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08.09.2017, 03:08 Uhr
Nancy Hünger
Text & Debatte

Apropos Gedicht: Neue Lyrik von Nancy Hünger

Die deutsche Kulturwelt diskutiert seit über einer Woche über ein Gedicht! Wie schön; nur leider ist der Anlass bedenklich: Der Allgemeine Studierendenausschuss der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin will ein Gedicht Eugen Gomringers von der Fassade entfernen lassen, da es angeblich Frauen herabsetzt. Die Schriftstellerin Nora Gomringer, Tochter von Eugen Gomringer, hat das Gedicht wiederholt verteidigt. Nun reagiert Nancy Hünger auf angemessenste Weise auf die Posse – mit einem Gedicht. Es stammt aus ihrem beeindruckenden neuen Buch Ein wenig Musik zum Abschied wäre trotzdem nett (edition AZUR, 2017).

*

Nancy Hünger, geboren 1981, zählt zu den herausragenden deutschsprachigen Dichterinnen ihrer Generation. Sie lebt in Erfurt. Für ihr Werk erhielt sie etliche Preise und Stipendien, zuletzt den Caroline-Schlegel-Förderpreis der Stadt Jena und das Thüringer Literaturstipendium Harald Gerlach. 2016 war sie Teilnehmerin des ukrainisch-deutschen Schriftstellertreffens Eine Brücke aus Papier. Am 25.10.2017 liest sie in München bei der großen Jubiläumsveranstaltung der Zeitschrift DAS GEDICHT.

Auf die Frage, wie sie die Konkrete Poesie Eugen Gomringers lese, sagt sie: „als Bewundrerin".

 

Von der notwendigen Existenz

 

Einer will gesehen haben wie sie

am nördlichen Rand der Sonne rupften

ungewöhnlich friedlich standen sie im Bild

 

ein anderer vermutet sie in Indien

zwischen den Kühen wartend auf ein Visum

oder die längst überfällige Heiligsprechung

 

einer erzählt man könne sie bei Vollmond

unverschämt leise aus den Kratern schwappen

hören wie jeder Umruch über Klippen bricht

 

wieder einer meinte man hätte all jene

die nicht rechtzeitig fliehen konnten

in Oimjakon interniert in Magazinen

 

schlafen die Alten und Schwachen so erzählt er

auf schlichten Holzpritschen ohne Wasser

und Brot schickt man sie untertage

 

nach Erzen zu schürfen er hätte einen Beitrag

auf ZDF gesehen wie sie Seite an Seite

sich am Sterben wärmten wer weiß

 

sagt ein anderer es fällt so schwer

an Gedichte zu glauben wenn man

noch nie eines leibhaftig gesehen hat

 

 

 

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