Warum eine mündige Gesellschaft die Literatur braucht. Von Dagmar Leupold
Wir leben in postfaktischen Zeiten − lesen und hören wir allenthalben. Aber was heißt das eigentlich? In der Anthologie Das freie Wort, erschienen im Allitera Verlag, hat Herausgeber Johano Strasser Beiträge u.a. von Gert Heidenreich, Norbert Niemann, Julian Nida-Rümelin, Georg Picot, Fridolin Schley, Gesine Schwan, Thomas von Steinaecker und Wolfgang Thierse zusammengetragen, die sich mit dieser Thematik befassen. In dem Buch setzen Schriftsteller und Intellektuelle dem aufgeregten Zeitgeist Argumente entgegen. Sie erheben die Stimme für mehr Demokratie in Deutschland und Europa – und gegen die simplen und oft menschenverachtenden Konzepte der rechten Populisten. Der folgende Beitrag stammt von der Schriftstellerin Dagmar Leupold.
*
Mind the gap
Als Nescafé erfunden wurde, warb man für den neuen Kaffeegenuss mit dem Prädikat: sofort löslich. Polaroids ließen sich in kürzester Zeit mit einer Sofortbildkamera erstellen, und die Sofortreinigung suggerierte, dass der Übergang von schmutzig zu sauber ohne Zeitverlust über die Bühne gehen könne. Das sind alles Beispiele aus analogen Zeiten – und entsprechend rührend. Aber eines verbindet sie mit den medialen Instant-Formaten – Twitter, Instagram etc. – des digitalen Zeitalters: die Wertschätzung des nahezu Simultanen, des kurzen Prozesses. Auf politisch-gesellschaftlicher Ebene findet das seit den späten 60ern und den 70ern des 20. Jahrhunderts seine Entsprechung in der Feier der Spontaneität: Gegenkonzept zur allmählichen Vermittlung dogmatischer Lehrinhalte, zu Schulung und konzeptioneller Enge. Die Bewegung der „Spontis“ war dafür unmittelbarer Ausdruck. Spontane Aktionen, vom Straßentheater über Hausbesetzungen, wurden als probateres Mittel angesehen, die Massen, die Arbeiter oder die Mitbürger zu erreichen als parteibuchkonforme Indoktrination.
Eigentlich eine ausgesprochen basisdemokratische, durchaus emanzipatorische Idee: Jeder kann mitmachen beziehungsweise sich anschließen; für eine solche Teilnahme ist weder eine besondere Qualifikation oder Expertise erforderlich, noch Erfahrung in politischer Praxis. Man könnte argumentieren, dass auch in der virtuellen Realität, im Twittergewitter, in den reflexartig abgesonderten Tweets die emanzipatorische Grundidee, sich Autoritäten nicht zu beugen und dies durch spontane Kundgebungen auszudrücken, ihre Fortsetzung gefunden hat. Ich glaube aber, dass es sich um eine Pervertierung dieser Idee handelt: Der (meist) anonyme Twitterer oder follower (dazu später mehr) hat mit seinen Einlassungen nicht das gesellschaftliche Wohl im Auge, sondern nur das eigene Wohlfühlen. Welches mit einer selbst ausgestellten Lizenz zum Pöbeln am schnellsten erreicht wird. Der typische Twitterer anerkennt zwar keine Autoritäten, aber das ist kein politischer Gestus des Protests, sondern einer der Selbstermächtigung, der Grandiosität. Er kann sich keinen anderen Standpunkt, keine andere Sichtweise anverwandeln, als diejenige, die seinem eigenen Vorteil oder eben Wohlfühlen – neudeutsch Komfortzone; wie verräterisch! – dient.
(Die derzeitige Feier des Performativen – jeder ist nur er selbst, performt sich selbst, Bühne hin oder her, – entspringt vermutlich einem ähnlichen Misstrauen in die Kraft der Abstraktion und die durch Reflektion entstehende Fähigkeit zur Distanzierung. Aber das wäre einen eigenen Essay wert.)
Eine unmittelbare und schwerwiegende Folge dieser Selbstermächtigung ist das Wegfallen der Unterscheidung zwischen Privatperson und Bürger. Nicht das Private ist politisch, sondern das Politische privat.
Mündigkeit braucht Abstand
Es gibt – Stand März 2017 – seitens der evangelischen Kirche erste Anzeichen, dass dem Spontanen, Unüberlegten, Instant-Angerührten misstraut und Enthaltsamkeit angeraten wird. Die Fastenaktion heißt: „Augenblick mal! Sieben Wochen ohne Sofort“.
Als ich das las, dachte ich: Nichts Neues, das ist die Literatur doch schon immer, ein Einspruch gegen das Sofort, das Instant-Angerührte. Es ist ein langsamer und langer Prozess, der einen literarischen Text generiert, die Transformation von Erfahrung im Medium der Sprache in eine ästhetische Realität, ein komplexer, transformativer Vorgang, kein schlichter Transfer. Aber es handelt sich nicht um einen abgehobenen, „keimfreien“ Prozess, im Gegenteil, er findet immer unter konkreten historischen, politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten statt, steht mit diesen in einem steten Stoffwechsel. Daher kann man literarische Texte – ich schließe alle Genres ein –, durchaus als Kommentar zu den Bedingungen, unter denen sie entstanden, lesen, allerdings nicht im Sinne eines journalistischen Kommentars und eines engen Aktualitätsbegriffs. Es geht nicht um Meinungsäußerung oder um die Reproduktion von Diskursen, sondern um Erfahrung und ihren Niederschlag in den (fiktiven) Figuren; ihrem Denken, Fühlen und Handeln.
Deshalb ist Literatur, die sich ihrer Zeitgenossenschaft stellt – bei aller inhaltlichen und formalen Vielfalt – niemals unpolitisch. Im Unterschied zu einem instrumentellen Zugriff, wie er beispielsweise Ratgebern innewohnt – dort sind Individuen Symptomträger und müssen zur Selbstoptimierung angeleitet werden –, sind literarische Texte immer mit der Herausstellung des unvorhersehbaren Besonderen befasst. Aber mittels formaler und sprachlicher Gestaltung scheint an diesem Individuellen, Einzigartigen etwas Exemplarisches und Zeitspezifisches auf. Nicht zu verwechseln mit etwas Allgemeinem.
MIND THE GAP ( ) ©
Gestalterische Prozesse sind Denk- und Abstraktionsprozesse – damit wären wir beim Titel: Die Mahnung mind the gap bedeutet im alltäglichen Gebrauch, dass man beim Ein- oder Aussteigen, also bei Übergängen von einer in die andere Sphäre, auf die Lücke achten sollte, die sich zur Bahnsteigkante auftut. Es muss folglich einen kurzen Moment des Innehaltens geben, bevor man den nächsten Schritt macht, bevor etwas überwunden wird.
Im politischen und kulturellen Kontext bekommt die Mahnung eine metaphorische Bedeutung: gewähre, bedenke einen Abstand, eine Differenz und nutze sie – als Denkpause, als räumlich-mentale Distanzierung. Nachdenken, die Vernunft oder die Vorstellungskraft zu gebrauchen, braucht im Unterschied zu reflexhaften Reaktionen Aufschub. Sowohl im lateinischen Stammwort reflectere als auch im deutschen nachdenken trägt die Vorsilbe diesen Zeitverzug in sich. Zwischen Ereignis und Kommentar – in dem ja auch das Wort mens, Denktätigkeit steckt, er ist also keinesfalls eine unbedachte Äußerung – aber erst recht zwischen Ereignis und Bewertung, Analyse oder eben literarischer Gestaltung muss Zeit verstreichen, Zeit, die dem Nachdenken dient, dem Einräumen eines „gap“. Dies ist eine erste, notwendige Abstraktion von der bloßen Vertretung eigener Interessen und Sichtweisen. Man könnte diesen zeitversetzten, vom „sofort“ erlösten Prozess auch Mündigwerden nennen.
Politisch manifestiert sich dies im Prinzip der Repräsentation, auf dem die parlamentarische Demokratie beruht. Eigentlich eine doppelte Repräsentation, ein doppelter „gap“, denn der Parlamentarier oder der Politiker, den man wählt und unterstützt, repräsentiert seinerseits eine Partei. Im Vertrauen in das Gelingen dieser Delegation ist ein zeitlicher Abstand von vorneherein als notwendig eingerechnet. Die Re-Präsentation drückt ebendies aus: Meine Stimme wird in zukünftigen Entscheidungen, Handlungen vergegenwärtigt, wird in Zukunft Folgen gewärtigen.
Diese Verzögerung schafft die Bedingung der Möglichkeit, Partikularinteressen von denen des Gemeinwesens als unterschieden zu erfahren. Sie gibt Gelegenheit, nachzudenken über das, was ein Gemeinwesen ausmacht. Es ergibt sich eben nicht als Summe der Interessen aller Individuen, die zu ihm zählen, sondern als deren größter gemeinsamer Nenner. Die zeitliche Zurückstellung, vielmehr bereits das Wissen darum, eröffnet den Reflektionsraum, der für dieses Absehen vom Eigeninteresse zugunsten der Erzeugung von gesellschaftlicher Bindekraft notwendig ist. Im Verzögern liegt Beherrschung, Selbstbeherrschung – man könnte auch sagen, im Verzögern liegt Mäßigung, liegt die Einsicht in die Notwendigkeit eines Verzichts auf die unmittelbare Umsetzung des für einen selbst Vorteilhaften.
Gefühlsechte Affekte
Rein formal, unabhängig von den Inhalten der Parteien, ist der wählende Bürger kein follower, sondern ein Beauftragender, der sich durch indirekte Partizipation auszeichnet. (Die ultimative Pervertierung des demokratischen Grundrechts Wahl besteht in Parteiprogrammen, die ihre Wähler zu Gefolgsleuten der eigenen Engstirnigkeit machen: America first ist dafür das drastischste Beispiel. Hier werden die Wähler zu followern eines groben, polemischen und unterkomplexen Stammtischslogans) Der follower qualifiziert sich nicht durch Nachdenklichkeit und Mäßigung, sondern durch Absehen von beidem. Er lässt keinen Zeitverzug zu und schließt aus, durch jemanden repräsentiert werden zu können, der nicht sein geistiger Klon ist. Sein individuelles Profil wird durch Übertrumpfung geschärft, nicht durch Besonnenheit. Er sieht sich nicht als Teil einer Gemeinschaft, sondern als Repräsentant seiner selbst, seiner Partikularinteressen, die in aller Regel nicht rational begründet werden, sondern emotional vertreten.
Die Beglaubigung des eigenen Standpunkts und seiner Berechtigung läuft über Affekte, nicht über die Vernunft. Gefühlsecht, ein Prädikat das allenfalls bei Kondomen eine Rolle spielen sollte, ist längst ein Kriterium auch in der Politik, in Kunst und Kultur, im Journalismus. Was einem Bauchgefühl entspringt, ist meist ein Vorurteil, nicht ein Urteil. Ein Urteil fällt nach einem Prozess, also einer Zeit des Nachdenkens, Abwägens und Begründens, ein Vorurteil kommt ohne diesen Zeit konsumierenden Prozess aus, es verhindert Aufklärung – im juristischen Bereich unmittelbar folgenreich – und setzt an ihre Stelle die apodiktische Behauptung.
Inwiefern sind die Künste, ist die Literatur notwendig für eine mündige, d.h. sich selbst reflektierende Gesellschaft? Haben sie eine besondere Fähigkeit, den „gap“ zu bedenken, also Differenzen, Ungleichheiten und Brüche darzustellen? In Kants Schrift „Was ist Aufklärung“ sind die Vormünder schlecht beleumundet, es sind solche, die ihre Abhängigen mundtot machen – die sich wiederum aus Bequemlichkeit und Denkfaulheit damit zufrieden geben. Aber ein Vormund kann auch zur Mündigkeit anleiten, indem er Kritik, Distanz und Engagement zusammendenkt. Künstlerisch gestaltete Weltwahrnehmung kann das, solange jedenfalls, wie sie nicht zum reinen Spekulationsobjekt (bildende Kunst) ökonomisiert oder auf industriell erzeugte Unterhaltungsformate reduziert wird.
Die Mündigkeit der Kunstschaffenden auf der einen Seite und der Rezipienten auf der anderen, zeigt sich im Wissen um die Funktion von Kunst und Kultur als unersetzliches Wahrnehmungskorrektiv und als Instanz der Selbstreflektion vitaler demokratischer Gesellschaften. Solche Kunstschaffenden und Kunstgenießer sind keine follower auf der Suche nach Klonen ihrer selbst. In der Mechanik des followers ergibt sich eine folgenreiche Verschaltung von Ignoranz und Arroganz: Was ich nicht weiß – und derjenige, dem ich folge –, lohnt sich nicht zu wissen. Der mündige Bürger, der mündige Leser, der mündige Künstler dagegen lässt Unsicherheiten und Ungewissheiten zu, er weiß, dass „gap“ auch immer auf das noch zu Erreichende, auf Defizite hinweist, er weiß, dass nichts sofort löslich ist, er weiß, dass Einmischung mehr ist als das bloße Vermischen fertiger Zutaten alias Parolen.
Wer den kurzen Prozess haben will, wird den „gap“ nicht zum Innehalten, zur Kritik und zur Veränderung nutzen können, sondern darin stecken bleiben.
Warum eine mündige Gesellschaft die Literatur braucht. Von Dagmar Leupold>
Wir leben in postfaktischen Zeiten − lesen und hören wir allenthalben. Aber was heißt das eigentlich? In der Anthologie Das freie Wort, erschienen im Allitera Verlag, hat Herausgeber Johano Strasser Beiträge u.a. von Gert Heidenreich, Norbert Niemann, Julian Nida-Rümelin, Georg Picot, Fridolin Schley, Gesine Schwan, Thomas von Steinaecker und Wolfgang Thierse zusammengetragen, die sich mit dieser Thematik befassen. In dem Buch setzen Schriftsteller und Intellektuelle dem aufgeregten Zeitgeist Argumente entgegen. Sie erheben die Stimme für mehr Demokratie in Deutschland und Europa – und gegen die simplen und oft menschenverachtenden Konzepte der rechten Populisten. Der folgende Beitrag stammt von der Schriftstellerin Dagmar Leupold.
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Mind the gap
Als Nescafé erfunden wurde, warb man für den neuen Kaffeegenuss mit dem Prädikat: sofort löslich. Polaroids ließen sich in kürzester Zeit mit einer Sofortbildkamera erstellen, und die Sofortreinigung suggerierte, dass der Übergang von schmutzig zu sauber ohne Zeitverlust über die Bühne gehen könne. Das sind alles Beispiele aus analogen Zeiten – und entsprechend rührend. Aber eines verbindet sie mit den medialen Instant-Formaten – Twitter, Instagram etc. – des digitalen Zeitalters: die Wertschätzung des nahezu Simultanen, des kurzen Prozesses. Auf politisch-gesellschaftlicher Ebene findet das seit den späten 60ern und den 70ern des 20. Jahrhunderts seine Entsprechung in der Feier der Spontaneität: Gegenkonzept zur allmählichen Vermittlung dogmatischer Lehrinhalte, zu Schulung und konzeptioneller Enge. Die Bewegung der „Spontis“ war dafür unmittelbarer Ausdruck. Spontane Aktionen, vom Straßentheater über Hausbesetzungen, wurden als probateres Mittel angesehen, die Massen, die Arbeiter oder die Mitbürger zu erreichen als parteibuchkonforme Indoktrination.
Eigentlich eine ausgesprochen basisdemokratische, durchaus emanzipatorische Idee: Jeder kann mitmachen beziehungsweise sich anschließen; für eine solche Teilnahme ist weder eine besondere Qualifikation oder Expertise erforderlich, noch Erfahrung in politischer Praxis. Man könnte argumentieren, dass auch in der virtuellen Realität, im Twittergewitter, in den reflexartig abgesonderten Tweets die emanzipatorische Grundidee, sich Autoritäten nicht zu beugen und dies durch spontane Kundgebungen auszudrücken, ihre Fortsetzung gefunden hat. Ich glaube aber, dass es sich um eine Pervertierung dieser Idee handelt: Der (meist) anonyme Twitterer oder follower (dazu später mehr) hat mit seinen Einlassungen nicht das gesellschaftliche Wohl im Auge, sondern nur das eigene Wohlfühlen. Welches mit einer selbst ausgestellten Lizenz zum Pöbeln am schnellsten erreicht wird. Der typische Twitterer anerkennt zwar keine Autoritäten, aber das ist kein politischer Gestus des Protests, sondern einer der Selbstermächtigung, der Grandiosität. Er kann sich keinen anderen Standpunkt, keine andere Sichtweise anverwandeln, als diejenige, die seinem eigenen Vorteil oder eben Wohlfühlen – neudeutsch Komfortzone; wie verräterisch! – dient.
(Die derzeitige Feier des Performativen – jeder ist nur er selbst, performt sich selbst, Bühne hin oder her, – entspringt vermutlich einem ähnlichen Misstrauen in die Kraft der Abstraktion und die durch Reflektion entstehende Fähigkeit zur Distanzierung. Aber das wäre einen eigenen Essay wert.)
Eine unmittelbare und schwerwiegende Folge dieser Selbstermächtigung ist das Wegfallen der Unterscheidung zwischen Privatperson und Bürger. Nicht das Private ist politisch, sondern das Politische privat.
Mündigkeit braucht Abstand
Es gibt – Stand März 2017 – seitens der evangelischen Kirche erste Anzeichen, dass dem Spontanen, Unüberlegten, Instant-Angerührten misstraut und Enthaltsamkeit angeraten wird. Die Fastenaktion heißt: „Augenblick mal! Sieben Wochen ohne Sofort“.
Als ich das las, dachte ich: Nichts Neues, das ist die Literatur doch schon immer, ein Einspruch gegen das Sofort, das Instant-Angerührte. Es ist ein langsamer und langer Prozess, der einen literarischen Text generiert, die Transformation von Erfahrung im Medium der Sprache in eine ästhetische Realität, ein komplexer, transformativer Vorgang, kein schlichter Transfer. Aber es handelt sich nicht um einen abgehobenen, „keimfreien“ Prozess, im Gegenteil, er findet immer unter konkreten historischen, politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten statt, steht mit diesen in einem steten Stoffwechsel. Daher kann man literarische Texte – ich schließe alle Genres ein –, durchaus als Kommentar zu den Bedingungen, unter denen sie entstanden, lesen, allerdings nicht im Sinne eines journalistischen Kommentars und eines engen Aktualitätsbegriffs. Es geht nicht um Meinungsäußerung oder um die Reproduktion von Diskursen, sondern um Erfahrung und ihren Niederschlag in den (fiktiven) Figuren; ihrem Denken, Fühlen und Handeln.
Deshalb ist Literatur, die sich ihrer Zeitgenossenschaft stellt – bei aller inhaltlichen und formalen Vielfalt – niemals unpolitisch. Im Unterschied zu einem instrumentellen Zugriff, wie er beispielsweise Ratgebern innewohnt – dort sind Individuen Symptomträger und müssen zur Selbstoptimierung angeleitet werden –, sind literarische Texte immer mit der Herausstellung des unvorhersehbaren Besonderen befasst. Aber mittels formaler und sprachlicher Gestaltung scheint an diesem Individuellen, Einzigartigen etwas Exemplarisches und Zeitspezifisches auf. Nicht zu verwechseln mit etwas Allgemeinem.
MIND THE GAP ( ) ©
Gestalterische Prozesse sind Denk- und Abstraktionsprozesse – damit wären wir beim Titel: Die Mahnung mind the gap bedeutet im alltäglichen Gebrauch, dass man beim Ein- oder Aussteigen, also bei Übergängen von einer in die andere Sphäre, auf die Lücke achten sollte, die sich zur Bahnsteigkante auftut. Es muss folglich einen kurzen Moment des Innehaltens geben, bevor man den nächsten Schritt macht, bevor etwas überwunden wird.
Im politischen und kulturellen Kontext bekommt die Mahnung eine metaphorische Bedeutung: gewähre, bedenke einen Abstand, eine Differenz und nutze sie – als Denkpause, als räumlich-mentale Distanzierung. Nachdenken, die Vernunft oder die Vorstellungskraft zu gebrauchen, braucht im Unterschied zu reflexhaften Reaktionen Aufschub. Sowohl im lateinischen Stammwort reflectere als auch im deutschen nachdenken trägt die Vorsilbe diesen Zeitverzug in sich. Zwischen Ereignis und Kommentar – in dem ja auch das Wort mens, Denktätigkeit steckt, er ist also keinesfalls eine unbedachte Äußerung – aber erst recht zwischen Ereignis und Bewertung, Analyse oder eben literarischer Gestaltung muss Zeit verstreichen, Zeit, die dem Nachdenken dient, dem Einräumen eines „gap“. Dies ist eine erste, notwendige Abstraktion von der bloßen Vertretung eigener Interessen und Sichtweisen. Man könnte diesen zeitversetzten, vom „sofort“ erlösten Prozess auch Mündigwerden nennen.
Politisch manifestiert sich dies im Prinzip der Repräsentation, auf dem die parlamentarische Demokratie beruht. Eigentlich eine doppelte Repräsentation, ein doppelter „gap“, denn der Parlamentarier oder der Politiker, den man wählt und unterstützt, repräsentiert seinerseits eine Partei. Im Vertrauen in das Gelingen dieser Delegation ist ein zeitlicher Abstand von vorneherein als notwendig eingerechnet. Die Re-Präsentation drückt ebendies aus: Meine Stimme wird in zukünftigen Entscheidungen, Handlungen vergegenwärtigt, wird in Zukunft Folgen gewärtigen.
Diese Verzögerung schafft die Bedingung der Möglichkeit, Partikularinteressen von denen des Gemeinwesens als unterschieden zu erfahren. Sie gibt Gelegenheit, nachzudenken über das, was ein Gemeinwesen ausmacht. Es ergibt sich eben nicht als Summe der Interessen aller Individuen, die zu ihm zählen, sondern als deren größter gemeinsamer Nenner. Die zeitliche Zurückstellung, vielmehr bereits das Wissen darum, eröffnet den Reflektionsraum, der für dieses Absehen vom Eigeninteresse zugunsten der Erzeugung von gesellschaftlicher Bindekraft notwendig ist. Im Verzögern liegt Beherrschung, Selbstbeherrschung – man könnte auch sagen, im Verzögern liegt Mäßigung, liegt die Einsicht in die Notwendigkeit eines Verzichts auf die unmittelbare Umsetzung des für einen selbst Vorteilhaften.
Gefühlsechte Affekte
Rein formal, unabhängig von den Inhalten der Parteien, ist der wählende Bürger kein follower, sondern ein Beauftragender, der sich durch indirekte Partizipation auszeichnet. (Die ultimative Pervertierung des demokratischen Grundrechts Wahl besteht in Parteiprogrammen, die ihre Wähler zu Gefolgsleuten der eigenen Engstirnigkeit machen: America first ist dafür das drastischste Beispiel. Hier werden die Wähler zu followern eines groben, polemischen und unterkomplexen Stammtischslogans) Der follower qualifiziert sich nicht durch Nachdenklichkeit und Mäßigung, sondern durch Absehen von beidem. Er lässt keinen Zeitverzug zu und schließt aus, durch jemanden repräsentiert werden zu können, der nicht sein geistiger Klon ist. Sein individuelles Profil wird durch Übertrumpfung geschärft, nicht durch Besonnenheit. Er sieht sich nicht als Teil einer Gemeinschaft, sondern als Repräsentant seiner selbst, seiner Partikularinteressen, die in aller Regel nicht rational begründet werden, sondern emotional vertreten.
Die Beglaubigung des eigenen Standpunkts und seiner Berechtigung läuft über Affekte, nicht über die Vernunft. Gefühlsecht, ein Prädikat das allenfalls bei Kondomen eine Rolle spielen sollte, ist längst ein Kriterium auch in der Politik, in Kunst und Kultur, im Journalismus. Was einem Bauchgefühl entspringt, ist meist ein Vorurteil, nicht ein Urteil. Ein Urteil fällt nach einem Prozess, also einer Zeit des Nachdenkens, Abwägens und Begründens, ein Vorurteil kommt ohne diesen Zeit konsumierenden Prozess aus, es verhindert Aufklärung – im juristischen Bereich unmittelbar folgenreich – und setzt an ihre Stelle die apodiktische Behauptung.
Inwiefern sind die Künste, ist die Literatur notwendig für eine mündige, d.h. sich selbst reflektierende Gesellschaft? Haben sie eine besondere Fähigkeit, den „gap“ zu bedenken, also Differenzen, Ungleichheiten und Brüche darzustellen? In Kants Schrift „Was ist Aufklärung“ sind die Vormünder schlecht beleumundet, es sind solche, die ihre Abhängigen mundtot machen – die sich wiederum aus Bequemlichkeit und Denkfaulheit damit zufrieden geben. Aber ein Vormund kann auch zur Mündigkeit anleiten, indem er Kritik, Distanz und Engagement zusammendenkt. Künstlerisch gestaltete Weltwahrnehmung kann das, solange jedenfalls, wie sie nicht zum reinen Spekulationsobjekt (bildende Kunst) ökonomisiert oder auf industriell erzeugte Unterhaltungsformate reduziert wird.
Die Mündigkeit der Kunstschaffenden auf der einen Seite und der Rezipienten auf der anderen, zeigt sich im Wissen um die Funktion von Kunst und Kultur als unersetzliches Wahrnehmungskorrektiv und als Instanz der Selbstreflektion vitaler demokratischer Gesellschaften. Solche Kunstschaffenden und Kunstgenießer sind keine follower auf der Suche nach Klonen ihrer selbst. In der Mechanik des followers ergibt sich eine folgenreiche Verschaltung von Ignoranz und Arroganz: Was ich nicht weiß – und derjenige, dem ich folge –, lohnt sich nicht zu wissen. Der mündige Bürger, der mündige Leser, der mündige Künstler dagegen lässt Unsicherheiten und Ungewissheiten zu, er weiß, dass „gap“ auch immer auf das noch zu Erreichende, auf Defizite hinweist, er weiß, dass nichts sofort löslich ist, er weiß, dass Einmischung mehr ist als das bloße Vermischen fertiger Zutaten alias Parolen.
Wer den kurzen Prozess haben will, wird den „gap“ nicht zum Innehalten, zur Kritik und zur Veränderung nutzen können, sondern darin stecken bleiben.