Eine Rezension zu Hermann Bausingers "Schwäbische Literaturgeschichte"
Spiegel bayerischer Literatur und Kultur, fundiert und unterhaltsam, Essays, Prosatexte und Gedichte von prominenten und unbekannten Autoren: Das ist die Zeitschrift Literatur in Bayern. Seit 30 Jahren informiert sie über das literarische Geschehen des Freistaats. Der folgende Beitrag erschien in der Ausgabe 127 (2017).
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Dichtung und Region. Eine Schwäbische Literaturgeschichte
von Klaus Hübner
Es lohnt sich meistens, mal einen Blick über den Zaun zu werfen, auch wenn der Zaun gar keiner ist. Eine Schwäbische Literaturgeschichte in Literatur in Bayern? Auf jeden Fall, zumal Hermann Bausingers umfangreiches Werk, wie schon der Buchtitel mit dem großen „S“ andeutet, alles andere ist als eine Literaturgeschichte des Nachbarlands Baden-Württemberg. Nein, um das Selbstverständnis der Schwaben und des Schwäbischen geht es dem unlängst neunzig Jahre alt gewordenen Tübinger Emeritus, der in seiner aktiven Universitätszeit die bräunlich kontaminierte Volkskunde der Nachkriegsjahre zur empirischen Kulturwissenschaft umgewandelt und dabei eine Soziologie des Alltags entwickelt hat, mit der er sich jetzt, keineswegs zum ersten Mal, der Literatur zuwendet. „Es geht um das literarische Leben, das auch durch Einflüsse von außen bestimmt ist und das keinesfalls nur durch Poeten mit einer lückenlosen schwäbischen Ahnenreihe geprägt wurde“, heißt es gleich zu Beginn – und wer „schwäbischen“ durch „bayerischen“ ersetzt, kommt dem der Literatur in Bayern zu Grunde liegenden Literaturverständnis schon sehr nahe. „Schwaben“ ist für Bausinger weniger ein Ort auf der Landkarte als vielmehr eine Art innere Haltung. Es sind insbesondere seine vielfältigen Überlegungen zum Verhältnis von Literatur und Region, die diese souverän und humorvoll geschriebene Literaturgeschichte für all diejenigen interessant machen, die der Dichtung – ihren Sprachbildern und ihrem besonderen Ton, ihren Themen und Motiven – einen autonomen Eigenwert zugestehen und trotzdem gern wissen möchten, wie die Schriftsteller ihr lokales, regionales, politisches oder soziales Umfeld wahrgenommen haben. Oder anders: wie das alltägliche Leben der Poeten und vor allem die Sprache ihrer Umgebung auf die Werke Einfluss nahm. Was den in Aalen geborenen und in Reutlingen lebenden Gelehrten besonders interessiert, manchmal mehr als die Literatur selbst, ist ihre Wirkung auf das Verhalten und das Denken ihrer Leser. Immer wieder versucht Bausinger darzulegen, wie die Schwaben „ihre“ Dichter in ihr Leben integrierten.
Sein Buch ist kein kulturtheoretischer Essay, sondern eine Literaturgeschichte. Folglich bietet es immer kluge und oft vergnügliche Bemerkungen zu allerlei literarischen Größen, die – wodurch auch immer – mit dem Schwäbischen verbunden sind: Hölderlin, Schiller, Schubart, Hauff, Mörike, Uhland, Kerner, Auerbach oder der meistens unterschätzte Hermann Kurz. Das „schwäbische Jahrhundert“ war das 19., und auf die Literatur aus jener Zeit ist auch Bausinger fixiert. Nicht dass er nichts zu sagen hätte über Hermann Hesse, Ernst Jünger, Hermann Lenz, Peter Härtling, Martin Walser und etliche andere Autoren von heute, über das Heimattheater, die Dialektlyrik oder die Konkrete Poesie – ganz im Gegenteil! Zwischendrin, und das macht die Lektüre dieses respektablen Buchs kurzweilig und unanstrengend, darf man öfters mal schmunzeln: zum Beispiel wenn von den Eltern Bertolt Brechts die Rede ist, die ihre Hochzeitsnacht exakt neun Monate vor der Geburt ihres später weltberühmten Sohnes im Bahnhof von Pfullingen verbrachten. Schwäbische Literatur ist daraus nicht entstanden, wohl aber große Literatur, die ohne Schwaben kaum zu denken ist. Was sein Buch außerdem interessant macht, sind Bausingers Erörterungen der sonst gern übersehenen Literatur, die mit dem oberschwäbisch-katholischen Donauraum verbunden ist – und die bisweilen auch ins Bairische hineinspielt. Das fängt bei Abraham a Sancta Clara und Sebastian Sailer an, berührt Christoph Martin Wieland und Sophie von La Roche und hört bei Schriftstellern wie W.G. Sebald oder Gerhard Köpf nicht auf. Die beiden zuletzt genannten Namen allerdings kommen bei Bausinger nicht ein einziges Mal vor – was die zeitlichen Grenzen seiner Aufmerksamkeit andeuten mag. Dennoch wird diese Schwäbische Literaturgeschichte ganz schnell zu einem Standardwerk werden. Auch für Bayern.
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Klaus Hübner, Dr. phil., wurde 1953 in Landshut geboren und legte sein Abitur am dortigen Hans-Carossa-Gymnasium ab. Er studierte Germanistik, Geschichte und Kommunikationswissenschaft in Erlangen und München und wurde 1980 mit der Studie „Alltag im literarischen Werk. Eine literatursoziologische Studie zu Goethes Werther" promoviert. An der Universidad de Deusto in Bilbao (Spanien) war er von 1981 bis 1983 als DAAD-Lektor tätig. Später wurde er wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lehrbeauftragter am Institut für Deutsch als Fremdsprache und am Institut für Deutsche Philologie der Universität München. Von 1984 bis 2016 war Hübner Redakteur der monatlich erscheinenden Zeitschrift „Fachdienst Germanistik“. In den Jahren 1985 bis 1999 war er hauptsächlich für den Münchner iudicium-Verlag tätig. Von 2003 bis 2017 war er außerdem Ständiger Sekretär des Adelbert-von-Chamisso-Preises der Robert Bosch Stiftung und im Zusammenhang damit auch als Journalist und Moderator tätig. Seit 2012 ist Hübner Mitglied der Redaktion der Zeitschrift Literatur in Bayern, seit 2016 Redaktionsbeirat der Literaturzeitschrift Neue Sirene. Als Publizist veröffentlichte er zahlreiche Buchkritiken, Autorenporträts und andere Arbeiten in Zeitschriften, Zeitungen und Internetforen sowie mehr als 100 Lexikonartikel, z.B. für »Kindlers Neues Literaturlexikon«, das »Metzler Literatur Lexikon« und das von Walther Killy begründete »Literaturlexikon«. Hübner ist Mitarbeiter am Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas (IKGS) sowie am Internationalen Forschungszentrum Chamisso (IFC) am Institut für Deutsch als Fremdsprache, die beide zur Universität München gehören.
Bausinger, Hermann (2016): Eine Schwäbische Literaturgeschichte. Verlag Klöpfer & Meyer, Tübingen. 438 S., € 28,-. E-Book: € 18,99.
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Spiegel bayerischer Literatur und Kultur, fundiert und unterhaltsam, Essays, Prosatexte und Gedichte von prominenten und unbekannten Autoren: Das ist die Zeitschrift Literatur in Bayern. Seit 30 Jahren informiert sie über das literarische Geschehen des Freistaats. Der folgende Beitrag erschien in der Ausgabe 127 (2017).
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Dichtung und Region. Eine Schwäbische Literaturgeschichte
von Klaus Hübner
Es lohnt sich meistens, mal einen Blick über den Zaun zu werfen, auch wenn der Zaun gar keiner ist. Eine Schwäbische Literaturgeschichte in Literatur in Bayern? Auf jeden Fall, zumal Hermann Bausingers umfangreiches Werk, wie schon der Buchtitel mit dem großen „S“ andeutet, alles andere ist als eine Literaturgeschichte des Nachbarlands Baden-Württemberg. Nein, um das Selbstverständnis der Schwaben und des Schwäbischen geht es dem unlängst neunzig Jahre alt gewordenen Tübinger Emeritus, der in seiner aktiven Universitätszeit die bräunlich kontaminierte Volkskunde der Nachkriegsjahre zur empirischen Kulturwissenschaft umgewandelt und dabei eine Soziologie des Alltags entwickelt hat, mit der er sich jetzt, keineswegs zum ersten Mal, der Literatur zuwendet. „Es geht um das literarische Leben, das auch durch Einflüsse von außen bestimmt ist und das keinesfalls nur durch Poeten mit einer lückenlosen schwäbischen Ahnenreihe geprägt wurde“, heißt es gleich zu Beginn – und wer „schwäbischen“ durch „bayerischen“ ersetzt, kommt dem der Literatur in Bayern zu Grunde liegenden Literaturverständnis schon sehr nahe. „Schwaben“ ist für Bausinger weniger ein Ort auf der Landkarte als vielmehr eine Art innere Haltung. Es sind insbesondere seine vielfältigen Überlegungen zum Verhältnis von Literatur und Region, die diese souverän und humorvoll geschriebene Literaturgeschichte für all diejenigen interessant machen, die der Dichtung – ihren Sprachbildern und ihrem besonderen Ton, ihren Themen und Motiven – einen autonomen Eigenwert zugestehen und trotzdem gern wissen möchten, wie die Schriftsteller ihr lokales, regionales, politisches oder soziales Umfeld wahrgenommen haben. Oder anders: wie das alltägliche Leben der Poeten und vor allem die Sprache ihrer Umgebung auf die Werke Einfluss nahm. Was den in Aalen geborenen und in Reutlingen lebenden Gelehrten besonders interessiert, manchmal mehr als die Literatur selbst, ist ihre Wirkung auf das Verhalten und das Denken ihrer Leser. Immer wieder versucht Bausinger darzulegen, wie die Schwaben „ihre“ Dichter in ihr Leben integrierten.
Sein Buch ist kein kulturtheoretischer Essay, sondern eine Literaturgeschichte. Folglich bietet es immer kluge und oft vergnügliche Bemerkungen zu allerlei literarischen Größen, die – wodurch auch immer – mit dem Schwäbischen verbunden sind: Hölderlin, Schiller, Schubart, Hauff, Mörike, Uhland, Kerner, Auerbach oder der meistens unterschätzte Hermann Kurz. Das „schwäbische Jahrhundert“ war das 19., und auf die Literatur aus jener Zeit ist auch Bausinger fixiert. Nicht dass er nichts zu sagen hätte über Hermann Hesse, Ernst Jünger, Hermann Lenz, Peter Härtling, Martin Walser und etliche andere Autoren von heute, über das Heimattheater, die Dialektlyrik oder die Konkrete Poesie – ganz im Gegenteil! Zwischendrin, und das macht die Lektüre dieses respektablen Buchs kurzweilig und unanstrengend, darf man öfters mal schmunzeln: zum Beispiel wenn von den Eltern Bertolt Brechts die Rede ist, die ihre Hochzeitsnacht exakt neun Monate vor der Geburt ihres später weltberühmten Sohnes im Bahnhof von Pfullingen verbrachten. Schwäbische Literatur ist daraus nicht entstanden, wohl aber große Literatur, die ohne Schwaben kaum zu denken ist. Was sein Buch außerdem interessant macht, sind Bausingers Erörterungen der sonst gern übersehenen Literatur, die mit dem oberschwäbisch-katholischen Donauraum verbunden ist – und die bisweilen auch ins Bairische hineinspielt. Das fängt bei Abraham a Sancta Clara und Sebastian Sailer an, berührt Christoph Martin Wieland und Sophie von La Roche und hört bei Schriftstellern wie W.G. Sebald oder Gerhard Köpf nicht auf. Die beiden zuletzt genannten Namen allerdings kommen bei Bausinger nicht ein einziges Mal vor – was die zeitlichen Grenzen seiner Aufmerksamkeit andeuten mag. Dennoch wird diese Schwäbische Literaturgeschichte ganz schnell zu einem Standardwerk werden. Auch für Bayern.
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Klaus Hübner, Dr. phil., wurde 1953 in Landshut geboren und legte sein Abitur am dortigen Hans-Carossa-Gymnasium ab. Er studierte Germanistik, Geschichte und Kommunikationswissenschaft in Erlangen und München und wurde 1980 mit der Studie „Alltag im literarischen Werk. Eine literatursoziologische Studie zu Goethes Werther" promoviert. An der Universidad de Deusto in Bilbao (Spanien) war er von 1981 bis 1983 als DAAD-Lektor tätig. Später wurde er wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lehrbeauftragter am Institut für Deutsch als Fremdsprache und am Institut für Deutsche Philologie der Universität München. Von 1984 bis 2016 war Hübner Redakteur der monatlich erscheinenden Zeitschrift „Fachdienst Germanistik“. In den Jahren 1985 bis 1999 war er hauptsächlich für den Münchner iudicium-Verlag tätig. Von 2003 bis 2017 war er außerdem Ständiger Sekretär des Adelbert-von-Chamisso-Preises der Robert Bosch Stiftung und im Zusammenhang damit auch als Journalist und Moderator tätig. Seit 2012 ist Hübner Mitglied der Redaktion der Zeitschrift Literatur in Bayern, seit 2016 Redaktionsbeirat der Literaturzeitschrift Neue Sirene. Als Publizist veröffentlichte er zahlreiche Buchkritiken, Autorenporträts und andere Arbeiten in Zeitschriften, Zeitungen und Internetforen sowie mehr als 100 Lexikonartikel, z.B. für »Kindlers Neues Literaturlexikon«, das »Metzler Literatur Lexikon« und das von Walther Killy begründete »Literaturlexikon«. Hübner ist Mitarbeiter am Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas (IKGS) sowie am Internationalen Forschungszentrum Chamisso (IFC) am Institut für Deutsch als Fremdsprache, die beide zur Universität München gehören.
Bausinger, Hermann (2016): Eine Schwäbische Literaturgeschichte. Verlag Klöpfer & Meyer, Tübingen. 438 S., € 28,-. E-Book: € 18,99.