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15.09.2017, 09:10 Uhr
Nina Jäckle
Text & Debatte

Die Schriftstellerin Nina Jäckle über italienische Augenblicke

Vor wenigen Wochen erschien der neue Roman Stillhalten von Nina Jäckle (Klöpfer & Meyer Verlag). Darin erzählt Jäckle vom Leben ihrer Großmutter, der Tänzerin Tamara Danischewski, im Dresden der 1930er Jahre, wo sie den Maler Otto Dix kennenlernt und von ihm porträtiert wird. Tamaras Zukunft verheißt Großes, doch dann verläuft ihr Leben doch ganz anders. Es ist ein Roman über verpasste Möglichkeiten, Sehnsucht und die schmerzliche Erinnerung an ein nicht gelebtes Leben.

Nach ihrem mit dem Tukan-Preis der Stadt München ausgezeichneten Roman Der lange Atem (2014) und der Auszeichnung mit dem Italo-Svevo-Preis war Nina Jäckle 2016 Stipendiatin in der Villa Massimo (Rom). Der folgende Text, der dort entstand, befasst sich im Gegensatz zu ihrem Roman nicht mit Vergangenem, sondern ganz mit dem italienischen Jetzt.

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Vollendete Gegenwart

Und immer wieder habe ich nachgesprochen und aufgesagt und in den Kopf hineinbetont die vielen fremden Wörter damals, zu Hause, am alltäglichen Tisch, in Vorbereitung auf die Zielsprache andernorts. Ich habe versucht, die erwartete Fremde zur erlernbaren Sprache zu machen, Anfänger bin ich gewesen, bin ich geblieben, bezeichnet nach dem Grad meiner Unbeholfenheit.

Und nach der Abfahrt dann ist es wärmer geworden Kilometer für Kilometer, warm, wärmer, heiß. Von Schranke zu Schranke bin ich über Autobahnen vorangekommen, die Dingwelt virtuos verstaut, vertraute Rückendeckung im Kofferraum, und immer wieder ist die elektronische Stimme erklungen, sie hat Wegegeld verlangt, Grundkurs A, und ich habe das Wegegeld in die aufgesperrten Maschinenmäuler geworfen, die Schranken haben sich geöffnet vor mir und sie haben die nächste Etappe freigegeben.

Ich bin der Stadt nähergerückt, Grande Raccordo Anulare, von außen nach innen ist die Stadt schöner geworden, von außen nach innen, jetzt bereits in die Vergangenheit gesetzt, ist die Stadt schöner geworden.

Und ich habe Koffer ausgepackt, ich habe eingeräumt, ich habe weißes Papier in den Räumen verteilt. Die Wörter vor Ort haben an Klang gewonnen und also den Klang der Fremde verloren. All die Wörter sind wirklich geworden, sind Dinge geworden zum Anfassen, sind angefasst worden.

Und ich habe bereits heute die Pinien in die Vergangenheit gesetzt, meine grünen Wolken, wie freigestellt vor blauer Wand. Einen Fuß habe ich am holprigen Boden gehabt, mehr Zeit ist nicht gewesen. Ich habe heute bereits in die Vergangenheit gesetzt: die schwarzen Oliven, das Gedränge, den Glockenschlag, angelus domini, den Krötengesang, den Lärm, die Möwen, den Weg zur Post. Abbiamo fatto, wir haben gemacht, wir sind gewesen, siamo stati.

 

 

Pinie, Zypresse und Zapfen // Zeichnungen © Renata Jäckle

 

Ich habe einen Flacon zerschlagen auf dem Steinboden, es hat also in den Räumen nach meinem Parfum gerochen für eine kurze Zeit. Und nicht zu vergessen, die Erde hat gebebt und Fliesen sind gesprungen, andere Häuser haben nicht standgehalten, haben, protezione, nicht Wort gehalten. Lebenslinien habe ich die Erdbeben-Risse im Fliesenboden getauft, ich habe Misstrauen gehabt, ich habe den Verlauf dieser Lebenslinien in meinen Räumen beobachtet. Und ich habe Misstrauen gehabt und meine Tasche festgehalten in den schmalen Gassen der Stadt, in den Bussen, in Menschenmengen, bocche affamate.

Auch ich wurde bereits in die Vergangenheit gesetzt, bin gewesen, habe notiert, habe gehört, bin im Park gegangen, warm, wärmer, heiß ist es geworden unter meinen Schritten, und ich habe die nächste Blütezeit erwartet, habe die gestutzten Büsche wachsen sehen, und mit dem Blühen ist das Gras ergraut vor meinen Augen.

Wir, borsisti, aufgereiht wie Perlen, jedoch nicht verknotet, haben unser Heimweh verglichen und unsere Lebensläufe, wir haben uns in Nachbarschaft geübt, manchen habe ich in die Augen gesehen, wir haben Wand an Wand unser Auskommen gehabt. Am großen und ganzen Tisch haben wir selten gesessen, die Summe der kleinen Tische ist nicht berechenbar gewesen. Das Tor wurde uns geöffnet, es hat sich geschlossen hinter uns, wir haben unter einem Dach gelebt, die Wände sind dick gewesen, dennoch dünn genug. Über die gleichen Fliesen sind wir gegangen, wir haben gelacht im gleichen Hall, Schneebesen und Geschichten haben die Runde gemacht, über die Schulter haben wir uns geblickt und auf die Finger haben wir uns gesehen. Siamo stati, wir sind gewesen: Bannerträger des selben Wappens, V und M.

Ich habe Rosmarin geerntet und Möbel gerückt nach Befindlichkeit. Es hat einen Nymphensittich gegeben, täglich einmal vor dem Küchenfenster, der mir alle Nymphensittiche gewesen ist, ein Palmenhain, der mir alle Palmenhaine, ein Altar, der mir alle Altäre gewesen ist. Aus kleiner Quelle für jedermann habe ich getrunken, über das S, über das P, über das Q und über das R bin ich gegangen, im Auswahlverfahren habe ich meinen Obolus in Handinnenflächen gelegt. Ich habe mir ein Bild gemacht, nach unten habe ich gesehen mit all den anderen, in Ruinen habe ich nachvollziehbare Lebensformen gesucht, ich bin zwischen kühlen, hohen Mauern klein geworden und auf Opfertische zugegangen, ich habe Bögen gezählt, auf denen das Gebirgsquellwasser zum Menschen hin geflossen ist, und immer ist die treibende Größe das Gefälle. Zweimal in meiner Zeit ist die Stadt gesegnet worden und der Erdkreis gleich mit ihr, ich habe den Segen bereits in die Vergangenheit gesetzt. Uns ist gewährt worden, wir haben empfangen, abbiamo fatto, vollendete Gegenwart. Und Anfänger bin ich gewesen, bin ich geblieben, bezeichnet nach dem Grad meiner Unbeholfenheit.