt, Andreas Jakob vom Stadtarchiv Erlangen sowie dem Staatsarchiv Nürnberg für ihre freundliche Unterstützung.
Versuch einer Spurensicherung: Ernst Penzoldts "Nachruf auf ein Haus">
Der Sohn eines Medizinprofessors und Schriftsteller Ernst Penzoldt verlebt nach eigenen Worten „eine wundervolle, fast verwöhnte Jugendzeit“. Nach dem Studium der Bildhauerei in Weimar und Kassel meldet er sich 1914 freiwillig zum Militärdienst und beginnt während des Krieges zu schreiben. In den 1920er-Jahren gelingt ihm dann der Durchbruch, als er literarische Werke bei den renommierten Verlagen Reclam und Insel publiziert. 1927 bekommt Penzoldt die Chance, im berühmten literarischen Salon von Elsa Bernstein vor Gästen wie Thomas Mann zu lesen, der den „Reiz und Rang seines Talentes“ sofort spürt. 1929/30 schreibt Penzoldt sein erfolgreichstes Buch, Die Powenzbande, einen Roman gegen das Spießbürgertum. In seinem zu Ostern 1941 erschienenen „Nachruf auf ein Haus“ widmet sich Ernst Penzoldt seinem inzwischen abgerissenen Erlanger Geburtshaus. Harald Beck hat diesen kleinen schönen Text für die anstehenden Osterfeiertage ausgekramt und kommentiert.
***
Nachruf auf ein Haus
Vor einigen Tagen bekam ich einen Zeitungsausschnitt zugesandt, in dem berichtet war, daß das Haus Güterhallenstraße Nr. 12 der Spitzhacke verfallen sei und abgebrochen werde. Der Ausschnitt enthielt nichts anderes als die Todesanzeige des Hauses meiner Kindheit.
Wenn wir mit unseren Eltern vom Ferienaufenthalt in den bayerischen Bergen heimreisten und der Zug schon bremste des nahen Bahnhofs wegen, dann standen wir, gewöhnlich viel zu früh zum Aussteigen fertig, am Fenster des Abteils, um im Vorüberfahren das graue Haus zu grüßen, unser Haus. Nun wird man es nicht mehr sehen, es wird von nun an nur ein gedachter Raum sein.
Die Arbeiter, die es abtragen, werden vielleicht noch unter den Schichten der Tapeten auf den Rest eines Musters stoßen aus der Zeit, da wir dort wohnten, auf eines jener Ornamente, die mich, wenn ich krank war, verführten, allerlei Gesichter und Fratzen darin zu sehen. Die letzten Bäume werden gefällt werden, die uns noch gekannt haben, als wir klein waren.
Ehedem war es ein freundliches Haus, aus dem weißen Sandstein gebaut, wie er dortzulande gebrochen wird, aber auf dem Bilde, das jenem Zeitungsausschnitt beigedruckt war, sieht es düster, fast unheimlich aus, geschwärzt von Ruß und Rauch der Lokomotiven. Es ist ein einfacher, fast quadratischer Bau mit Schieferdach. Als einziger Zierat läuft ein gotischer Vierpaßfries unter dem Dach entlang. Es ist nur neunzig Jahre alt geworden, kein Alter für ein rechtschaffenes Haus.
Von der Bahn aber und von der alten Stadtmauer erhielt es seinen unverlierbaren Zauber. Garten und Haus bebten unter der eisernen Wucht der vorüberfahrenden Züge. Nachts, wenn ich wach lag, wanderten die Lichter durchs Zimmer, in entgegengesetzter Richtung, was mich lange Zeit beunruhigte, knickten um die Ecken und geisterten eins nach dem anderen zum Fenster hinaus. In den fahlen viereckigen Lichtflecken regten sich die Schatten der Reisenden wie in einer Camera obscura. Ich sah, wie an stillen Herbsttagen die Blätter plötzlich losließen und von den Bäumen fielen, wenn ein Zug vorüberlärmte. Dampf und Rauch wehten greifbar und mich umhüllend in den Rosengarten. Am Rande des Gartens befand sich ein steinerner Auslug, ein Überbleibsel der Stadtmauer, den wir die Kanzel nannten. Von dort konnte man bis zum Bahnhof schauen, Abreise und Ankunft der Reisenden miterleben, die Mechanik der Weichen, des Rangierens beobachten: kurz, das ganze romantische Theater der Eisenbahn mit ihren Rauchphantasien, allnächtlichen Illuminationen, dem Pfeifen der Lokomotiven, dem Tuten des Bahnwärters und dem grillenhaften Zirpen und Zwitschern der Drähte. An unserer Kanzel ist einmal Bismarck vorübergefahren, und ich bin nicht ganz sicher, ob ich es nur aus Erzählungen anderer weiß, aber ich habe ein deutliches Bild davon in meiner Erinnerung, wie der alte Herr groß und breit im Fenster des Salonwagens stand, während wir Hurra riefen und winkten und stolz waren, daß er uns gesehen hatte.
Geburtshaus an der Bahn, Radierung von Ernst Penzoldt. c/oStadtarchiv Erlangen
In der Stadtmauer war auch ein Pförtchen, das in die Stadt führte, und das Dach des Hauses war gekrönt von einer umgitterten Plattform, von der aus man die ganze Welt sah. Im östlichen Teil des Gartens wuchsen uralte Ulmen um einen ovalen steinernen Tisch, an dem wir meines Wissens nie saßen. Er hatte etwas von einem Opferstein oder schien für eine Tafelrunde von Riesen bestimmt. Immer lagen auf der bemoosten rauhen Fläche ein paar Blätter und Spelze. All das gab dem kleinen Besitz etwas Schloßartiges und Märchenhaftes, ungeachtet des prosaischen Namens der Straße, an der er lag, der Güterhallenstraße.
Im Erdgeschoß befand sich das Wartezimmer für die Patienten, das Eßzimmer und meines Vaters ärztliche Gelehrtenstube, ein geheiligter Bezirk, den ich als Kind nicht ohne Scheu betrat. Am Boden lag ein großes Bärenfell mit ausgestopftem Kopf. Zwischen dem weit aufgesperrten, furchterregenden Gesicht bleckte eine appetitliche fleischfarbene Zunge aus Papiermache. Ich war nicht gern allein mit diesem Untier und wagte nur in Gegenwart Erwachsener meine winzige Hand in den rosigen Rachen zu stecken. Auch dann, wie sehr es mich lockte, es immer wieder zu tun, zog ich sie rasch zurück, aus Furcht, der Bär könnte doch am Ende zubeißen, wie die Bocca della verità in Rom.
Auf einem Gestell standen Reagenzgläser, wie eine kleine gläserne Orgel anzusehen, zuweilen mit goldgelber Flüssigkeit angefüllt. Daneben lagen zierliche Glastrichter mit plissierten Papierfiltern und eine Onyxschale mit rosa und blauen Lackmuspapierstreifen, von denen ich lange Zeit glaubte, es seien Reste von Luftschlangen.
Dieser Plan des Bahnhofsgeländes aus dem Jahr 1925 zeigt die Lage des Gebäudes, das die Beschriftung „vormal. Pezold’sche Haus“ trägt, was sich zu diesem Zeitpunkt noch auf Penzoldt senior bezog. c/o Klaus Hubert
Auf dem großen billardähnlichen Schreibtisch, den nur meine Mutter abstauben durfte, stand ein Globus, von der stark verkleinerten muskulösen Bronzefigur des Riesen Atlas mit sichtlicher Anstrengung auf den Schultern getragen. Mein Vater belehrte mich, daß dieser bunte Ball mit den seltsamen Gesichtern, wofür ich die Länder bisher gehalten, ein getreues Abbild unserer Erde sei. Er zeigte mir die Meere, darauf auf punktierten Linien kleine Dampfer fuhren, die Kontinente, Europa, Deutschland vor allem (es war kleiner als mein Ohr), und machte endlich mit dem Bleistift einen winzigen Punkt. Hier etwa, sagte er, sei die Stelle, wo Erlangen liege, unser Haus an der Bahn, darin ich geboren war, und dies Zimmer mit ihm und mir und dem Globus, dem Abbild der Erde.
Das gefiel mir über die Maßen. Ich benützte den nächsten unbewachten Augenblick, um, mit Mamas Opernglas bewaffnet, heimlich in die Studierstube zu schleichen, meinend, ich könnte mit Hilfe der Vergrößerung unsere Stadt, unser Haus und vielleicht mich selber auf dem Globus sehen. Allein es wollte mir nicht glücken. Ich versuchte es mit Vaters Lupe, und als sie versagte, mit den Augen, bis ich fast mit der Nase auf den geographischen Ort meines Daseins stieß. Wirklich glaubte ich nun ein Gesicht zu sehen, den Widerschein meines eigenen Gesichts, und ich erschrak davor, denn es war ungefähr, wie wenn man sich in einer Gartenkugel spiegelt.
Warum bewegte es mich so sehr, daß dieses Haus an der Bahn nun dem Erdboden gleichgemacht wird? Ich habe doch nur sechs Jahre meines Lebens dort verspielt, freilich die ersten. Ich könnte nicht einmal mehr von allen Möbeln sagen, wo sie einst standen, nicht von allen Bildern, wo sie hingen. Aber an den großen Amerikanerofen im Kinderzimmer erinnere ich mich deutlich und an seine Fenster aus Marienglas (als wohnte jemand darin). Er war von einem Gitter umgeben wie ein Hundezwinger, damit wir uns nicht verbrennen sollten. Auch an das dunkle Kämmerchen erinnere ich mich, vor dem ich mich fürchtete, obwohl nur Besen und Eimer darin standen, und auch an die blasse Wachsbüste des Mädchens von Lille, die ich einmal zerbrach. Im oberen Stock des Hauses lagen die Schlafzimmer. Dort bin ich geboren. Aber die Stelle, wo es geschah, ist nun unsichtbar, ist gleichsam Luft geworden.
Mädchen von Lille, 1902
Wenn ich wieder einmal in meine Heimat komme und mich jemand fragt, wo bist du eigentlich geboren, dann werde ich mit dem Finger nach oben zeigen und sagen, dort ungefähr, fünf Meter vom Erdboden, wo eben der Zitronenfalter fliegt, dort etwa muß es wohl gewesen sein.
***
Kommentierung
Am 13. April 1936 veröffentlichte das Erlanger Tagblatt jenen Artikel, den Ernst Penzoldt im ersten Satz seiner Erinnerungen an sein Geburtshaus in der Güterhallenstraße 12 erwähnt. Die Überschrift ist von trauriger Eindeutigkeit für ihn: „Unter Spitzeisen und Pickel. 1. Das sog. Hofmann’sche oder Penzoldt’sche Haus“.
Auf den Tag genau fünf Jahre später, am Ostersonntag, dem 13. April 1941, erscheint der „Nachruf auf ein Haus“ in den Münchner Neuesten Nachrichten.
Bild des Hauses von 1936. c/o Stadtarchiv Erlangen
Penzoldt erwähnt darin, dass sein Erlanger Geburtshaus nur neunzig Jahre alt war, als es 1936 abgerissen wird, eine Information, die er vermutlich dem Erlanger Tagblatt entnommen hat. Die Katastereinträge im Staatsarchiv Nürnberg für Haus Nr. 227 a (b war der große Garten) in Erlangen widerlegen diese Angabe. Der Pathologieprofessor an der Klinik der Erlanger Hochschule, Franz von Dittrich (1815-1859), ließ das Gebäude erst im Jahr 1855 erbauen, so dass es bei seinem Abriss 1936 gerade 80 Jahre alt war. Nach Dittrichs frühem Tod verkauften die Erben das Anwesen 1860 für 9000 Gulden an den prominenten evangelischen Theologieprofessor Johann Christian von Hofmann (1810-1877). Seine Frau Charlotte, geb. Lamayer, überlebte ihn um sechs Jahre. 1883 ging das Haus vorübergehend in den Besitz des ortsansässigen Baumeisters Wolfgang Harbauer über, der es spätestens 1885 an Franz Penzoldt, Professor für Innere Medizin und Pharmakologie an der Universität Erlangen, verkaufte.
1886 wurde eine Gedenkplakette für Johann von Hofmann am Haus angebracht, das von seinen ehemaligen Studenten scherzhaft „Der Schriftbeweis“ genannt wurde, nach einem vielbeachteten, 1852-1856 verfassten dreibändigen Werk des Theologen. Ein biographischer Essay über ihn erwähnt: „Vor allem hielt er sich [...] wie er es bei Karl von Raumer in Erlangen und bei Wackernagel in Berlin selbst erlebt hatte, einen Abend der Woche für seine Studenten frei.“ Die Vermutung liegt also nahe, dass der mysteriöse ovale steinerne Tisch im Garten, den Penzoldt erwähnt, bei geeigneter Witterung den samstäglichen Treffen Hofmanns mit seinen Studenten diente.
Nachdem der selbst lungenkranke Franz Penzoldt wohl erkannt hatte, dass die unmittelbare Nähe des Hauses zu den rußschnaubenden Dampflokomotiven am Erlanger Hauptbahnhof der Gesundheit der Familie nicht zuträglich war – das ursprünglich strahlend weiße Gebäude war innerhalb weniger Jahre ergraut – zog er 1898 um in eine große Villa in der Sieglitzhofer Straße 44 (heute Hindenburgstraße) im deutlich vornehmeren Professorenviertel der Stadt.
Das Haus in der Güterhallenstraße wurde an die Bahnverwaltung verkauft, die darin Wohnungen für Bahnbeamte einrichtete. So konnte die Reichsbahn den Abriss 1936 ohne Schwierigkeiten vornehmen. Der stark zunehmende Verkehr hatte es erforderlich gemacht, den hinderlichen schienengleichen Schrankenübergang am Bahnhof durch eine Unterführung zu ersetzen.
Bahnübergang nach dem begonnenen Abriss 1936. Das Haus hat sein Dach bereits eingebüßt. c/o Stadtarchiv Erlangen
Ernst Penzoldt gelang es, alarmiert durch den ihm zugesandten Zeitungsausschnitt, einen Stein des alten Hauses zu retten und zu beschriften. Er befindet sich heute als Schenkung seiner Tochter Ulla im Amtszimmer des Stadtarchivars Andreas Jakob.
c/o Andreas Jakob
Ernst Penzoldts Geburtshaus hat vielfältigen Niederschlag in seinem bildernerischen wie im schriftstellerischen Werk gefunden. So beginnt sein literarischer Erstling, Der Zwerg, von 1927:
Adrian ter Mooren, von dem ich vor allem zu erzählen habe, wurde in der kleinen Stadt Regnitz in einem Hause geboren, das an der Eisenbahn lag. Oder genauer: Die Bahn lag an dem Hause, denn es war älter als jene. Damals, als die Bahn gebaut wurde – Adrians Vater war ein Kind, als es geschah, und wußte noch genau, wie es vorher ausgesehen –, nahm man ein Stück des großen Gartens weg und aller benachbarten Gärten, so daß, wie der vor kurzem verstorbene alte Herr ter Mooren zornig zu sagen pflegte, »einem alle Leute im Vorüberfahren in die Fenster gucken konnten«. Es nutzte auch nichts, daß er am Ende des Gartens eine ziemlich hohe Mauer hatte errichten lassen. Bei Westwind und auch bei Regen quoll dennoch der Rauch der Lokomotiven in den Garten und schwärzte Blumen und Bäume. Überall roch es nach Eisenbahn, und der Alte fuhr nie damit, wie sein Sohn, wenn auch selten, es tat. Immer aber fiel ihm dann ein, wenn sein lärmender Zug für Sekunden die Stelle traf, die Garten gewesen war und sehr still, wie es ausgesehen hatte, damals als er klein war, mit den alten Ulmen und dem steinernen Tisch darunter, mit dem Springbrunnen und den bunten Glaskugeln zwischen den Rosenbeeten.
Die Schmetterlingsmetapher am Ende seines Nachrufs lässt vermuten, dass Ernst Penzoldt so wenigstens die Seele der Güterhallenstraße 12 gerettet sah.
***
Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlags. Der Verfasser dankt dem Suhrkamp Verlag, Sebastian Lentz von der Familie Penzoldt, Andreas Jakob vom Stadtarchiv Erlangen sowie dem Staatsarchiv Nürnberg für ihre freundliche Unterstützung.