Ein Blick in das neue Manuskript von Kerstin Specht
Spiegel bayerischer Literatur und Kultur, fundiert und unterhaltsam, Essays, Prosatexte und Gedichte von prominenten und unbekannten Autoren: Das ist die Zeitschrift Literatur in Bayern, die im Allitera Verlag erscheint. Seit über 30 Jahren informiert sie über das literarische Geschehen des Freistaats. In der 131. Ausgabe mit dem Schwerpunkt Literarische Landschaften gewährt die fränkische Dramatikerin und Schriftstellerin Kerstin Specht einen kleinen Einblick in ihr aktuelles Manuskript, ein Buch über ihre Mutter.
*
Ihre Zunge wühlte in ihrem Mund. Sie hatte drei malzige Bruststeine auf einmal hineingesteckt. Die zerbrannte Zunge schob sie von der einen auf die andere Seite. Schmales Licht fiel durch die Dachsparren. Friedel öffnete ihren Handteller, die Sonne schien aus ihrer Hand.
Sie saß auf der Eichentruhe und schrieb mit einem Bleistiftrest Gedichte. Stallgedichte. Und Schwalbengedichte.
Die Schwalben waren eingezogen. Der Vater hatte das Oberlicht der Haustür herausgenommen und da flogen sie ein und aus. Ihr Nest hatten sie über die Küchentür gebaut, darunter lag auf zwei Nägeln ein Brett, damit Kot und Steinchen nicht auf den Boden fielen.
In der Küche hing ein besticktes Tuch, »Wo die Schwalben wohnen, wohnt das Glück«. Einen Winter lang war an den Buchstaben und den Schwalbenschwänzen gearbeitet worden. Vielleicht half das, wenn man viel Zeit in einen Gedanken hineinstickt, aber Friedel hatte ihre Zweifel. Eigentlich wollte sie über ein Mädchen schreiben, das ungerecht behandelt wurde, aber dann dachte sie, dass Kinder keine Gedanken an Gerechtigkeit haben dürfen, denn sie werden sie nie bekommen. Das Licht erlosch, der Bleistiftrest brach. Das Messerchen rutschte am Holz ab, in ihre Hand, die kleine Schnittwunde brannte. Sie öffnete die Truhe. Sie roch einmal tief in die Truhe hinein. Da lagen braune, ledergebundene Bücher, bedeckt von Naphtalinluft, »Bibliothek des Wissens«. Manchmal hatte sie auf den braunfleckigen Seiten nach besonderen unbekannten Wörtern gefischt, aber sie konnte sie nicht brauchen. Sie waren aus einem anderen Jahrhundert, geschrieben in eleganten Zimmern mit sauberen Händen. Sie wollte ihr Blatt mit in die Truhe legen, aber dann zuckte sie zurück. Im Stall schrie eine trächtige Kuh, das Gebrüll fuhr ihr in den Magen. Sie zerknüllte das Papier und steckte den Ball in ihren Pulloverärmel.
Wünsche
Den großen Bauern sind Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter zugeteilt worden. Der Bäcker hat Polen gehabt und einen kleinen Weißrussen, dem sind die Gummistiefel bis über die Knie gegangen, er konnte damit ja nur stolpern, nicht laufen. In Unterrodach in einem Tanzsaal waren junge, hübsche, dunkelhaarige Franzosen einquartiert. Die sind in der Früh zur Arbeit gebracht worden, von einem Aufseher. Die Storrers Hilda und der Jean haben sich immer zugegrinst, und er hat sein Pitschkokäppchen noch ein wenig schiefer gezogen. Und die Hilda hat dann immer im Stall zu tun gehabt, wenn er da war. Die Hilda hat gemolken, ihren Kopf mit dem Kopftuch gegen die Kuhbäuche gelehnt, die Katze hat schon gewartet, dass sie eine Schale mit kuhwarmer Milch bekommt, und der Jean hat auch eine Schale bekommen von der Hilda und dann hat er ihr Euter aus dem Schürzenkleid geholt, ein wenig Milch darüber gegossen und abgeleckt. Das hat nicht lang gedauert, aber die Friedel hat das alles gesehen, und sie hat gesehen, dass die Jadwiga alles gesehen hat. Die war eine polnische Handarbeitslehrerin, sie war gesprungen vom Rand der Welt, um nach Paris zu kommen, und ist dann in so einem Misthaufen gelandet und musste Runkelrüben raustun, mit ihren feinen Händen grobe Arbeiten machen. Sie war nicht freundlich und hat stumm alle zum Tod verurteilt, mit ihren bösen Blicken. Die Todesstrafe hat sie allen gewünscht, weil, sie hatte ja die Lebensstrafe. Aber wo der Wunsch ausgeht, da geht er ein, haben die Alten gesagt. Und als sie es melden wollte, da ist sie auf einer Eisplatte ausgerutscht und hat sich das Genick gebrochen.
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Spiegel bayerischer Literatur und Kultur, fundiert und unterhaltsam, Essays, Prosatexte und Gedichte von prominenten und unbekannten Autoren: Das ist die Zeitschrift Literatur in Bayern, die im Allitera Verlag erscheint. Seit über 30 Jahren informiert sie über das literarische Geschehen des Freistaats. In der 131. Ausgabe mit dem Schwerpunkt Literarische Landschaften gewährt die fränkische Dramatikerin und Schriftstellerin Kerstin Specht einen kleinen Einblick in ihr aktuelles Manuskript, ein Buch über ihre Mutter.
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Ihre Zunge wühlte in ihrem Mund. Sie hatte drei malzige Bruststeine auf einmal hineingesteckt. Die zerbrannte Zunge schob sie von der einen auf die andere Seite. Schmales Licht fiel durch die Dachsparren. Friedel öffnete ihren Handteller, die Sonne schien aus ihrer Hand.
Sie saß auf der Eichentruhe und schrieb mit einem Bleistiftrest Gedichte. Stallgedichte. Und Schwalbengedichte.
Die Schwalben waren eingezogen. Der Vater hatte das Oberlicht der Haustür herausgenommen und da flogen sie ein und aus. Ihr Nest hatten sie über die Küchentür gebaut, darunter lag auf zwei Nägeln ein Brett, damit Kot und Steinchen nicht auf den Boden fielen.
In der Küche hing ein besticktes Tuch, »Wo die Schwalben wohnen, wohnt das Glück«. Einen Winter lang war an den Buchstaben und den Schwalbenschwänzen gearbeitet worden. Vielleicht half das, wenn man viel Zeit in einen Gedanken hineinstickt, aber Friedel hatte ihre Zweifel. Eigentlich wollte sie über ein Mädchen schreiben, das ungerecht behandelt wurde, aber dann dachte sie, dass Kinder keine Gedanken an Gerechtigkeit haben dürfen, denn sie werden sie nie bekommen. Das Licht erlosch, der Bleistiftrest brach. Das Messerchen rutschte am Holz ab, in ihre Hand, die kleine Schnittwunde brannte. Sie öffnete die Truhe. Sie roch einmal tief in die Truhe hinein. Da lagen braune, ledergebundene Bücher, bedeckt von Naphtalinluft, »Bibliothek des Wissens«. Manchmal hatte sie auf den braunfleckigen Seiten nach besonderen unbekannten Wörtern gefischt, aber sie konnte sie nicht brauchen. Sie waren aus einem anderen Jahrhundert, geschrieben in eleganten Zimmern mit sauberen Händen. Sie wollte ihr Blatt mit in die Truhe legen, aber dann zuckte sie zurück. Im Stall schrie eine trächtige Kuh, das Gebrüll fuhr ihr in den Magen. Sie zerknüllte das Papier und steckte den Ball in ihren Pulloverärmel.
Wünsche
Den großen Bauern sind Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter zugeteilt worden. Der Bäcker hat Polen gehabt und einen kleinen Weißrussen, dem sind die Gummistiefel bis über die Knie gegangen, er konnte damit ja nur stolpern, nicht laufen. In Unterrodach in einem Tanzsaal waren junge, hübsche, dunkelhaarige Franzosen einquartiert. Die sind in der Früh zur Arbeit gebracht worden, von einem Aufseher. Die Storrers Hilda und der Jean haben sich immer zugegrinst, und er hat sein Pitschkokäppchen noch ein wenig schiefer gezogen. Und die Hilda hat dann immer im Stall zu tun gehabt, wenn er da war. Die Hilda hat gemolken, ihren Kopf mit dem Kopftuch gegen die Kuhbäuche gelehnt, die Katze hat schon gewartet, dass sie eine Schale mit kuhwarmer Milch bekommt, und der Jean hat auch eine Schale bekommen von der Hilda und dann hat er ihr Euter aus dem Schürzenkleid geholt, ein wenig Milch darüber gegossen und abgeleckt. Das hat nicht lang gedauert, aber die Friedel hat das alles gesehen, und sie hat gesehen, dass die Jadwiga alles gesehen hat. Die war eine polnische Handarbeitslehrerin, sie war gesprungen vom Rand der Welt, um nach Paris zu kommen, und ist dann in so einem Misthaufen gelandet und musste Runkelrüben raustun, mit ihren feinen Händen grobe Arbeiten machen. Sie war nicht freundlich und hat stumm alle zum Tod verurteilt, mit ihren bösen Blicken. Die Todesstrafe hat sie allen gewünscht, weil, sie hatte ja die Lebensstrafe. Aber wo der Wunsch ausgeht, da geht er ein, haben die Alten gesagt. Und als sie es melden wollte, da ist sie auf einer Eisplatte ausgerutscht und hat sich das Genick gebrochen.