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29.12.2017, 07:19 Uhr
Carmen Stephan
Text & Debatte
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© S. Fischer / Antia Affentranger

Ein Auszug aus dem neuen Roman von Carmen Stephan

Carmen Stephan, geboren 1974 in Berching, lebte als Autorin und Journalistin mehrere Jahre in Rio de Janeiro. 2005 erschien ihr Geschichtenband Brasília Stories. Für ihren ersten Roman Mal Aria wurde sie mit dem Literaturpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung (2012) und dem Debütpreis des Buddenbrookhauses (2013) ausgezeichnet. Für die Arbeit an dem neuen Roman  It's all true (2017, S. Fischer Verlag) erhielt Carmen Stephan 2016 außerdem eines der Literaturstipendien des Freistaats Bayern. In dem fulminanten Buch erzählt sie von einem Geheimnis aus dem Leben des berühmten Filmregisseurs Orson Welles, auf das sie während ihres Brasilienaufenthaltes stieß. Wir publizieren hier den Anfang, einen Prolog.

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It's all true 

Unter dem Stein. Unter dem Singen der Vögel. Unter dem Schreien der Kraniche. Unter dem Moos. Unter dem Licht. Unter dem Tau auf See und Schilf. Die Wahrheit schien mir wie ein fein gewebtes Netz, das unter allem lag. Und die Menschen sahen es nicht. Sie sprachen von dem, was wirklich ist. Aber es war nicht das Wirkliche. Die Wahrheit war tiefer. Sie hatte einen Grund.

Warum dieses hauchzarte Netz gerade in der Geschichte von Jacaré und Orson Welles für mich sichtbar wurde, kann ich nicht erklären. Aber ich kann sie erzählen. Die Geschichte vom armen Fischer aus dem Nordosten Brasiliens und dem großen Regisseur aus Nordamerika. Sie trafen sich im April des Jahres 1942 in Rio de Janeiro. Orson Welles nannte Jacaré einen Helden. Jacaré nannte Orson Welles in der kurzen Zeit, die sie gemeinsam auf der Erde verbrachten, bebê chorão. Weil er fand, der Regisseur mache ständig ein Gesicht wie ein Säugling, der gleich zu heulen anfängt.

Wenige Monate zuvor war Jacaré mit drei anderen Fischern von Fortaleza bis nach Rio gesegelt, um den Präsidenten des Landes um Hilfe zu bitten. Vier Männer auf einem Floß. Barfuß, ohne Kompass, geleitet nur von den Sternen. 2381 Kilometer, 61 Tage über das Meer. Im fernen Amerika saß Orson Welles vor einer Zeitung, las mit offenem Mund über ihre Odyssee und beschloss, sie nachzufilmen: »It’s all true« sollte der Film heißen. Eine der ersten Szenen war die glorreiche Ankunft der vier Fischer an der Küste von Rio. »Ich will, dass ihr es genau so macht, wie es war«, sagte Orson Welles hinter der Kamera, zu Jacaré, dem Anführer. Ich will, dass ihr es genau so macht, wie es war. Als sie nun ihr Floß mit dem Segel in ungestümer See auf den Strand zusteuerten, ihn fast erreicht hatten, kam eine hohe Welle und riss Jacaré von Bord. Er verschwand im Meer – und wurde bis heute nicht gefunden.

Orson Welles drehte »It’s all true«. Ohne Jacaré. Mit Jacaré. Für Jacaré.

Der Film blieb ein halbes Jahrhundert lang verschollen. Alle, die so verzweifelt nach einer Wahrheit suchten. Die Kinder, die sagten, vielleicht haben sie Jacaré nach Amerika gebracht. Die Fischer, die sagten, vielleicht haben sie ihn umgebracht. Was ist auf den Filmbändern zu sehen. Alle, die redeten. Und dabei das Netz nicht sahen, das Jacaré und Orson Welles freigelegt hatten. Unter dem Schreien der Kraniche. Unter dem Moos. Unter dem Licht. Ich will es euch zeigen.