Der Autor Senthuran Varatharajah kehrt an den Ort zurück, wo er einst als 'Asylant' lebte
Der in Berlin lebende Autor Senthuran Varatharajah wurde 1984 in Sri Lanka geboren und ist in Oberfranken aufgewachsen. Er studierte Philosophie, Evangelische Theologie und Kulturwissenschaft in Marburg, Berlin und London. Ersten Publikationen und Auftritten als Schriftsteller folgte im Frühjahr 2016 sein mehrfach ausgezeichneter Roman Vor der Zunahme der Zeichen. Unter anderem erhielt er einen der Förderpreise zum Adelbert-von-Chamisso-Preis. Der folgende Text erschien 2017 in der Zeitschrift Literatur in Bayern, deren Ausgabe 129 sich dem Thema Migration widmete.
*
Reste / Streifen
Wenn ich das Fenster öffne, sehe ich das Feld, durch das ich manchmal lief, und die Ähren hinterließen weiße Streifen auf meinen Beinen, als es Abend wurde, auch gestern. Mein Vater holte mich am Bahnhof ab; ich war aus Berlin gekommen. Ich stehe am Fenster, vor dem Küchentresen, und ich sehe das Feld, durch das ich manchmal lief, die gemähte Wiese, die es von dem Wald trennt, in dem meine beiden Brüder und ich uns früher verliefen, im Regen, der in den Wimpern hängen blieb, als wir unsere Schuhe in das nasse Moos gruben und warteten, und in den ich nicht hinein sehen kann von dort, wo ich stehe, vielleicht 800 Meter von ihm entfernt, aber die dünnen Stämme, die dicht nebeneinander stehen, in einer breiten, wellenförmigen Reihe, und die ineinander verhakten Kronen, über denen der bläuliche Schatten, den wir Abend nennen, liegt, sie sehe ich, von dem Fenster aus, an dem ich stehe, vor dem Küchentresen; Reste von Reis liegen auf den Tellern vor mir.
Es ist August, Sonntag; 20 Uhr. Ich kam gestern an. Neun Jahre habe ich in dieser Wohnung gelebt, 20 in dieser oberfränkischen Kleinstadt, in der uns verschiedene Namen gegeben worden waren, Asylanten, Ausländer, Affen, Neger, Dahergeschleifte; so hießen wir. So wurden wir genannt.
Ich schließe das Fenster. Ich sehe das Feld, durch das ich manchmal lief, und den Pfad, der es von dem Haus, in dem meine Eltern 1996 diese Eigentumswohnung am Stadtrand gekauft hatten, trennt und der sandig ist. Als wir aus der Sozialwohnung, der ersten Wohnung, in die wir nach dem letzten Asylbewerberheim, in dem wir fünf Jahre lebten, ziehen durften, auszogen, sind mein jüngerer Bruder und ich diesen Weg gelaufen, mit den Einkaufstüten, die unsere Mutter gesammelt hatte, von Aldi, Edeka und Netto, und die wir tragen sollten, zwei in jeder Hand, bis das Plastik rote Streifen in die Ballen schnitt.
Es war August, Sonntag; vormittags. Wir liefen eine Stunde. Wir stellten die Tüten vor der Haustür ab, auf den graumarmorierten Stufen, und ich konnte das Feld sehen, durch das ich manchmal lief, und den Pfad, der es von dem Haus, in das wir zogen, trennt und über den wir gekommen waren. Mein jüngerer Bruder und ich liefen ihn hoch, gestern, nachdem ich meinen Rucksack in meinem alten Zimmer unter dem Lichtschalter abgestellt hatte, dort, wo er auch nach der Schule stand, und bevor die Ähren weiße Streifen auf meinen Beinen hinterließen, wir liefen in die entgegengesetzte Richtung, anders als vor 21 Jahren, als wir die Landstraße, die den Wald in zwei ungleichmäßige Flächen teilt, hochgelaufen waren, auf dem weißen Seitenstreifen, bis wir am Ortsausgang, an dem Schild, auf dem der Name dieser Stadt durchgestrichen war, standen; der Pfad beginnt an dieser Stelle, auf der linken Seite, an dem Platz, an dem das Johannesfeuer im Juni brennt. Diesen Umweg hatten wir genommen. Wir wollten nicht gesehen werden. Wir wurden nicht gesehen.
Ich stehe am Fenster, Reste von Reis auf den Tellern vor mir. Ich sehe das Feld, durch das ich manchmal lief, den Pfad, der es auf der einen, und die Wiese, die es auf der anderen Seite begrenzt, ich sehe den Wald, der nach oben steigt, und den Mast, der oben auf dem Berg steht, ich sehe den bläulichen Schatten, der über ihnen liegt und den ich nicht Abend nennen werde, ich sehe sie durch mein Gesicht, das durchsichtig ist, auf der Scheibe, auf der es sich spiegelt, vor mir. Ich sehe sie. Ich sehe diese Landschaft und die Namen, die mir in den neun Jahren, die ich in dieser Wohnung, und in den 20, die ich in dieser oberfränkischen Kleinstadt gelebt habe, gegeben worden waren, ich sehe den Asylanten, den Ausländer, den Affen, den Neger, den Dahergeschleiften, auf der Scheibe, die mein Gesicht spiegelt, durch das ich das Feld, durch das ich manchmal lief, sehe, die Ähren, und die weißen Streifen kenne ich.
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Der in Berlin lebende Autor Senthuran Varatharajah wurde 1984 in Sri Lanka geboren und ist in Oberfranken aufgewachsen. Er studierte Philosophie, Evangelische Theologie und Kulturwissenschaft in Marburg, Berlin und London. Ersten Publikationen und Auftritten als Schriftsteller folgte im Frühjahr 2016 sein mehrfach ausgezeichneter Roman Vor der Zunahme der Zeichen. Unter anderem erhielt er einen der Förderpreise zum Adelbert-von-Chamisso-Preis. Der folgende Text erschien 2017 in der Zeitschrift Literatur in Bayern, deren Ausgabe 129 sich dem Thema Migration widmete.
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Reste / Streifen
Wenn ich das Fenster öffne, sehe ich das Feld, durch das ich manchmal lief, und die Ähren hinterließen weiße Streifen auf meinen Beinen, als es Abend wurde, auch gestern. Mein Vater holte mich am Bahnhof ab; ich war aus Berlin gekommen. Ich stehe am Fenster, vor dem Küchentresen, und ich sehe das Feld, durch das ich manchmal lief, die gemähte Wiese, die es von dem Wald trennt, in dem meine beiden Brüder und ich uns früher verliefen, im Regen, der in den Wimpern hängen blieb, als wir unsere Schuhe in das nasse Moos gruben und warteten, und in den ich nicht hinein sehen kann von dort, wo ich stehe, vielleicht 800 Meter von ihm entfernt, aber die dünnen Stämme, die dicht nebeneinander stehen, in einer breiten, wellenförmigen Reihe, und die ineinander verhakten Kronen, über denen der bläuliche Schatten, den wir Abend nennen, liegt, sie sehe ich, von dem Fenster aus, an dem ich stehe, vor dem Küchentresen; Reste von Reis liegen auf den Tellern vor mir.
Es ist August, Sonntag; 20 Uhr. Ich kam gestern an. Neun Jahre habe ich in dieser Wohnung gelebt, 20 in dieser oberfränkischen Kleinstadt, in der uns verschiedene Namen gegeben worden waren, Asylanten, Ausländer, Affen, Neger, Dahergeschleifte; so hießen wir. So wurden wir genannt.
Ich schließe das Fenster. Ich sehe das Feld, durch das ich manchmal lief, und den Pfad, der es von dem Haus, in dem meine Eltern 1996 diese Eigentumswohnung am Stadtrand gekauft hatten, trennt und der sandig ist. Als wir aus der Sozialwohnung, der ersten Wohnung, in die wir nach dem letzten Asylbewerberheim, in dem wir fünf Jahre lebten, ziehen durften, auszogen, sind mein jüngerer Bruder und ich diesen Weg gelaufen, mit den Einkaufstüten, die unsere Mutter gesammelt hatte, von Aldi, Edeka und Netto, und die wir tragen sollten, zwei in jeder Hand, bis das Plastik rote Streifen in die Ballen schnitt.
Es war August, Sonntag; vormittags. Wir liefen eine Stunde. Wir stellten die Tüten vor der Haustür ab, auf den graumarmorierten Stufen, und ich konnte das Feld sehen, durch das ich manchmal lief, und den Pfad, der es von dem Haus, in das wir zogen, trennt und über den wir gekommen waren. Mein jüngerer Bruder und ich liefen ihn hoch, gestern, nachdem ich meinen Rucksack in meinem alten Zimmer unter dem Lichtschalter abgestellt hatte, dort, wo er auch nach der Schule stand, und bevor die Ähren weiße Streifen auf meinen Beinen hinterließen, wir liefen in die entgegengesetzte Richtung, anders als vor 21 Jahren, als wir die Landstraße, die den Wald in zwei ungleichmäßige Flächen teilt, hochgelaufen waren, auf dem weißen Seitenstreifen, bis wir am Ortsausgang, an dem Schild, auf dem der Name dieser Stadt durchgestrichen war, standen; der Pfad beginnt an dieser Stelle, auf der linken Seite, an dem Platz, an dem das Johannesfeuer im Juni brennt. Diesen Umweg hatten wir genommen. Wir wollten nicht gesehen werden. Wir wurden nicht gesehen.
Ich stehe am Fenster, Reste von Reis auf den Tellern vor mir. Ich sehe das Feld, durch das ich manchmal lief, den Pfad, der es auf der einen, und die Wiese, die es auf der anderen Seite begrenzt, ich sehe den Wald, der nach oben steigt, und den Mast, der oben auf dem Berg steht, ich sehe den bläulichen Schatten, der über ihnen liegt und den ich nicht Abend nennen werde, ich sehe sie durch mein Gesicht, das durchsichtig ist, auf der Scheibe, auf der es sich spiegelt, vor mir. Ich sehe sie. Ich sehe diese Landschaft und die Namen, die mir in den neun Jahren, die ich in dieser Wohnung, und in den 20, die ich in dieser oberfränkischen Kleinstadt gelebt habe, gegeben worden waren, ich sehe den Asylanten, den Ausländer, den Affen, den Neger, den Dahergeschleiften, auf der Scheibe, die mein Gesicht spiegelt, durch das ich das Feld, durch das ich manchmal lief, sehe, die Ähren, und die weißen Streifen kenne ich.