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Die Autorin Dagmar Leupold über monströse Sprachformen in der Politik

In seinem 1947 erschienenen LTI – Lingua Tertii Imperii: Notizbuch eines Philologen befasst sich Victor Klemperer mit der Sprache des Dritten Reichs. Er dokumentiert und analysiert die Gefahr, die von ihr ausging: Verzerrung, Manipulation, Hetze. Es war eine Sprache, die Ängste schürte, Missgunst schaffte, entmenschlichte. Gebannt sei die Gefährlichkeit der Worte durch reine Erkenntnis nicht; „Widerworte“, eine „Gegensprache“ bräuchte es, um sie einzudämmen. Die Münchner Schriftstellerin Dagmar Leupold fordert dies nun auch für den aktuellen politischen Diskurs, dessen Akteure insbesondere in der Debatte über Flucht und Migration immer neue Wortmonster hervorbringen.

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LQI: Lingua Quarti Imperii

Hier bin ich Mensch, hier kauf' ich ein: So wirbt ein großer Drogeriemarkt für sich. Und eine Supermarktkette verheißt auf einem Banner, welches sich über die gesamte Wand eines Gebäudes in München spannt, dass man sich in 800 Metern endlich wieder verlieben könne – dann nämlich, wenn besagte Filiale wiedereröffne. Das Menschliche am Mensch ist also der Konsum, in den Konsumkathedralen ist das Menschenkind wesenhaft bei sich. Kunde und Dienstleister paaren sich zu glücklichen Liebesbeziehungen; matchen nennen Partnerbörsen das.

Überhaupt hat der Mensch Konjunktur; auch die Politiker wenden sich kaum mehr an die Bürgerinnen und Bürger (oder Wählerinnen und Wähler), sondern an die Menschen. „Die Menschen in unserem Lande erwarten …“ – so fängt jeder zweite Satz an. Beim Mensch handelt es sich also in Wahrheit um die eigene Klientel – der so Angesprochene hat mit dem oben erwähnten umworbenen Kunden vieles, wenn nicht gar alles gemeinsam: Der Klient – der Kunde ist König – darf bestimmen, was in den politischen Warenregalen feilgeboten werden soll, er darf mit „Schmeckt mir nicht“ – als maximal komplexes Argument – die Auswahl reklamieren bzw. verlangen, dass unattraktive Ware auf die Wühltische des Aussortierten verbannt wird, ganz gleich, ob es sich um das Grundgesetz, Artikel 1 handelt oder um das christliche Gebot der Nächstenliebe.

Schmeckt uns nicht. Weg damit. Geködert wird der Kunde Wähler mit Emotionen: Wir wissen, was dir fehlt – und wir haben es im Angebot. Die Mogelpackungen – die eigentliche Karenz, der Mangel an echter Teilhabe, wird kaschiert –, sind ins Geschenkpapier einer sowohl verkitschten („Heimat“) als auch verrohten Sprache („Asyltourismus“) gewickelt. Ist die Nachfrage einmal durch gezielte Paranoia-Kampagnen („Flüchtlingstsunami“) gesteuert, sind Bedürfnisse einmal generiert, kann man in schöner Eintracht und geteiltem Ressentiment Einsicht, Humanität, Besonnenheit, Toleranz und die Fähigkeit zur Selbstkritik verramschen.

 

Das Spiel: Angst

Die infame Rhetorik der Polit-Verkäufer spart auch auf der symbolischen Ebene nicht mit Verstärkern: In Bayern wird wohl demnächst auch in Supermärkten, Nagelstudios und Wettbüros das Kreuz hängen. Der gemarterte Leib Christi muss herhalten für eine Politik der Unbarmherzigkeit, die Pharisäer in den Amtsstuben halten das Kruzifix womöglich in guter alter Tradition für ein probates Mittel der Teufelsbannung: Kein Fremder übertrete diese Schwelle. Und die Christsozialen, die mit christlich und sozial gleich zwei freche fakes im Namen führen, haben auch das Lager wieder salonfähig gemacht: Viele der Geflüchteten, die an Deutschlands Grenzen anlanden, sollten erst einmal in Lager verräumt werden, Mängelware, Ladenhüter, geschäftsschädigend, Spielverderber. Wie das Spiel heißt? Ich mach dir Angst, und du kaufst bei mir ein: Bewegungsmelder, Pfefferspray und Demagogie.

Damit die Benennung „Mensch“ als Distinktionsmerkmal taugt (Menschen – das sind meine follower), dürfen die Migranten nicht Menschen, sondern müssen Unmenschen sein. Man könnte die Adressaten der Wahlkämpfer resp. Amtsinhaber auch Günstlinge nennen, denn sie sind demjenigen, dem sie ihre Wählergunst schenken, darin tief verbunden, dass sie den Rest der Menschheit mit Missgunst betrachten. Aufs Individuelle hinuntergebrochen heißt „America first“ („Bayern zuerst“, CSU) nichts anderes als „me first“: Es ist die Aufforderung, sich im Interesse der eigenen Vorteilswahrung abzugrenzen, regional, mental, sozial und kulturell.

Rufe nach Grenzziehung und Grenzschließung auf europäischer und nationaler Ebene entsprechen der sozialen Segregation unheilvoll. Gewählt wird derjenige, der die höchste Mauer um das höchst gefährdete Selbst herum verspricht. Dafür werden andere Dämme eingerissen, Wahlkampf, eigentlich schon kriegerisch genug, verkommt zur Hetze. Und wenn die Sprache alle Dämme bricht, werden die zivilisatorischen Grundvereinbarungen geflutet und weggeschwemmt. 

Man möchte kotzen angesichts der bürokratischen – mal euphemistischen, mal bedrohlichen – Wortmonster, die in jüngerer Zeit entbunden werden: Flüchtlingswelle (statt Migrationsbewegungen), Obergrenze (statt z.B. Untergrenze: Wie viele Geflüchtete nehmen wir mindestens auf?), Achse der Willigen (statt Solidargemeinschaft), Fiktion der Nicht-Einreise, Kontingent, Familiennachzug (statt Familienzusammenführung), Auffanglager, Transitzentren, Anschiffungszentren, Frontex. Frontex wie TippEx oder wie ex und Hopp! Schnelle Entledigung – war da was? Und so weiter und so fort.

Die Vulgarisierung und Brutalisierung der Sprache durch Trump, Gauland & Co. – Drecksloch und Vogelschiss mögen als Beispiele genügen; man sollte sie nicht durch allzu häufiges Zitieren auch noch aufwerten – sind die Geburtshelfer. Aber kaum ist dies geschrieben, kehrt Beklemmung ein: Ist dies nicht alles schon in vielen klugen und scharfsichtigen Analysen erfasst worden? In mitfühlenden Predigten auf den Punkt gebracht worden? In (ernsthaften) Diskussionsrunden erwogen? Rennen wir nicht ausgerechnet bei denjenigen mit viel Schwung offene Türen ein, die sie ohnehin nie schließen, geschweige denn zuschlagen würden? Sind ihre Einsichten, ihre Großherzigkeit, ihre Ermahnungen deswegen wohlfeil und folgenlos?

Mag sein, jedenfalls auf den ersten Blick. Außerdem verschlägt es einem ja schier die Sprache angesichts des ungeheuerlichen Zynismus, der – in den westlichen Machthemisphären – darin liegt, erst fleißig durch die eigene Wirtschafts- und Handelspolitik für die Fluchtursachen mitgesorgt zu haben, die nun viele Millionen von durch Krieg, Hunger- und Naturkatastrophen Bedrohte auf die Schlauchboote und gefährlichen Landrouten zwingen. Und dann eine Politik zu betreiben, die sich allein über die Zahl der Abgewiesenen profiliert. Es verschlägt einem schier die Sprache angesichts des Zynismus und der Hartherzigkeit, die darin liegen, den eigenen Geburtsvorteil – in einem friedlichen, prosperierenden Staat, der weder von Kriegen noch von Hungersnöten oder Epidemien gebeutelt wird – diesen Geburtsvorteil für verdient, für einen erworbenen Verdienst zu halten. So werden die in Bayern verordneten Kreuze unter der Hand zu Verdienstkreuzen.

 

ZEIT-ONLINE-Blog zum 'Asylstreit' (Scoopnest)

 

Aber gerade weil es einem die Sprache verschlägt, muss man das Kunststück vollbringen, in derselben, der eigenen, der ramponierten Sprache eine andere zu (er-)finden, zu schärfen, auf ihr zu beharren, sie einzuschmuggeln in die geölten Räderwerke der Hetzparolenindustrie.

Dieses Kunststück ist nicht den Sprachkünstlern vorbehalten, jeder Mensch, der nicht in Gefolgschaften verharrt, ist dazu – zu Widerworten – aufgerufen. Ein Projekt, dem von Victor Klemperer verwandt, der in Lingua Tertii Imperii schrieb, dass sein Tagebuch (worum es sich bei dem Werk in stilisierter Form handelt), die „Balancierstange“ gewesen sei, ohne die er „hundertmal abgestürzt wäre“. Es geht folglich darum, eine Gegensprache zu der Lingua Quarti Imperii, die sich gerade flächendeckend breitmacht, zu behaupten.

Europa reitet auf einem Hornochsen, der buckelt und bockt – reinstes Rodeo. Da kann man eine Balancierstange gut gebrauchen: eine an Ausgewogenheit reiche Sprache gegen die Reichsverweser, die an der Verarmung arbeiten. Mit der Brechstange.