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01.02.2018, 14:37 Uhr
Sven Hanuschek
Text & Debatte
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Preisträger 2017: Schriftsteller, Filmemacher und Publizist Alexander Kluge

Laudatio auf Alexander Kluge zur Verleihung des Jean Paul-Preises 2017

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Prof. Sven Hanuschek bei seiner Laudatio auf der Jean Paul-Preisverleihung 2017 © Steffen Leiprecht / StMBW

Der Jean Paul-Preis des Freistaats Bayern ging 2017 an den Schriftsteller und Filmemacher Alexander Kluge. Kunstminister Dr. Ludwig Spaenle begründete die Auszeichnung Kluges unter anderem mit der Wirkkraft seines literarischen Schaffens, das sich vielfach mit gesellschaftspolitischen und geschichtsphilosophischen Fragen beschäftigt. „Alexander Kluge ist eine Ausnahmepersönlichkeit des zeitgenössischen Geisteslebens und Aufklärer der Gegenwart, der sein medienübergreifendes Lebenswerk als Chronist und Diagnostiker der gesellschaftlichen Zustände stets deren Verbesserung gewidmet hat“, so der Minister. Daher habe er dem Vorschlag der Jury mit großer Überzeugung zugestimmt. Der mit 15.000 Euro dotierte Literaturpreis des Freistaats wird alle zwei Jahre vergeben und würdigt das literarische Gesamtwerk eines deutschsprachigen Schriftstellers oder einer deutschsprachigen Schriftstellerin. Die Preisverleihung fand am 11. Dezember 2017 in München statt. Die Laudatio auf den Preisträger hielt Professor Sven Hanuschek (LMU). Der Text erschien in aviso 2018/1.

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„Ich erfinde nicht, ich entdecke.“

Alexander Kluge hat einmal gesagt, „wenn ich mit mir allein bin und Zeit habe – würde ich schreiben. Das einzige, was mir beim Buch fehlt, ist Musik und bewegtes Bild“. Damit hat er seinem Medium – einem seiner Medien – ein großes Kompliment gemacht und gleichzeitig fundamentale Einschränkungen formuliert.

In ein paar Minuten das Werk Kluges zu würdigen, hat seine Schwierigkeiten, auch wenn es sich um einen Literaturpreis und somit nur um einen Teil des Gesamtwerks handelt. Hinzu kommen ganz subjektive Einschränkungen – es passiert einem ja nicht oft im Leben, dass ein Autor, der für eigene Prägungen mitverantwortlich ist, über so viele Jahre da ist, dass er sein Werk weiter ausbauen kann, dass man seinen Veränderungen immer weiter folgen kann – das ist ein großes Glück. Es waren vor allem zwei Filme und die zugehörigen Filmbücher, Die Patriotin (1979) und Die Macht der Gefühle (1983), die mir als knapp Zwanzigjährigem eingeleuchtet haben: Genau so könnten Geschichten erzählt werden, die unserer Zeit angemessen sind; in Erzählstrukturen, die nicht nur das 19. Jahrhundert fortschreiben, die multiperspektivisch sind, offen, frech, neugierig, auch zornig auf diese Welt um uns herum, ohne sie herablassend zu benörgeln. Filme, die man sieht, wie man eine gelungene Symphonie hört, jede Minute der exzessiven Montagefilme bringt neue Überraschungen, Blickwechsel, Komplexionen und Vereinfachungen, Ebenenwechsel – auch wirklich Musik. Und Sätze, die einen ein Leben lang nicht verlassen: „Alle Gefühle glauben an einen glücklichen Ausgang.“ – „Jeder Mensch hat alle Gefühle. Hätte jeder nur eins, wäre es vom Standpunkt der Bindekunst einfacher.“ – „Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück. DEUTSCHLAND“.   

Kluges Werk war für viele wie für mich so etwas wie ein kognitiver Welt-Öffner, durch sein Erzählen wie durch sein Analysieren, durch seine Lust am Beobachten, an den Sinnen, am Vielwissen, an Philosophie und Theorie, die in ihrer Weise ja auch welterschließende, mitunter poetische  Erzählungen sind. Kluges Lust an unverhofften Sprüngen und Kombinationen, sein gewaltiges Repertoire, vielleicht noch Universalität, die es ja nicht mehr gibt, aber vielleicht doch ein bisschen. Wenn Sie Kluges Werk betreten, betreten Sie einen Kosmos, und ich versuche im Folgenden, ein paar Winkel dieses Kosmos zu benennen.

 

Film-Still Phantasie als „Pferd“

 

‚Frühwerk‘.

Ich beginne mit den ersten Büchern Kluges, am Anfang stehen die Lebensläufe. Anwesenheitsliste für eine Beerdigung (1962), darunter einige der bekanntesten Erzählungen wie Ein Liebesversuch oder Anita G., aus der der Film Abschied von gestern (1966) geworden ist, ein Band, der Kluge sofort bekannt machte und der seine vielleicht wichtigste Form, den Lebenslauf, einführte. Mit den hier erzählten lässt sich darüber nachdenken, was das faschistische Erbe in Deutschland bedeutet hat, wie soll man damit umgehen, welche Leben wurden wie zerstört durch diesen Teil der deutschen Geschichte? Diese Fragen hat Kluge vor mehr als einem halben Jahrhundert gestellt, als der Auschwitz-Prozess noch bevorstand, der Eichmann-Prozess gerade erst abgeschlossen war. Von den auch problematischen Entwicklungen, der Bewältigungsindustrie, war noch nichts zu sehen. Hier gibt es schon ungewöhnliche Erzählperspektiven, die sich in den nachfolgenden Erzählungsbänden, Lernprozesse mit tödlichem Ausgang (1973), Unheimlichkeit der Zeit. Neue Geschichten (1977) schnell radikalisieren, die Formen lockern sich, die Einfälle werden extremer, ich erinnere nur an die titelgebende Science Fiction-Geschichte Lernprozesse mit tödlichem Ausgang, eine 120 Seiten-Montage mit vier „Experten“, die aus dem Kessel von Stalingrad entkommen, noch den dritten Weltkrieg überleben und von einem kleinen Jupitermond schreiben, im Jahr 2103.

Der dokumentarische Roman Schlachtbeschreibung (1964) war zuvor der Versuch, ins dokumentarische Extrem zu gehen, Stalingrad in einer gewaltigen Recherche- und Dokumentationsarbeit zu ‚verstehen‘: Wie ist diese Armee überhaupt dorthin gekommen? Das ‚Ergebnis‘ ist gerade, dass Stalingrad nicht verstanden werden kann. So dokumentarisch die Einzelheiten sind, das „Buch wird dadurch nicht dokumentarischer“; lapidar heißt es in der Nachbemerkung:

Wer in Stalingrad etwas sah, Aktenvermerke schrieb, Nachrichten durchgab, Quellen schuf, stützte sich auf das, was zwei Augen sehen können. Ein Unglück, das eine Maschinerie von 300 000 Menschen betrifft, ist nicht so zu erfassen, die Montage der Quellen liefert allenfalls ein „Gitter, an das sich die Phantasie des Lesers anklammern kann“ – wie in jedem fiktionalen Roman auch. Die Erinnerungslosigkeit ist durch das Buch vielleicht etwas gebrochen, die Trauer ist zurückgeholt worden in den öffentlichen Diskurs.   

Strengere dokumentarische Verfahren sind damit beendet; Kluge wendet sie zwar weiterhin an, sie werden aber nie ganz durchgehalten, es gibt gefälschte oder falsch zugeordnete Dokumente, es gibt Fakes, die Sie alle aus den Fernsehsendungen kennen, es gibt sie auch in den literarischen Texten. – Dieses frühe Werk hat Kluge zusammengefasst in der Chronik der Gefühle (2000), die etwa zur Hälfte bereits neue Arbeiten bringt. Seither baut er systematisch an einer Werkstruktur, die ich Wundertüte nennen möchte – in der Forschung wird vornehmer vom „Kaleidoskop“ gesprochen, zu dem mir eher die ‚kaleidoskopischen Kollidiereskapaden‘ einfielen. Diese Form, vorher, vor allem in den Filmbüchern schon angelegt, wird nun immer weiter ausgefahren, mit Bänden wie Die Lücke, die der Teufel lässt (2003), Tür an Tür mit einem anderen Leben (2006), Das fünfte Buch. Neue Lebensläufe (2012), Kongs große Stunde (2015), dazu die thematisch enger gefassten Bände wie Geschichten vom Kino (2007), Das Labyrinth der zärtlichen Kraft (2009), Das Bohren harter Bretter (2011) oder 30. April 1945 (2014). Diese kleine Bibliothek ist Teil eines großen work in progress, an dem der Autor schreibt, ein Panorama von Sammelbänden, das immer wieder umgebaut, neu kombiniert und erweitert wird. Seit der Chronik der Gefühle wirken diese Bände zunehmend wie eine Einheit.

 

Film-Still General Suworow und die Marquise von O.

 

Polyhistor.

Will man diese Einheit beschreiben, fällt zuerst die Weite des Repertoires auf, die umfassende Neugier auf Welt: „Lesen ist Sammeln. Ich erfinde nicht, ich entdecke.“ Kluges Blick ist der eines Polyhistors, auf allen Gebieten, ob er sich über die Biokosmisten in der Sowjetunion, die luxuriösen Pissoirs in europäischen Behörden, den dicken kranken Napoleon oder die Erfindung des Klebers in der Antike als Beginn der Moderne Gedanken macht. „Wiz weidet auf allen Fluren“, so Jean Paul; „die Stalfütterung nur fürs Rindvieh“. Die barocken Polyhistoren waren Sammler, Bibliographen, Vorläufer der Enzyklopädisten. Alles, was jemals als Weltgeschichte, Literatur oder Philosophie gesammelt worden ist, sollte umfassend dokumentiert, dieses Wissen sollte ‚diszipliniert’, eingeteilt werden. Als „geübter wissenschaftlich-anarchistischer Mensch“, als der Kluge sich sieht, zeigt sich seine Polyhistorie nicht interessiert an einer Einteilung in Einzeldisziplinen: Er kann unendlich weitererzählen, solange sein nervöses Sensorium Geschichten findet, die sich umformen und in seiner Art, filmisch oder literarisch, gestalten lassen. Polyhistoren haben keine hierarchisierende Sicht auf Welt, sie pflegen einen erzdemokratischen Umgang mit dem Wissen um Teil und Ganzes. Aus jedem Detail, aus jeder Neben-Geschichte lässt sich eine Haupt-Geschichte eigenen Rechts erzählen, in unendlicher Progression. Wir sollen ihm vertrauen, weil der „Erfahrungsgehalt“ stimmt, jenseits einer faktischen Ebene: „Ich gehöre zur ‚Kritischen Theorie’ und werde den Leser nicht betrügen. Die Verwaltung der Authentizität darf er mir überlassen.“ Nicht hierarchisierend heißt, dass die großen Namen schon auch da sind, es würde gerade nicht die Geschichte von Cäsars Koch erzählt oder die Geschichte Cäsars aus dem Blick des Kochs, sondern die Geschichten Cäsars und des Kochs, gleichberechtigt, dazu vielleicht noch die Geschichte aus der Perspektive eines bestimmten Kochlöffels, in dem auch lange menschliche Erfahrung steckt.

Auch die ästhetische Form ist beiordnend: Die Verweigerung der großen dramaturgischen Bögen, das Erzählen von Gegen-Geschichten funktioniert nur vor dem Hintergrund der Bekanntheit ‚üblicher’ Dramaturgien, der Schemata aus Exposition, Entwicklung, Lösung bzw. Katastrophe, die Verweigerung des Handlungs-Primats funktioniert nur, weil die Leser sonst an dieses Primat gewöhnt sind. Und sie sind nicht darauf angewiesen, die Reihenfolge auch einzuhalten: Diese Bücher lassen sich an jeder Stelle aufschlagen und lesen, jedes Segment kann für sich stehen, kann „Momente der Überraschung“, von „besinnungslosem Glück“ auslösen.

 

Film-Still General Suworow und die Marquise von O.

 

Das Dialogische.

Mit der Vielfalt seines Werks und seinen ästhetischen Prinzipien forciert Alexander Kluge immer wieder Anschlussfähigkeit, die nicht zuletzt auch durch Montage entsteht, eine zurückhaltende, man kann sich seine Ordnungen in Kluges Büchern auch selber suchen. Texte sind etwas Festgehaltenes, Fixiertes, können dadurch auch hermetisch sein – um sie in Bewegung, in Fluss zu bringen, muss man über sie reden. Und Literatur kann auch mit anderem korrespondieren, mit Bildender Kunst etwa. Kluge hat eine Fülle dialogischer Bücher herausgebracht, mit Georg Baselitz, Gerhard Richter, mit Ferdinand v. Schirach, Rainer Stollmann, seine theoretischen Arbeiten zusammen mit Oskar Negt, und Sie alle haben ihn als Fragenden im Ohr, als neugierigen Menschen, der wirklich wissen will, was andere zu bestimmten Dingen und Fragen denken. Da geht es auch um demokratische Verfahren: Jede, jeder kann ihre/seine Geschichten in die Lücken der Montage bringen, nach den eigenen Anschlüssen suchen, Lücken zwingen gerade dazu, sich selbst, die eigene Phantasie, die eigenen Gefühle hineinzutragen. Die Welt, die durch Kooperation vielleicht noch zu retten ist, wird hier auch als eine Welt der Kommunikation gezeigt.

Bei diesem Darüber-Sprechen zeigt sich auch: Es gibt keine Erzählung ohne Mehrdeutigkeit, ohne Polyphonie; die Vorgeschichten, historische Traditionen, klingen mit, die Konstellation, in der sie im Band stehen, und der Zusammenhang mit dem, was tatsächliche Menschen tun.

 

Film-Still Die Vernunft ist ein Balance-Tier

 

Komik/Groteske.

Der Namensgeber dieses Preises, Jean Paul, hat in einem seiner vielen berückenden Momente in der Vorschule der Ästhetik beschrieben, was seiner Meinung nach ein Humorist ist: „Er gleicht dem Vogel Merops, welcher zwar dem Himmel den Schwanz zukehrt, aber doch in dieser Richtung in den Himmel auffliegt. Der Merops ist ein Bienenfresser, in Deutschland hat man der Schwanzmeise (dem ‚Pfannenstielchen‘) Ähnliches nachgesagt. Das klingt nach einem idyllischen Bildchen, ist aber doch etwas anderes, eine Metapher für den Blick des Poeten: Er entfernt sich mit seinem Flug von der sinnlichen Welt, aber er bekommt auch immer mehr in den Blick durch seine Bewegung. In seinem – Rücken (um es mal so zu sagen) ist der Himmel, die Transzendenz, die er nie erreicht und die er niemals sehen wird, aber er fliegt in die richtige Richtung. Das ist nicht versöhnlich, Jean Paul meint den vernichtenden Humor, der nicht sieht, wohin es ihn treibt, und der für ein Lachen steht, „worin noch ein Schmerz und eine Größe ist“. Sein Begriff für Groteske, und für groteske Komik; und Komik distanziert sich, ist angriffslustig, sie ist keine Ironie, kein ‚einverstandener‘ Humor. Das Unzusammengehörige, das schief beantwortete, schief oder mit einem Sprung fortgeführte ist Kluges Lust; er sagt, das komme aus Halberstadt, sei dort heute noch im Schul-Pausengespräch so: Gut angesehen ist der, der versetzt antwortet, und so sind die Geschichten in Kluges Bänden auch aneinandergekettelt.

Was soll das heißen, eine angriffslustige Komik? Wir leben alle in unserem Bild von Wirklichkeit, die wir bauen, aus vielen Teilrealitäten, eine Konstruktion, man könnte auch sagen eine Fiktion. Dieser Glaube an Wirklichkeit kann durch Witz, durch Lachen beschädigt werden, sie wirken „enthomogenisierend“, unser Verständnis von Wirklichkeit, auch unser Selbstverständnis kann momentweise zur Disposition gestellt werden, und das ist ein Gefühl von Freiheit. Wenn Kluge das crossmapping mit dem Bild erklärt: „Mit der Straßenkarte von Groß-London den Harz durchwandern“, also eine Wirklichkeitskategorie mit einer anderen ‚lesen‘, kann das schief gehen – Sie „brechen sich einen Arm“ – , aber das ist auch eine „unmittelbare Erfahrung: man bricht sich diesen Arm nicht ein zweites Mal.“ Und wenn Sie nur davon lesen, schmerzt der Arm noch nicht einmal, und Sie machen die Erfahrung trotzdem. Solche Überkreuzungen können auch die zwischen Theorie und Erzählung sein, und in der Philosophie die Komik zu finden, gehört zu den größeren Entdeckungen Kluges, würde ich behaupten.

Vielleicht noch einen Satz, um das ‚Konstellieren‘ zu verdeutlichen, die Art, wie Groteske entsteht. Ein Vers, den Alexander Kluge mehrfach verwendet hat, stammt aus einem Gedicht von Johann Baptist Mayrhofer:  „Die Erde ist gewaltig schön,/ Doch sicher ist sie nicht!“ Franz Schubert hat das Gedicht vertont, es heißt Wie Ulfru fischt. Das klingt ja erst einmal keineswegs komisch; das wird es erst, wenn man weiß, dass kein Mensch weiß, wer Ulfru ist – und dass die Sprecher des Gedichts Fische sind, die, die er nicht erwischt, andernfalls er sie vermutlich essen würde. Aber vielleicht soll Ulfru auch ins Wasser gelockt werden, die Nixen geben ihm die Fische nicht, gefährlich für Ulfru, nicht für die Fische… die Groteske funktioniert also nicht einmal durch den Vers selbst, erst durch seine Kontexte. Dass die Erde „gewaltig schön“ ist, darin steckt die Menschheitsgeschichte als Erfolgsgeschichte der Evolution (bisher), in gewisser Weise ‚schön‘; aber auch die Gewalt, eine Katastrophengeschichte.

 

Film-Still Die Vernunft ist ein Balance-Tier

 

Fortführen der Kritischen Theorie. Antirealismus der Gefühle.

Hier entspringt Kluges Blick und Werk der Kritischen Theorie, Adornos vor allem, dem ja immer präsent war, dass wir in einer Welt leben, in der „Katastrophen eintreten“. Am Anfang steht immer auch Gesellschaftsanalyse, die Wirklichkeit soll schon so präzis wie möglich wahrgenommen werden, ohne dass daraus je eine geschlossene systematische Philosophie geworden wäre, ein System sei der „Geist gewordene Bauch“ (Adorno, nicht Kluge – Negative Dialektik, 1966). Die Kritische Theorie wollte die Gesellschaft analysieren „im Lichte ihrer genutzten und ungenutzten oder mißbrauchten Kapazitäten zur Verbesserung der menschlichen Lage“; kürzer als mit Herbert Marcuse lässt sich das nicht sagen.

Die Messlatte bei Adorno ist der Massenmord an den europäischen Juden, Auschwitz, jede Kunst muss sich messen lassen, ob sie sich dazu verhält oder so fort macht, als sei nichts gewesen. Daran kann Kluges Werk sich messen lassen, keine Frage; aber er sucht dennoch in den geschichtlichen Prozessen, so schrecklich und gegen die Einzelnen gerichtet sie verlaufen mögen, immer nach den Gefühlen ‚unter‘ der Geschichte. Wie haben die Menschen versucht, Auswege zu finden aus der Kälte gesellschaftlicher Verhältnisse? Wer traut sich „und reißt die Kälte vom Pferd“? Woher nehmen wir die Hoffnung, die sich immer wieder reaktivieren lässt? Das ist mit dem Anti-Realismus der Gefühle gemeint: Menschen können nicht immer nur Realisten sein. Wir hoffen, wünschen, suchen nach den guten Ausgängen, auch in unseren Erfahrungen und in denen unserer Vorfahren – und um uns das klar zu machen, dazu brauchen wir Literatur. Eine fast befremdliche Leseerfahrung, die Sie mit Kluges Literatur machen können: er erzählt Ihnen von guten Wendungen, vom Glück, von den Katastrophen des Jahrhunderts, politischen wie privaten, und Sie gehen eher frohgemut aus diesen Lektüre heraus, obwohl Ihnen keine Katastrophe verschwiegen worden ist.

Solche Katastrophen können ja auch die eigenen Bindungen betreffen, und zu diesem Thema lässt sich viel im letzten Großband Kongs große Stunde (2015) finden. King Kongs große Stunde ist die Verteidigung der weißen Frau: „Das, was wir lieben, müssen wir beschützen.“ Die Menschen gehören zur Familie der Trockennasenaffen, es steckt noch viel Kong in uns, etwas, das älter und manchmal mächtiger ist als wir. Das ist quer durch die Geschlechter aufzufassen, in einer der komischsten Geschichten stellt die Erzählerin, eine Managerin, klar: „Mein Mann ist die weiße Frau in meiner Hand. Was für ein Zwerg im Gemüt!“

In Kongs große Stunde ist viel über Kluges eigene Verluste, seine eigene Herkunftsfamilie zu erfahren – er schreibt, um seine geschiedenen Eltern wieder zusammenzubringen – , der Band lässt sich auch als Einkreisung, Bestimmung des Bürgertums lesen, und Bürger ist man ja nicht einfach nicht mehr, wenn man sich zum Nichtbürger erklärt, ein großes Thema. Kluge führt diesen Diskurs anhand seines eigenen Vaters, des Arztes Ernst Kluge aus Halberstadt, der noch unzweifelhaft ein Bürger war. Eine seiner Vorschläge möchte ich für die Berliner Koalitionsrunden 2017/18 empfehlen: für ein „langfristiges Überleben ohne Krieg“ wäre es nach Ernst Kluges Meinung besser, wenn bei solchen Verhandlungen

geraucht würde. Seiner Erfahrung nach bringt das Gelassenheit. […] Das Fehlen von Likören oder einem erfrischenden Champagner […] scheint meinem Vater gefährlicher, als es Nikotin und Brandstoffe in der Lunge sein können, wenn es um die Herabsetzung der Rivalitätsschranke zwischen Verhandlern geht. Der menschliche Körper […] ist robust.

Herzlichen Glückwunsch an Alexander Kluge zum Jean Paul-Preis!

 

 

 

Eindrücke von der feierlichen Verleihung des Jean Paul-Preises in der Münchner Residenz © Steffen Leiprecht / StMBW

 

Professor Dr. Sven Hanuschek ist Publizist und Professor am Institut für deutsche Philologie der Ludwig-Maximilians-Universität München.