Laura Worsch bereist Georgien, das diesjährige Gastland auf der Frankfurter Buchmesse
Laura Worsch, 23 Jahre alt, wuchs in München auf und studierte European Studies in Passau. Bereits als Schülerin nahm sie an einem Schreibworkshop des Literaturhauses München teil. 2014 wurde sie zum Treffen junger AutorInnen bei den Berliner Festspielen eingeladen. Inzwischen hat sie mehrere Kurzgeschichten und Gedichte publiziert, u.a. in der aktuellen Ausgabe der Literatur in Bayern.
Im ausgehenden Sommer hat Laura Worsch gemeinsam mit Julia Tappeiner abseits der touristischen Wege den Kaukasus bereist und auf dem Blog Caucasian Corner Stories über Entdeckungen und Begegnungen berichtet. Zu diesen oft wenig beachteten Ländern zählt auch Georgien, das im nächsten Monat Gastland auf der Frankfurter Buchmesse ist. Dort schrieb Laura Worsch u.a. diese Geschichte.
*
Noch stehe ich hier
Die Türme dienten den Bergvölkern im Nordosten Georgiens ursprünglich zum Schutz vor Angreifern. Beinahe jede Familie hatte einen Turm neben ihrem Haus stehen. Heute sind viele zugemauert oder verfallen, nur wenige sind noch zugänglich. Sie alle sind mehrere hundert Jahre alt und datieren bis ins Mittelalter zurück. Die Svan Türme bilden damit einen wichtigen Teil der kollektiven Erinnerung in der Svaneti Region.
Noch stehe ich hier.
Wind und Regen zehren an mir wie die Absenz allen Lebens, das ich doch schützen sollte.
Nach wie vor stehe ich hier und Erinnerungen manifestieren sich im Verfall – das Haus gegenüber, aus demselben Stein gebaut, dort wohnte einst eine Familie mit Kind und Hund. Jetzt liegt das Dach auf dem Boden und Risse spalten die Wände. Die Familie ging weg, der Hund blieb zunächst noch in meinem Schatten zurück, eine natürliche Solidarität zwischen uns. Irgendwann ging auch er, oder er starb, ich weiß es nicht mehr.
Nur der Alte war noch übrig. Er saß stundenlang zu meinen Füßen, gemeinsam sahen wir aufs Tal hinunter und waren einander eine Konstante. Morgens zogen die Kühe hinaus in die Berge und kehrten abends zu uns zurück. Das Licht aus dem Haus des Alten schien auch in stürmischen Nächten und hielt uns sicher an Ort und Stelle, die Kühe und mich. Auch jetzt gibt es noch Kühe, aber sie ziehen weiter. Ich kann ihnen nichts mehr bieten. Stattdessen verbringe ich die Jahreszeiten damit, nach unten ins Tal zu blicken.
Es ist kalt. Die Kälte pfeift durch mich hindurch, unablässig, ein einziger langer Atem. Um mich herum wird es bunt grün grüner bunt braun schwarz und weiß, immer wieder der gleiche Ablauf. Über allem stehe ich und über mir die Berge, die nur vom Himmel überragt werden. Wir sind alle gute Freunde.
Nur der Alte war noch übrig. Wie die anderen wurde er im Haus gegenüber von mir geboren, lebte dort und starb auch dort. Früher war die Luft hier voll von Lachen und Schreien, gefüllt mit heißen Düften der Menschen und Tiere. Im Laufe der letzten Jahrzehnte wurde alles leerer, die Luft, das Dorf. Schließlich zogen die Kinder des Alten weg, seine Frau starb, schließlich er selbst.
Nach den Jahren allein schwanke ich zwischen Einsamkeit und Gleichgültigkeit hin und her und manchmal wirft mich beides beinahe um. Die weiße Gleichgültigkeit ist in den Bergen kälter und länger. Dafür ist die grünbunte Einsamkeit während ihrer wenigen Monate umso unerträglicher.
Türme in der Svaneti Region © Laura Worsch
Ich habe tausend Leben gelebt und erlebt und übrig geblieben sind nur wir, die wir diese Leben konservieren. Erinnerungen werden geteilt wie der Wind und der Regen, die uns langsam zersetzen.
Unsere Leben sind ein beständiges Glühen, ein sanftes Leuchten, das für die Ewigkeit ausgelegt ist. Verglichen mit uns war das Leben des Alten ein kurzes Flackern, so nehme zumindest ich Menschenleben wahr, wenn ich denn überhaupt noch etwas wahrnehme. Heute ziehen sie an mir vorbei wie die Kühe und die Sonne und meist spüre ich sie nicht mehr. Manchmal berühren sie mich am Fuß und dann schrecke ich auf wie aus einem ewigen Traum.
Der Alte fehlt mir. Er würde meine Löcher füllen, das Grün entfernen, dessen Wurzeln sich langsam durch meine Ritzen graben. Aber auch das ist gut so. Ich werde noch mehr Teil von allem anderen. Aber noch stehe ich hier.
Ein Beben.
Es kommt nicht von unten. Es kommt auch nicht von oben wie im Frühling, wenn geschmolzener Schnee mich umspült. Um mich herum erlischt das Leben so plötzlich, dass ich die Dunkelheit nicht begreifen kann, die das Beben hinterlässt. Die Luft brennt von flüssigem Schwarz, das sich durch die Landschaft wälzt, wo zuvor im Frühling friedlich die Gletscher schmolzen.
Wie kann ein Flackern so viel zerstören?
Aber noch stehe –
Laura Worsch bereist Georgien, das diesjährige Gastland auf der Frankfurter Buchmesse>
Laura Worsch, 23 Jahre alt, wuchs in München auf und studierte European Studies in Passau. Bereits als Schülerin nahm sie an einem Schreibworkshop des Literaturhauses München teil. 2014 wurde sie zum Treffen junger AutorInnen bei den Berliner Festspielen eingeladen. Inzwischen hat sie mehrere Kurzgeschichten und Gedichte publiziert, u.a. in der aktuellen Ausgabe der Literatur in Bayern.
Im ausgehenden Sommer hat Laura Worsch gemeinsam mit Julia Tappeiner abseits der touristischen Wege den Kaukasus bereist und auf dem Blog Caucasian Corner Stories über Entdeckungen und Begegnungen berichtet. Zu diesen oft wenig beachteten Ländern zählt auch Georgien, das im nächsten Monat Gastland auf der Frankfurter Buchmesse ist. Dort schrieb Laura Worsch u.a. diese Geschichte.
*
Noch stehe ich hier
Die Türme dienten den Bergvölkern im Nordosten Georgiens ursprünglich zum Schutz vor Angreifern. Beinahe jede Familie hatte einen Turm neben ihrem Haus stehen. Heute sind viele zugemauert oder verfallen, nur wenige sind noch zugänglich. Sie alle sind mehrere hundert Jahre alt und datieren bis ins Mittelalter zurück. Die Svan Türme bilden damit einen wichtigen Teil der kollektiven Erinnerung in der Svaneti Region.
Noch stehe ich hier.
Wind und Regen zehren an mir wie die Absenz allen Lebens, das ich doch schützen sollte.
Nach wie vor stehe ich hier und Erinnerungen manifestieren sich im Verfall – das Haus gegenüber, aus demselben Stein gebaut, dort wohnte einst eine Familie mit Kind und Hund. Jetzt liegt das Dach auf dem Boden und Risse spalten die Wände. Die Familie ging weg, der Hund blieb zunächst noch in meinem Schatten zurück, eine natürliche Solidarität zwischen uns. Irgendwann ging auch er, oder er starb, ich weiß es nicht mehr.
Nur der Alte war noch übrig. Er saß stundenlang zu meinen Füßen, gemeinsam sahen wir aufs Tal hinunter und waren einander eine Konstante. Morgens zogen die Kühe hinaus in die Berge und kehrten abends zu uns zurück. Das Licht aus dem Haus des Alten schien auch in stürmischen Nächten und hielt uns sicher an Ort und Stelle, die Kühe und mich. Auch jetzt gibt es noch Kühe, aber sie ziehen weiter. Ich kann ihnen nichts mehr bieten. Stattdessen verbringe ich die Jahreszeiten damit, nach unten ins Tal zu blicken.
Es ist kalt. Die Kälte pfeift durch mich hindurch, unablässig, ein einziger langer Atem. Um mich herum wird es bunt grün grüner bunt braun schwarz und weiß, immer wieder der gleiche Ablauf. Über allem stehe ich und über mir die Berge, die nur vom Himmel überragt werden. Wir sind alle gute Freunde.
Nur der Alte war noch übrig. Wie die anderen wurde er im Haus gegenüber von mir geboren, lebte dort und starb auch dort. Früher war die Luft hier voll von Lachen und Schreien, gefüllt mit heißen Düften der Menschen und Tiere. Im Laufe der letzten Jahrzehnte wurde alles leerer, die Luft, das Dorf. Schließlich zogen die Kinder des Alten weg, seine Frau starb, schließlich er selbst.
Nach den Jahren allein schwanke ich zwischen Einsamkeit und Gleichgültigkeit hin und her und manchmal wirft mich beides beinahe um. Die weiße Gleichgültigkeit ist in den Bergen kälter und länger. Dafür ist die grünbunte Einsamkeit während ihrer wenigen Monate umso unerträglicher.
Türme in der Svaneti Region © Laura Worsch
Ich habe tausend Leben gelebt und erlebt und übrig geblieben sind nur wir, die wir diese Leben konservieren. Erinnerungen werden geteilt wie der Wind und der Regen, die uns langsam zersetzen.
Unsere Leben sind ein beständiges Glühen, ein sanftes Leuchten, das für die Ewigkeit ausgelegt ist. Verglichen mit uns war das Leben des Alten ein kurzes Flackern, so nehme zumindest ich Menschenleben wahr, wenn ich denn überhaupt noch etwas wahrnehme. Heute ziehen sie an mir vorbei wie die Kühe und die Sonne und meist spüre ich sie nicht mehr. Manchmal berühren sie mich am Fuß und dann schrecke ich auf wie aus einem ewigen Traum.
Der Alte fehlt mir. Er würde meine Löcher füllen, das Grün entfernen, dessen Wurzeln sich langsam durch meine Ritzen graben. Aber auch das ist gut so. Ich werde noch mehr Teil von allem anderen. Aber noch stehe ich hier.
Ein Beben.
Es kommt nicht von unten. Es kommt auch nicht von oben wie im Frühling, wenn geschmolzener Schnee mich umspült. Um mich herum erlischt das Leben so plötzlich, dass ich die Dunkelheit nicht begreifen kann, die das Beben hinterlässt. Die Luft brennt von flüssigem Schwarz, das sich durch die Landschaft wälzt, wo zuvor im Frühling friedlich die Gletscher schmolzen.
Wie kann ein Flackern so viel zerstören?
Aber noch stehe –