Geister II oder: Wie der Schriftsteller Norbert Niemann in New York seinen Kollegen Thomas von Steinaecker heimsuchte
Am 2. Oktober 2017 filmte der Schriftsteller Thomas von Steinaecker bei Dreharbeiten in New York City eine Gruppe Straßenmusiker auf dem Madison Square Park. Erst Wochen später, beim Sichten des Materials zu Hause in Augsburg, entdeckte er im Hintergrund eine unscharfe Gestalt – und erkannte darin den Chiemgauer Kollegen Norbert Niemann. Dieser lebt derzeit als Stipendiat in New York. Auch er hatte von der indirekten Begegnung nichts bemerkt. Gestern beschrieb Thomas von Steinaecker seine Sicht auf diesen geisterhaften Blow-up-Moment. Heute antwortet Norbert Niemann mit einem Gegenschuss.
*
Meine „Geistererscheinung" hatte ich natürlich erst, nachdem mir Thomas von Steinaecker das Filmstill geschickt hatte und ich für Sekunden meinem „Doppelgänger" begegnete (ein Wort, das hier in den USA zutiefst mit dem Deutschen assoziiert wird, wie Kindergarten, Blitzkrieg oder Oktoberfest in den Sprachgebrauch eingegangen ist und mir ein paar Tage später in einem Vortrag im Deutschen Haus an der New York University wiederbegegnete), bevor Bild und Erinnerung erneut zur Einheit verschmolzen.
Ich hatte Thomas aus anderen Gründen geschrieben, als er mir tags darauf zurückmailte, ob es denn sein könne, dass er mich am zweiten Oktober am Madison Square Park auf der Straße gesehen habe. In den USA war ich schon früher gewesen, aber tatsächlich war dieser zweite Oktober der allererste Tag meines Lebens in New York City. Ich war in der Nacht zuvor angekommen und gleich am Morgen aufgebrochen, um die Fifth Avenue vom Washington Square bis zum Central Park hinauf und zurück zu laufen.
Natürlich erinnerte ich mich an viele Details dieses langen Spaziergangs, aber ich muss zugeben, die beiden Straßenmusiker hatten sich in der Fülle der überwältigenden Eindrücke nicht in meinem Gedächtnis halten können. So dauerte es einige Sekunden, bis der Filmausschnitt und die schon in tieferen Schichten abgelagerten Bilder meines Bewusstsein wieder heraufgeholt waren und sich beides miteinander synchronisiert hatte. Für den Moment dieses Zeitrisses stand ich mir selbst als der Andere gegenüber. Gleich darauf aber erinnerte ich mich wieder so deutlich an die Szene, sah jetzt auch Kamera und Kameramann vor meinem innere Auge, glaubte sogar fragmenthaft die Musik hören zu können, als hätte ich das alles nie vergessen gehabt.
Unter den neurologischen Sonderfällen gibt es die Geschichte eines Amerikaners, der im Alter von ungefähr dreißig Jahren einen Golfball an den Kopf geschossen bekam. Seither erinnert er sich an jedes noch so kleine Detail seines Lebens ab ungefähr dem achten Lebensjahr. Fragt man ihn etwa, was er am 23. Juni 1974 erlebt habe, könnte seine Antwort so beginnen: Der Wecker zeigte 7.43 Uhr, als ich aufstand. Ich zog gelbe Socken, die Unterhose mit der geplatzten Naht auf der rechten Seite an, aß zum Frühstück Cornflakes mit Milch und Blaubeeren, der Himmel war bedeckt. Als ich aus dem Haus ging, blies mir eine Windböe die Kapuze vom Kopf.
Wie der Fall zeigt, ruht also vermutlich in all unseren Köpfen das gesamte ungeschnittene Erinnerungsmaterial unserer Existenz. Es lebt im Schatten unseres Bewusstseins weiter. Mit anderen Worten: Jede und jeder von uns trägt ihren und seinen Doppelgänger immer mit sich herum. Aber erst in Momenten wie auf der Fifth Avenue macht er auf sich aufmerksam – genauer gesagt, in dem Moment, als ich Thomas von Steinackers Filmstill anschaute und für Sekunden dessen auf mein Bewusstsein geworfenen Schatten wahrnahm.
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Am 2. Oktober 2017 filmte der Schriftsteller Thomas von Steinaecker bei Dreharbeiten in New York City eine Gruppe Straßenmusiker auf dem Madison Square Park. Erst Wochen später, beim Sichten des Materials zu Hause in Augsburg, entdeckte er im Hintergrund eine unscharfe Gestalt – und erkannte darin den Chiemgauer Kollegen Norbert Niemann. Dieser lebt derzeit als Stipendiat in New York. Auch er hatte von der indirekten Begegnung nichts bemerkt. Gestern beschrieb Thomas von Steinaecker seine Sicht auf diesen geisterhaften Blow-up-Moment. Heute antwortet Norbert Niemann mit einem Gegenschuss.
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Meine „Geistererscheinung" hatte ich natürlich erst, nachdem mir Thomas von Steinaecker das Filmstill geschickt hatte und ich für Sekunden meinem „Doppelgänger" begegnete (ein Wort, das hier in den USA zutiefst mit dem Deutschen assoziiert wird, wie Kindergarten, Blitzkrieg oder Oktoberfest in den Sprachgebrauch eingegangen ist und mir ein paar Tage später in einem Vortrag im Deutschen Haus an der New York University wiederbegegnete), bevor Bild und Erinnerung erneut zur Einheit verschmolzen.
Ich hatte Thomas aus anderen Gründen geschrieben, als er mir tags darauf zurückmailte, ob es denn sein könne, dass er mich am zweiten Oktober am Madison Square Park auf der Straße gesehen habe. In den USA war ich schon früher gewesen, aber tatsächlich war dieser zweite Oktober der allererste Tag meines Lebens in New York City. Ich war in der Nacht zuvor angekommen und gleich am Morgen aufgebrochen, um die Fifth Avenue vom Washington Square bis zum Central Park hinauf und zurück zu laufen.
Natürlich erinnerte ich mich an viele Details dieses langen Spaziergangs, aber ich muss zugeben, die beiden Straßenmusiker hatten sich in der Fülle der überwältigenden Eindrücke nicht in meinem Gedächtnis halten können. So dauerte es einige Sekunden, bis der Filmausschnitt und die schon in tieferen Schichten abgelagerten Bilder meines Bewusstsein wieder heraufgeholt waren und sich beides miteinander synchronisiert hatte. Für den Moment dieses Zeitrisses stand ich mir selbst als der Andere gegenüber. Gleich darauf aber erinnerte ich mich wieder so deutlich an die Szene, sah jetzt auch Kamera und Kameramann vor meinem innere Auge, glaubte sogar fragmenthaft die Musik hören zu können, als hätte ich das alles nie vergessen gehabt.
Unter den neurologischen Sonderfällen gibt es die Geschichte eines Amerikaners, der im Alter von ungefähr dreißig Jahren einen Golfball an den Kopf geschossen bekam. Seither erinnert er sich an jedes noch so kleine Detail seines Lebens ab ungefähr dem achten Lebensjahr. Fragt man ihn etwa, was er am 23. Juni 1974 erlebt habe, könnte seine Antwort so beginnen: Der Wecker zeigte 7.43 Uhr, als ich aufstand. Ich zog gelbe Socken, die Unterhose mit der geplatzten Naht auf der rechten Seite an, aß zum Frühstück Cornflakes mit Milch und Blaubeeren, der Himmel war bedeckt. Als ich aus dem Haus ging, blies mir eine Windböe die Kapuze vom Kopf.
Wie der Fall zeigt, ruht also vermutlich in all unseren Köpfen das gesamte ungeschnittene Erinnerungsmaterial unserer Existenz. Es lebt im Schatten unseres Bewusstseins weiter. Mit anderen Worten: Jede und jeder von uns trägt ihren und seinen Doppelgänger immer mit sich herum. Aber erst in Momenten wie auf der Fifth Avenue macht er auf sich aufmerksam – genauer gesagt, in dem Moment, als ich Thomas von Steinackers Filmstill anschaute und für Sekunden dessen auf mein Bewusstsein geworfenen Schatten wahrnahm.