Erika Mann und Therese Giehse: Ein Auszug aus dem neuen Buch von Gunna Wendt
Zwei Frauen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten: Erika Mann, talentierte Tochter Thomas Manns, und Therese Giehse, beliebte Theaterschauspielerin. Als sie sich kennenlernten, waren beide bereits etabliert und wagten kurz darauf dennoch einen Neubeginn: Am 1. Januar 1933 gründeten sie das politische Kabarett »Die Pfeffermühle«. Erika verfasste die Szenen, in denen Therese brillierte. Doch schon zwei Monate später mussten die beiden Frauen, die nicht nur das gemeinsame Projekt, sondern auch eine problematische Liebesbeziehung verband, ins Schweizer Exil, bis ihre Wege sich 1937 schließlich trennten.
Gunna Wendt verarbeitet diese Schicksalsjahre zweier ungleicher Frauen zu einem einmaligen Doppelporträt, das Tabus und Traumata einer Generation nicht ausspart.
Gunna Wendt lebt seit 1981 als freie Autorin, Publizistin und Kuratorin in München. Neben Arbeiten für Theater und Rundfunk veröffentlichte sie mehrere Bücher, darunter Biographien über Liesl Karlstadt, Helmut Qualtinger, Maria Callas und die Familie Bechstein. 2017 wurde Gunna Wendt für ihre Arbeit mit dem Schwabinger Kunstpreis ausgezeichnet.
*
Die frechen Augen der Frauen
Während Erika um die Welt reiste und nicht nur äußere, sondern auch innere Welten mithilfe von Drogen erkundete, erlebte Therese ihre Abenteuer auf der Bühne. Ihr Alltag bestand aus Lernen, Proben und Spielen. Und sie nahm jede Rolle ernst.
Thereses Fixpunkt war das Theater. Konsequenterweise wohnte sie in unmittelbarer Nähe, zunächst zusammen mit ihrer Mutter und ihrer Schwester Irma in der elterlichen Wohnung in der Herzog-Rudolf-Straße, in der sie aufgewachsen war. Von dort waren es nur wenige Schritte bis zu den Kammerspielen. Ständige Begleiterin war ihre Hündin Daisy, die ab und zu mitspielte und manchmal sogar Therese die Show stahl, was sonst keiner schaffte. In der Herzog-Rudolf-Straße empfing Therese ausgewählte Gäste. Wenn sich beispielsweise Karl Kraus angekündigt hatte, bereitete die Mutter die Nachbarn darauf vor, dass die ganze Nacht gesprochen und gesungen werden würde.
Seit 1926 war Therese nun schon, lediglich unterbrochen durch kurze Gastauftritte an der Berliner Volksbühne, in den Münchner Kammerspielen zu sehen. Dort stillte sie ihre Neugier auf das Leben und ihre Sehnsucht nach echten Gefühlen, machte Entdeckungen, gewann Erkenntnisse, an denen sie Erika teilhaben ließ. Endlich hatte sie einen Menschen gefunden, auf den sie sich verlassen konnte: auf seinen Zorn, seine Empörung, seine Begeisterung, seinen Mut, seine Liebe. Erika lebte unverstellt ihre Gefühle – genau wie sie selbst. Das hatte sie auf der Bühne gelernt: klar, direkt, »unverschmiert« – ein Adjektiv, das sie häufig in Interviews benutzt hat.
So hatte sie auch durchs Leben gehen wollen, aber da hatte es zu viele Enttäuschungen und Angriffe gegeben. Auf der Bühne hatte sie Verstehen gelernt. Verstehen und Verzeihen. Das lag für sie nahe beieinander, wie bei allen großherzigen Menschen. Die Kinder, die mit ihr gespielt, ihre schönen langen roten Zöpfe bewundert hatten, waren von ihren Eltern und Lehrern verunsichert worden: Eine wie sie konnte nicht schön und wie die anderen sein – schaut sie an, das dicke Judenmädchen, das gegenüber der Synagoge wohnte. Dort, wo all die zu finden waren, die den Herrn Jesu getötet hatten. Da konnte sie sich so oft verteidigen, wie sie wollte: »Ich? Wieso sollte ich ihn denn getötet haben? Seid ihr noch bei Trost?« Damals hatte sie nichts verstanden, aber später anhand der Stücke Situationen erfahren, die sie begreifen ließen, wie es dazu kommen konnte, dass sie zur Außenseiterin gemacht wurde.
Erika war auch eine Außenseiterin, allerdings auf ganz andere Weise: Tochter eines berühmten Vaters, Schwester eines begabten Bruders, ehemalige Liebhaberin einer schönen kapriziösen Künstlertochter, geschiedene Gattin eines aufstrebenden Schauspielers und dazu passionierte Autofahrerin und Weltreisende. Erika erfand die Frauenrolle für sich neu, kompromisslos und offensiv. Und jetzt galt ihr Interesse und ihre Zuneigung – Therese wagte es noch nicht, das Wort Liebe zu gebrauchen – ihr, Therese. Sie konnte es kaum glauben. Nicht mehr als »alleiniger Mensch« durch die Welt laufen, sondern als Paar. Zusammenhalten, zusammenstehen, zusammenleben. Gemeinsam lieben.
Therese brauchte nicht mehr: Erika im Leben, das Theater in der Kunst. Das Theater im Leben, Erika in der Kunst. Verschmelzen, sich stärken, eins werden, sich ausbreiten, vergrößern. Thereses Blick auf die Welt milderte sich, die Distanz, die sie zu anderen Menschen aufzubauen gelernt hatte, verringerte sich. Endlich wieder glauben, was die anderen sagten. Endlich wieder sagen, was sie dachte. Erika tat das auch. Sie war so spontan, so fröhlich, so mitreißend. Die Eri, die die Suppe salzte, wie ihr Vater gesagt hatte, und die zugleich das Salz in der Suppe war, ohne das die Familientreffen fad, korrekt und ohne Esprit abliefen. Erika blinkte und brillierte, Erika würzte mit Schärfe und Raffinesse. Sogar das Theaterspielen gewann mit ihr eine neue Dimension, denn Erika verstand Thereses Bedürfnis, ein Theater zu machen, das nicht nur die üblichen Theatergänger ansprach, sondern eins fürs Volk, für Menschen, die echte Fragen an die Schauspieler hatten und ihr eigenes Leben einbrachten. Theater als politisches Instrument. Theater als Teil des Lebens – nicht als Gegenpart: politisches Theater!
Erika spürte, dass Therese an sie glaubte. Auch als Schauspielerin. Und sie musste es natürlich wissen. Wer, wenn nicht sie? Sie war die Größte. Das hatte sogar ihr Vater gesagt, und der geizte mit Lob für andere. Bis auf wenige Ausnahmen. Therese war eine davon. Und diese Therese war es eben auch, die sie, Erika, in ihrem Vorhaben bestärkte, Schauspielerin zu sein. Sicher auch weil sie in sie verliebt war. Aber das waren viele, die sich nicht für ihre Pläne interessierten, sondern an einer Beziehung, zumindest an einer Affäre Gefallen gefunden hätten. Männer wie Frauen.
Erika war »in«. Nicht nur weil sie die Tochter eines berühmten Schriftstellers war. Das spielte eine wesentliche Rolle – zumindest beim ersten Kennenlernen. Gustaf war das beste Beispiel gewesen. Was sie unterschätzt hatte, war seine mangelnde Spielfreude im Alltag. Der war in seiner Vorstellung von Konventionen geprägt. Wie war er nur auf diese Idee, auf das Schauspiel »Trautes Heim« gekommen? Dieses Spiel machte sie nicht mit. Die Rolle der Hausfrau war nicht die ihre, sie fehlte in ihrem Repertoire, und Erika war nicht bereit, sie zu spielen.
Therese würde so etwas nie von ihr erwarten, sie quälte Erika nicht mit konkreten Erwartungen. Von ihr wurde sie nicht in Bahnen gelenkt oder gebremst, von ihr wurde sie nur ermutigt und bewundert. Tatsächlich: Therese bewunderte sie. Und Erika bewunderte Therese. Von ihr konnte sie lernen. Sie, die sich stets gegen diejenigen gewehrt hatte, die sie belehren wollten: Lehrerinnen, Lehrer, Gouvernanten, Kinderfrauen. Ein Graus. Das Abitur hatte sie nur der Mutter zuliebe gemacht und ihr das deutlich, überdeutlich zu verstehen gegeben: das Kotzabitur! Dem Vater zuliebe hätte sie es gern gemacht, doch der interessierte sich nicht dafür. Ihn konnte man eher durch das Gegenteil aufmerksam werden lassen: durch eine extreme Handlung, durch Widerstand – mutig und komisch mussten ihre Auftritte zu Hause sein. Sie war die Hofnärrin der Familie Mann: fantasievoll, ideenreich, lustig, exaltiert, eloquent, frech.
Von Therese stammte die Aussage, Frauen seien für das Regiefach besser geeignet als Männer, Frauen hätten die »frecheren Augen«. Hatte Erika sie dazu angeregt? »Freche Augen« – nicht die üblichen Zuschreibungen wie »freches Mundwerk«. Therese sagte manchmal Dinge, über die Erika lange nachdachte. Therese, die große Schweigerin, die eher mit Worten geizte, im Leben jedenfalls. Auch das gefiel Erika. Einen Menschen an ihrer Seite zu haben, der seine Äußerungen bewusst wählte. Thereses Worte hatten Gültigkeit, waren ernst gemeint, standen fest im Raum. Doch das bedeutete nicht, dass sie zu jeder Zeit gesprächsbereit war. Ein alleiniger Mensch liebt das Schweigen. Das konnte sie von der Freundin lernen, denn ihr eigenes Bestreben war es oft, viel zu oft, das Schweigen zu brechen, um sich im Kontakt mit den anderen psychische Entspannung und Erleichterung zu verschaffen.
Erika redete gern. Und viel. Nur nicht über sich. Therese auch nicht. Aber auch nicht über andere. Es war die Art und Weise, wie sie sprach, die Erika faszinierte: Therese meißelte ihre Worte in den Boden. Waren sie einmal in der Welt, ließen sie sich nicht mehr vertreiben. Monumente, die man bestaunen, betrachten, erhören konnte. Warteten sie überhaupt auf Antwort?
Immer sei ihre Kunst »ein Äußerstes« gewesen, schwärmte Erika. Es sei Therese etwas Seltenes gelungen: in ihrer Kunst gleichzeitig im Ensemble aufzugehen. »Du ragtest hervor, ›nur‹ weil du hervorragend warst, nicht und nie, weil du dich hervortun wolltest.«
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Zwei Frauen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten: Erika Mann, talentierte Tochter Thomas Manns, und Therese Giehse, beliebte Theaterschauspielerin. Als sie sich kennenlernten, waren beide bereits etabliert und wagten kurz darauf dennoch einen Neubeginn: Am 1. Januar 1933 gründeten sie das politische Kabarett »Die Pfeffermühle«. Erika verfasste die Szenen, in denen Therese brillierte. Doch schon zwei Monate später mussten die beiden Frauen, die nicht nur das gemeinsame Projekt, sondern auch eine problematische Liebesbeziehung verband, ins Schweizer Exil, bis ihre Wege sich 1937 schließlich trennten.
Gunna Wendt verarbeitet diese Schicksalsjahre zweier ungleicher Frauen zu einem einmaligen Doppelporträt, das Tabus und Traumata einer Generation nicht ausspart.
Gunna Wendt lebt seit 1981 als freie Autorin, Publizistin und Kuratorin in München. Neben Arbeiten für Theater und Rundfunk veröffentlichte sie mehrere Bücher, darunter Biographien über Liesl Karlstadt, Helmut Qualtinger, Maria Callas und die Familie Bechstein. 2017 wurde Gunna Wendt für ihre Arbeit mit dem Schwabinger Kunstpreis ausgezeichnet.
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Die frechen Augen der Frauen
Während Erika um die Welt reiste und nicht nur äußere, sondern auch innere Welten mithilfe von Drogen erkundete, erlebte Therese ihre Abenteuer auf der Bühne. Ihr Alltag bestand aus Lernen, Proben und Spielen. Und sie nahm jede Rolle ernst.
Thereses Fixpunkt war das Theater. Konsequenterweise wohnte sie in unmittelbarer Nähe, zunächst zusammen mit ihrer Mutter und ihrer Schwester Irma in der elterlichen Wohnung in der Herzog-Rudolf-Straße, in der sie aufgewachsen war. Von dort waren es nur wenige Schritte bis zu den Kammerspielen. Ständige Begleiterin war ihre Hündin Daisy, die ab und zu mitspielte und manchmal sogar Therese die Show stahl, was sonst keiner schaffte. In der Herzog-Rudolf-Straße empfing Therese ausgewählte Gäste. Wenn sich beispielsweise Karl Kraus angekündigt hatte, bereitete die Mutter die Nachbarn darauf vor, dass die ganze Nacht gesprochen und gesungen werden würde.
Seit 1926 war Therese nun schon, lediglich unterbrochen durch kurze Gastauftritte an der Berliner Volksbühne, in den Münchner Kammerspielen zu sehen. Dort stillte sie ihre Neugier auf das Leben und ihre Sehnsucht nach echten Gefühlen, machte Entdeckungen, gewann Erkenntnisse, an denen sie Erika teilhaben ließ. Endlich hatte sie einen Menschen gefunden, auf den sie sich verlassen konnte: auf seinen Zorn, seine Empörung, seine Begeisterung, seinen Mut, seine Liebe. Erika lebte unverstellt ihre Gefühle – genau wie sie selbst. Das hatte sie auf der Bühne gelernt: klar, direkt, »unverschmiert« – ein Adjektiv, das sie häufig in Interviews benutzt hat.
So hatte sie auch durchs Leben gehen wollen, aber da hatte es zu viele Enttäuschungen und Angriffe gegeben. Auf der Bühne hatte sie Verstehen gelernt. Verstehen und Verzeihen. Das lag für sie nahe beieinander, wie bei allen großherzigen Menschen. Die Kinder, die mit ihr gespielt, ihre schönen langen roten Zöpfe bewundert hatten, waren von ihren Eltern und Lehrern verunsichert worden: Eine wie sie konnte nicht schön und wie die anderen sein – schaut sie an, das dicke Judenmädchen, das gegenüber der Synagoge wohnte. Dort, wo all die zu finden waren, die den Herrn Jesu getötet hatten. Da konnte sie sich so oft verteidigen, wie sie wollte: »Ich? Wieso sollte ich ihn denn getötet haben? Seid ihr noch bei Trost?« Damals hatte sie nichts verstanden, aber später anhand der Stücke Situationen erfahren, die sie begreifen ließen, wie es dazu kommen konnte, dass sie zur Außenseiterin gemacht wurde.
Erika war auch eine Außenseiterin, allerdings auf ganz andere Weise: Tochter eines berühmten Vaters, Schwester eines begabten Bruders, ehemalige Liebhaberin einer schönen kapriziösen Künstlertochter, geschiedene Gattin eines aufstrebenden Schauspielers und dazu passionierte Autofahrerin und Weltreisende. Erika erfand die Frauenrolle für sich neu, kompromisslos und offensiv. Und jetzt galt ihr Interesse und ihre Zuneigung – Therese wagte es noch nicht, das Wort Liebe zu gebrauchen – ihr, Therese. Sie konnte es kaum glauben. Nicht mehr als »alleiniger Mensch« durch die Welt laufen, sondern als Paar. Zusammenhalten, zusammenstehen, zusammenleben. Gemeinsam lieben.
Therese brauchte nicht mehr: Erika im Leben, das Theater in der Kunst. Das Theater im Leben, Erika in der Kunst. Verschmelzen, sich stärken, eins werden, sich ausbreiten, vergrößern. Thereses Blick auf die Welt milderte sich, die Distanz, die sie zu anderen Menschen aufzubauen gelernt hatte, verringerte sich. Endlich wieder glauben, was die anderen sagten. Endlich wieder sagen, was sie dachte. Erika tat das auch. Sie war so spontan, so fröhlich, so mitreißend. Die Eri, die die Suppe salzte, wie ihr Vater gesagt hatte, und die zugleich das Salz in der Suppe war, ohne das die Familientreffen fad, korrekt und ohne Esprit abliefen. Erika blinkte und brillierte, Erika würzte mit Schärfe und Raffinesse. Sogar das Theaterspielen gewann mit ihr eine neue Dimension, denn Erika verstand Thereses Bedürfnis, ein Theater zu machen, das nicht nur die üblichen Theatergänger ansprach, sondern eins fürs Volk, für Menschen, die echte Fragen an die Schauspieler hatten und ihr eigenes Leben einbrachten. Theater als politisches Instrument. Theater als Teil des Lebens – nicht als Gegenpart: politisches Theater!
Erika spürte, dass Therese an sie glaubte. Auch als Schauspielerin. Und sie musste es natürlich wissen. Wer, wenn nicht sie? Sie war die Größte. Das hatte sogar ihr Vater gesagt, und der geizte mit Lob für andere. Bis auf wenige Ausnahmen. Therese war eine davon. Und diese Therese war es eben auch, die sie, Erika, in ihrem Vorhaben bestärkte, Schauspielerin zu sein. Sicher auch weil sie in sie verliebt war. Aber das waren viele, die sich nicht für ihre Pläne interessierten, sondern an einer Beziehung, zumindest an einer Affäre Gefallen gefunden hätten. Männer wie Frauen.
Erika war »in«. Nicht nur weil sie die Tochter eines berühmten Schriftstellers war. Das spielte eine wesentliche Rolle – zumindest beim ersten Kennenlernen. Gustaf war das beste Beispiel gewesen. Was sie unterschätzt hatte, war seine mangelnde Spielfreude im Alltag. Der war in seiner Vorstellung von Konventionen geprägt. Wie war er nur auf diese Idee, auf das Schauspiel »Trautes Heim« gekommen? Dieses Spiel machte sie nicht mit. Die Rolle der Hausfrau war nicht die ihre, sie fehlte in ihrem Repertoire, und Erika war nicht bereit, sie zu spielen.
Therese würde so etwas nie von ihr erwarten, sie quälte Erika nicht mit konkreten Erwartungen. Von ihr wurde sie nicht in Bahnen gelenkt oder gebremst, von ihr wurde sie nur ermutigt und bewundert. Tatsächlich: Therese bewunderte sie. Und Erika bewunderte Therese. Von ihr konnte sie lernen. Sie, die sich stets gegen diejenigen gewehrt hatte, die sie belehren wollten: Lehrerinnen, Lehrer, Gouvernanten, Kinderfrauen. Ein Graus. Das Abitur hatte sie nur der Mutter zuliebe gemacht und ihr das deutlich, überdeutlich zu verstehen gegeben: das Kotzabitur! Dem Vater zuliebe hätte sie es gern gemacht, doch der interessierte sich nicht dafür. Ihn konnte man eher durch das Gegenteil aufmerksam werden lassen: durch eine extreme Handlung, durch Widerstand – mutig und komisch mussten ihre Auftritte zu Hause sein. Sie war die Hofnärrin der Familie Mann: fantasievoll, ideenreich, lustig, exaltiert, eloquent, frech.
Von Therese stammte die Aussage, Frauen seien für das Regiefach besser geeignet als Männer, Frauen hätten die »frecheren Augen«. Hatte Erika sie dazu angeregt? »Freche Augen« – nicht die üblichen Zuschreibungen wie »freches Mundwerk«. Therese sagte manchmal Dinge, über die Erika lange nachdachte. Therese, die große Schweigerin, die eher mit Worten geizte, im Leben jedenfalls. Auch das gefiel Erika. Einen Menschen an ihrer Seite zu haben, der seine Äußerungen bewusst wählte. Thereses Worte hatten Gültigkeit, waren ernst gemeint, standen fest im Raum. Doch das bedeutete nicht, dass sie zu jeder Zeit gesprächsbereit war. Ein alleiniger Mensch liebt das Schweigen. Das konnte sie von der Freundin lernen, denn ihr eigenes Bestreben war es oft, viel zu oft, das Schweigen zu brechen, um sich im Kontakt mit den anderen psychische Entspannung und Erleichterung zu verschaffen.
Erika redete gern. Und viel. Nur nicht über sich. Therese auch nicht. Aber auch nicht über andere. Es war die Art und Weise, wie sie sprach, die Erika faszinierte: Therese meißelte ihre Worte in den Boden. Waren sie einmal in der Welt, ließen sie sich nicht mehr vertreiben. Monumente, die man bestaunen, betrachten, erhören konnte. Warteten sie überhaupt auf Antwort?
Immer sei ihre Kunst »ein Äußerstes« gewesen, schwärmte Erika. Es sei Therese etwas Seltenes gelungen: in ihrer Kunst gleichzeitig im Ensemble aufzugehen. »Du ragtest hervor, ›nur‹ weil du hervorragend warst, nicht und nie, weil du dich hervortun wolltest.«