Apropos Gedicht: Neue Lyrik von Nancy Hünger
Die deutsche Kulturwelt diskutiert seit über einer Woche über ein Gedicht! Wie schön; nur leider ist der Anlass bedenklich: Der Allgemeine Studierendenausschuss der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin will ein Gedicht Eugen Gomringers von der Fassade entfernen lassen, da es angeblich Frauen herabsetzt. Die Schriftstellerin Nora Gomringer, Tochter von Eugen Gomringer, hat das Gedicht wiederholt verteidigt. Nun reagiert Nancy Hünger auf angemessenste Weise auf die Posse – mit einem Gedicht. Es stammt aus ihrem beeindruckenden neuen Buch Ein wenig Musik zum Abschied wäre trotzdem nett (edition AZUR, 2017).
*
Nancy Hünger, geboren 1981, zählt zu den herausragenden deutschsprachigen Dichterinnen ihrer Generation. Sie lebt in Erfurt. Für ihr Werk erhielt sie etliche Preise und Stipendien, zuletzt den Caroline-Schlegel-Förderpreis der Stadt Jena und das Thüringer Literaturstipendium Harald Gerlach. 2016 war sie Teilnehmerin des ukrainisch-deutschen Schriftstellertreffens Eine Brücke aus Papier. Am 25.10.2017 liest sie in München bei der großen Jubiläumsveranstaltung der Zeitschrift DAS GEDICHT.
Auf die Frage, wie sie die Konkrete Poesie Eugen Gomringers lese, sagt sie: „als Bewundrerin".
Von der notwendigen Existenz
Einer will gesehen haben wie sie
am nördlichen Rand der Sonne rupften
ungewöhnlich friedlich standen sie im Bild
ein anderer vermutet sie in Indien
zwischen den Kühen wartend auf ein Visum
oder die längst überfällige Heiligsprechung
einer erzählt man könne sie bei Vollmond
unverschämt leise aus den Kratern schwappen
hören wie jeder Umruch über Klippen bricht
wieder einer meinte man hätte all jene
die nicht rechtzeitig fliehen konnten
in Oimjakon interniert in Magazinen
schlafen die Alten und Schwachen so erzählt er
auf schlichten Holzpritschen ohne Wasser
und Brot schickt man sie untertage
nach Erzen zu schürfen er hätte einen Beitrag
auf ZDF gesehen wie sie Seite an Seite
sich am Sterben wärmten wer weiß
sagt ein anderer es fällt so schwer
an Gedichte zu glauben wenn man
noch nie eines leibhaftig gesehen hat
Apropos Gedicht: Neue Lyrik von Nancy Hünger>
Die deutsche Kulturwelt diskutiert seit über einer Woche über ein Gedicht! Wie schön; nur leider ist der Anlass bedenklich: Der Allgemeine Studierendenausschuss der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin will ein Gedicht Eugen Gomringers von der Fassade entfernen lassen, da es angeblich Frauen herabsetzt. Die Schriftstellerin Nora Gomringer, Tochter von Eugen Gomringer, hat das Gedicht wiederholt verteidigt. Nun reagiert Nancy Hünger auf angemessenste Weise auf die Posse – mit einem Gedicht. Es stammt aus ihrem beeindruckenden neuen Buch Ein wenig Musik zum Abschied wäre trotzdem nett (edition AZUR, 2017).
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Nancy Hünger, geboren 1981, zählt zu den herausragenden deutschsprachigen Dichterinnen ihrer Generation. Sie lebt in Erfurt. Für ihr Werk erhielt sie etliche Preise und Stipendien, zuletzt den Caroline-Schlegel-Förderpreis der Stadt Jena und das Thüringer Literaturstipendium Harald Gerlach. 2016 war sie Teilnehmerin des ukrainisch-deutschen Schriftstellertreffens Eine Brücke aus Papier. Am 25.10.2017 liest sie in München bei der großen Jubiläumsveranstaltung der Zeitschrift DAS GEDICHT.
Auf die Frage, wie sie die Konkrete Poesie Eugen Gomringers lese, sagt sie: „als Bewundrerin".
Von der notwendigen Existenz
Einer will gesehen haben wie sie
am nördlichen Rand der Sonne rupften
ungewöhnlich friedlich standen sie im Bild
ein anderer vermutet sie in Indien
zwischen den Kühen wartend auf ein Visum
oder die längst überfällige Heiligsprechung
einer erzählt man könne sie bei Vollmond
unverschämt leise aus den Kratern schwappen
hören wie jeder Umruch über Klippen bricht
wieder einer meinte man hätte all jene
die nicht rechtzeitig fliehen konnten
in Oimjakon interniert in Magazinen
schlafen die Alten und Schwachen so erzählt er
auf schlichten Holzpritschen ohne Wasser
und Brot schickt man sie untertage
nach Erzen zu schürfen er hätte einen Beitrag
auf ZDF gesehen wie sie Seite an Seite
sich am Sterben wärmten wer weiß
sagt ein anderer es fällt so schwer
an Gedichte zu glauben wenn man
noch nie eines leibhaftig gesehen hat