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23.08.2017, 12:48 Uhr
Klaus Hübner
Text & Debatte
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Erinnerungen an die Kinder- und Jugendbuchpionierin Jella Lepman

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Foto: Stiftung Internationale Jugendbibliothek (IJB)

Spiegel bayerischer Literatur und Kultur, fundiert und unterhaltsam, Essays, Prosatexte und Gedichte von prominenten und unbekannten Autoren: Das ist die Zeitschrift Literatur in Bayern. Seit 30 Jahren informiert sie über das literarische Geschehen des Freistaats. Der folgende Beitrag von Klaus Hübner über Jella Lepman erschien in der Ausgabe 128 (2017).

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... außer: Man tut es!

Carl Zuckmayer beginnt sein Geleitwort zu Jella Lepmans Erinnerungsbuch Die Kinderbuchbrücke so: „München, 1946. November. Dünner kalter Nieselregen auf Schutthalden, Steinhaufen, ausgebrannte Fassaden, verkohlte Grundmauern, verschmutzte, ungeräumte Straßen mit zerlöchertem, zersprengtem Pflaster. Eine Trümmerstadt, unvorstellbar für jeden, der München heute kennt, der es vor dem Zweiten Weltkrieg kannte“. Gibt es überhaupt irgendeine Hoffnung für die in diesen Trümmern herumirrenden Überlebenden? Mittendrin begegnet Carl Zuckmayer einer außergewöhnlichen Frau, „und man begreift, da ist ein Quell von Güte, von Mitleiden, von Helfenwollen und auch von Hilflosigkeit, in olivfarbener Uniform. Das war Jella Lepman“.

Diese 1891 in Stuttgart geborene Frau, die 1936, noch rechtzeitig, mit ihren beiden Kindern nach London fliehen konnte, betrat im Herbst 1945 im Zuge der anlaufenden „Reeducation“-Maßnahmen der US-Army erneut deutschen Boden. In Deutschland wurde ihr recht bald klar, dass man den Erwachsenen gegenüber skeptisch bleiben muss. „Schwarz war nicht schwarz, und weiß nicht weiß. Es gab ungezählte und ungeahnte Zwischentöne.“ Vorwärts schauen!, lautete Jella Lepmans Devise – und bei den Kindern beginnen! „Die Kinder tragen keine Schuld an diesem Krieg, deshalb sollen ihre Bücher die ersten Boten des Friedens sein!“, heißt es in der Kinderbuchbrücke.

So machte sich die 1946 nicht mehr ganz junge Frau energisch und unverdrossen daran, im Münchner Haus der Kunst, „im Volksmund ‚Hitlers Weißwursttempel‘ genannt“, eine Internationale Jugendbuchausstellung vorzubereiten. Was damals unvorstellbar schwierig war und ohne viele hilfsbereite Verlage und Einzelpersonen aus aller Welt gescheitert wäre. Am 3. Juli 1946 wurde die rund 4000 Kinder- und Jugendbücher aus 20 Ländern präsentierende Schau eröffnet, Erich Kästner berichtete in der Neuen Zeitung, Kinder und Jugendliche stürmten das Haus der Kunst. Die Ausstellung reiste weiter, nach Berlin, nach Stuttgart und in andere Städte, am Ende hatte sie eine Million Besucher aufzuweisen – und Jella Lepman war überall als „Miss Kinderbuch“ bekannt.

Zäh arbeitete sie weiter, hartnäckig und zielbewusst. Kinderbücher! „Selbst in den verknöchertsten Bürokraten rührte sich etwas, das nur ihr Herz gewesen sein kann.“ Neues Ziel: die Ausstellung in eine Internationale Jugendbibliothek überführen. „Unser Eifer war der von Missionaren im Urwald.“ Mit Hilfe von Eleanor Roosevelt, der Rockefeller Foundation und vieler Mitstreiter aus Bayern schaffte sie auch das. Am 14. September 1949 wurde die Bibliothek in der Münchner Kaulbachstraße eröffnet – und zugleich ein „Stein internationaler Aktivitäten ins Rollen“ gebracht, wie Andreas Bode schreibt. Vieles, das heute noch Bestand hat, kam in den Jahren nach 1949 in Gang – bis hin zur Gründung des ersten Universitätsinstituts zur Erforschung der Kinder- und Jugendliteratur, das Klaus Doderer, ein großer Bewunderer Jella Lepmans, nach 1960 in Frankfurt am Main durchsetzte.

Die Internationale Jugendbibliothek (IJB), die seit 1983 im Schloss Blutenburg in Obermenzing ihren Sitz hat, ist seit Jahrzehnten eine weltweit höchst angesehene und zugleich fest im Münchner Kulturleben verankerte Institution. Die Landeshauptstadt verdankt sie einer Frau, die sich nicht beirren ließ und nicht verzweifelte. Wer heute um sich schaut, bis nach Aleppo vielleicht oder nach Bagdad, der kann sich nur viele Frauen mit der Energie, dem Mut und der Nächstenliebe einer Jella Lepman wünschen. Denn, ihr Freund Erich Kästner hat es gesagt: „Es gibt nichts Gutes / außer: Man tut es“.

 

Die Kinderbuchbrücke erschien 1964 im S. Fischer Verlag. Anlässlich des 100. Geburtstags von Jella Lepman wurde das Buch, versehen mit einem Nachwort von Andreas Bode, in einer Sonderauflage der Arbeitsgemeinschaft von Jugendbuchverlegern e.V. (AvJ) erneut veröffentlicht (1991). Die jüngste Ausgabe erschien zum 50. Geburtstag der IJB (1999).

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Klaus Hübner, Dr. phil., wurde 1953 in Landshut geboren und legte sein Abitur am dortigen Hans-Carossa-Gymnasium ab. Er studierte Germanistik, Geschichte und Kommunikationswissenschaft in Erlangen und München und wurde 1980 mit der Studie „Alltag im literarischen Werk. Eine literatursoziologische Studie zu Goethes Werther" promoviert. An der Universidad de Deusto in Bilbao (Spanien) war er von 1981 bis 1983 als DAAD-Lektor tätig. Später wurde er wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lehrbeauftragter am Institut für Deutsch als Fremdsprache und am Institut für Deutsche Philologie der Universität München. Von 1984 bis 2016 war Hübner Redakteur der monatlich erscheinenden Zeitschrift „Fachdienst Germanistik“. In den Jahren 1985 bis 1999 war er hauptsächlich für den Münchner iudicium-Verlag tätig. Von 2003 bis 2017 war er außerdem Ständiger Sekretär des Adelbert-von-Chamisso-Preises der Robert Bosch Stiftung und im Zusammenhang damit auch als Journalist und Moderator tätig. Seit 2012 ist Hübner Mitglied der Redaktion der Zeitschrift Literatur in Bayern, seit 2016 Redaktionsbeirat der Literaturzeitschrift Neue Sirene. Als Publizist veröffentlichte er zahlreiche Buchkritiken, Autorenporträts und andere Arbeiten in Zeitschriften, Zeitungen und Internetforen sowie mehr als 100 Lexikonartikel, z.B. für »Kindlers Neues Literaturlexikon«, das »Metzler Literatur Lexikon« und das von Walther Killy begründete »Literaturlexikon«. Hübner ist Mitarbeiter am Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas (IKGS) sowie am Internationalen Forschungszentrum Chamisso (IFC) am Institut für Deutsch als Fremdsprache, die beide zur Universität München gehören.

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