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01.01.2018, 14:31 Uhr
Norbert Niemann
Text & Debatte
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© Judith Bader

Der Schriftsteller Norbert Niemann ist den Erschütterungen unserer Zeit auf der Spur

Bekannt wurde der Schriftsteller und Essayist Norbert Niemann mit einer Reihe großer Zeitromane. Für seinen jüngsten Roman Die Einzigen erhielt er den Carl-Amery-Preis für gesellschaftspolitisch engagierte Literatur. Nun hat er mit Erschütterungen einen fulminanten Essay vorgelegt: über das Netz von Abhängigkeiten, das Digitalisierung, Globalisierung und Marktideologie geschaffen haben – und über die Fähigkeit der Literatur, dem Gefühl der Haltlosigkeit zu begegnen, indem sie eine Sprache dafür (er)findet.

Erschütterungen 

Die Entwicklungen in der Literatur der letzten Jahre sind so spannend wie seit Langem nicht mehr. Nirgends ist das Zusammenleben der Menschen von den Folgen der Globalisierung und der Digitalisierung verschont geblieben, überall auf der Welt erzählen Schriftsteller von diesen Folgen, dem Leben in einer veränderten sozialen Wirklichkeit.

Als ich begann, die Prosa der internationalen Kolleginnen und Kollegen mit einer gewissen systematischen Beharrlichkeit zu lesen, stellte ich schnell fest, dass die Realitäten, die aus den weltumspannenden Umbrüchen seit 1990 erwachsen sind, viele von uns offenbar vor literarisch neu zu bewältigende Aufgaben stellen. Denn so unterschiedlich die regionalen und historischen Bedingungen an den jeweiligen Schauplätzen sind, spiegeln die Geschichten darüber doch alle die gesellschaftlichen Auswirkungen auf das individuelle Los der Menschen durch jene Machtverschiebungen wider, die von den neuen Technologien, der Dominanz der Märkte und der damit einhergehenden Trennung von Herrschaft und Politik in Gang gesetzt wurden.

Unter den gegenwärtigen Bedingungen, so meinte ich ebenfalls bald beobachten zu können, haben sich aber auch erzählerische Formen gewandelt. Vielleicht mussten sie sich notwendig wandeln, um die Eigenheiten einer neuen Epoche der Machtausübung, in der Regierungen von den Interessen weltumspannender Wirtschaftskonzerne beherrscht werden, darstellen zu können.

Gleichzeitig entdeckte ich überall Berührungspunkte zwischen den Erzählweisen, unabhängig aus welcher Weltregion, welchem politischen System die literarischen Werke stammten. Womöglich, dachte ich, sind mit der massiven Ausweitung transnationaler Marktstrukturen unter dem Primat des Ökonomischen nicht nur die nationalstaatlich geprägten Gesellschaftsformen, sondern auch die an Nationen oder Sprachräume rückgebundenen literarischen Topographien im Begriff, in eine Art Weltsprachraum überzugehen. Und ich fragte mich immer öfter: Gibt es so etwas wie eine neue internationale Ästhetik?

 

 

Randständige Zeitgenossenschaft

Dabei hätte ich von diesen Vorgängen in der Literatur beinahe nichts mitbekommen. In der deutschsprachigen Öffentlichkeit blieben sie in den vergangenen zehn oder fünfzehn Jahren jedenfalls so gut wie unreflektiert. Und wo doch der eine oder andere Roman Beachtung fand, der sich mit der gewandelten Realität auseinandersetzte, wurde er aus der literarischen Produktion eines Landes herausgepflückt und als singuläres Produkt in den buchhändlerischen Warenzyklus eingespeist, wo ihn bald das unerbittlich weiterrasende Saisongeschäft wieder ins Vergessen stieß.

Das Defizit wurde zum Impuls für meine Suche nach einer Literatur über die globalisierte Welt: Ich fühlte mich vom Großteil der im Literaturbetrieb gefeierten deutschsprachigen Bücher nur selten noch angesprochen und mit Blick auf die Kriterien, aufgrund derer sie gepriesen wurden, auch geistig immer weniger in der hiesigen literarischen Öffentlichkeit beheimatet.

Meine Poetologie, deren zentrales Anliegen in der öffentlichen Wahrnehmung von Literatur offenbar zunehmend ausgeblendet oder marginalisiert wird, sieht sich in der Tradition eines Selbstverständnisses, das auf einem von äußeren Ansprüchen und Übergriffen, sei es der Politik oder der Religion, einer Ideologie oder von materiellen Interessen, möglichst unabhängigen Schaffensprozess gründet. Ich habe die Aufgabe von Kunst immer begriffen als einen Akt der Annäherung an eine Gegenwart, der laufend die Sprache abhandenkommt.

 

 

Gegenmacht der Worte

Künstlerische Ästhetiken ändern sich, weil gesellschaftliche Realitäten sich ändern. Im Wandel ihrer Ausdrucksformen artikulieren sich diese Veränderungen. Die vorhandenen Zeichensysteme reichen dann nicht mehr aus, um zeitgenössische Lebenswirklichkeit einzufangen; gleichzeitig hören die Übergriffe von außen nie auf, findet die Macht immer neue Wege, sich der Zeichen und Wörter zu bemächtigen und sie für ihre Zwecke einzuspannen.

Doch ebenso wenig hören Schriftsteller auf, sich dieser Überwältigung mit den Mitteln der Kunst zu entziehen und den Freiraum des Geistes neu zu gestalten. Schöpferische Autonomie spiegelt ihre Widerständigkeit. In der Literatur geht es darum, Sprache immer wieder neu zu erfinden, statt das nachzuahmen, was nicht mehr in der Lage ist, dem jeweiligen instrumentellen Zugriff zu entkommen. Sie rückt den Zumutungen des Realen mit der Gegenmacht der Worte zu Leibe.

Sehr wenig davon finde ich noch im gegenwärtigen literarischen Diskurs, und so wollte ich herausfinden, ob es hinter belletristischen Mainstream noch eine andere, verborgene, übersehene Art von literarischem Leben gab, eines, das sich seine ureigenste Bestimmung nicht hatte austreiben lassen, der eigenen Zeit mittels Sprache auf den Grund zu gehen.

Wichtig waren dabei persönliche Begegnungen und Empfehlungen. So ist mir etwa während eines Stipendienaufenthalts in Krakau Dorota Masłowska als Stimme der jungen polnischen Literatur nahegebracht worden. In Petersburg lernte ich Zakhar Prilepin, in Moskau Alissa Ganijewa bei deutsch-russischen Autorentreffen kennen. Teju Cole traf ich beim Münchner Literaturfest 2013. Auch ohne die unmittelbaren Lesungseindrücke von Ling Xi, Jeet Thayil oder Alain Mabanckou wären mir vermutlich wesentliche Aspekte des Themas entgangen.

 

 

Zerrissene Erlebnissphären

Der Hauptteil meines Essays beschäftigt sich mit den Auswirkungen der Globalisierung auf das konkrete Leben der Menschen, wie sie in der erzählenden Prosa gezeigt und literarisch umgesetzt werden. Er nimmt selbstverständlich auch Beispiele aus dem deutschen Sprachraum hinzu, insofern sie für deren belletristische Darstellung von Belang sind und mit der internationalen ästhetischen Entwicklung korrespondieren.

Ein Merkmal, das mir als verbindendes Element zwischen den internationalen Büchern sofort ins Auge fiel, war die eigentümliche Weise, in der sich in vielen von ihnen die Schilderungen einander widersprechender Lebenswelten und Lebenswirklichkeiten schicht- oder schollenförmig übereinanderlagerten oder ineinanderschoben. Aus welchem Land die Autoren auch stammten, in welchen Weltregionen ihre Geschichten auch spielten, fast immer fand ich in sich zerrissene Erlebnissphären, nebeneinander existierende, auch feindliche Realitäten. Ihre Erzähltechnik schien mir eine Welt einzufangen, die in unverbundene, teils auseinanderdriftende, teils kollidierende Fragmente zersprengt war.

Daneben beschäftigt mich die Frage, welche Auswirkungen diese Entwicklungen auf die literarische Öffentlichkeit selbst haben. Warum auch sollte ausgerechnet jener Ort von den regulativen Mechanismen des Marktes verschont geblieben sein, an dem traditionell die freie intellektuelle und künstlerische Auseinandersetzung außerhalb des Zugriffs der jeweiligen Macht gepflegt wird? Hält die These stand, dass die Marktwirtschaft im Zuge der Globalisierung und Digitalisierung einen essentiellen Teil der Herrschaftsmacht an sich gerissen hat und die Institutionen der Politik unterläuft, wird sie wie alle nicht-demokratischen Arten der Machtausübung gerade vor den Foren des Geistes nicht Halt machen. Wenn diese Foren aber gleichfalls dem Diktat der Ökonomie unterworfen sind, was bedeutet das für die geistige Freiheit einer Gesellschaft? Gibt es also eine vom Markt und von Globalisierungszwängen diktierte Ästhetik?

 

 

Eine Streitschrift als Flaschenpost

Dem Charakter nach ist dieser Essay daher zweifelsohne auch eine Streitschrift. Er versucht den alten Kampf gegen die Unterdrückung der Andersdenkenden unter den neuen ökonomistischen Herrschaftsbedingungen einer globalisierten Welt wieder aufzunehmen. Aber er lebt nicht von der Illusion, in einer bereits nahezu diskursfreien literarischen Öffentlichkeit einen Diskurs in Gang setzen zu können. Vielmehr begreift er sich als Flaschenpost, die Hinweise zu enthalten hofft auf eine andere als die kommerzielle Betrachtungsweise von Literatur.

Er erhebt auch in keiner Weise den Anspruch auf Vollständigkeit oder lückenlose Übersicht, sondern folgt den Spuren eines leidenschaftlichen Lesers, der die Texte seiner zeitgenössischen Kollegen auf ihre gelebte Gegenwart hin befragt. Meine Absicht ist es, »aus der Differenz immer wieder den gemeinsamen Kern herauszuschälen«, wie es Michel Foucault über Gilles Deleuze schreibt, um von dort aus Differenz überhaupt erst sichtbar und verständlich zu machen. Geschrieben ist der Essay dabei nicht aus dem methodisch abgesicherten Blickwinkel eines Wissenschaftlers, sondern aus dem eines Schriftstellers, der sich des literarischen Orchesters versichert, in dem er selbst als Instrumentalist unter vielen sitzt, und der ausprobieren will, wie sich dieses Orchester im Zusammenklang anhören könnte, wenn kein vom Markt bestellter Dirigent es leiten würde.