Auszug aus dem Erzähldebüt von Nadja Schlüter
Nadja Schlüter, geboren 1986, hat an der Universität Bonn Komparatistik studiert. Sie lebt als Autorin und Journalistin in München und schreibt für jetzt, das junge Magazin der Süddeutschen Zeitung. »Einer hätte gereicht« ist ihr Prosadebüt. Am 17. März liest sie daraus beim Wortspiele Festival in München. Die zehn Erzählungen kreisen um das einzgartige, oft eigenartige Verhältnis von Geschwistern: Da ist die kauzige Frau, die ihren Bruder bisher gar nicht kannte und jetzt zu sehr mag. Ein junger Mann, der daran verzweifelt, dass er seinen Bruder viel zu gut kennt. Da sind die zwei Fremden im Zug, die spontan ein Geschwisterpaar spielen, um einen aufdringlichen Betrunkenen abzuwehren. Und wie wäre es eigentlich, wenn wir uns in der Zukunft den Bruder oder die Schwester selbst aussuchen könnten, statt sie einfach als Blutsverwandte vorgesetzt zu bekommen? Das Buch erscheint Ende März bei Voland & Quist. Wir publizieren den Beginn der ersten Erzählung.
*
Die Schweiz
Sechs Uhr. »Ich sag dir mal was«, sagt Philipp und dann sagt er nichts mehr. Ich kippe Bourbon ins Glas und Zuckersirup, ein paar Tropfen Bitter und drei Eiswürfel. Ich sehe Philipp an, während ich rühre, er sieht mir zu und trommelt dabei mit den Fingern seiner linken Hand auf dem Tresen rum. »Du machst mich nervös«, sage ich. Philipp greift mit der rechten Hand seine linke, als gäbe es keine andere Möglichkeit mit dem Trommeln aufzuhören. Mir fällt auf, dass seine Geheimratsecken in den letzten Wochen gewachsen sind. Ich reibe die Innenseite einer Zitronenschale am Glasrand ab und schiebe Philipp das Glas hin. »Da«, sage ich. »Macht 9,50 Euro.« »Schreib’s an«, sagt Philipp und trinkt. Dann presst er die Lippen zusammen und schluckt übertrieben deutlich. »Bisschen bitter geworden«, sagt er. Ich mache einen Strich auf seinem Deckel.
Acht Uhr. »Ich bin so sauer«, sagt Jo und dann sagt er nichts mehr. Ich kippe Gin, Wermut und Campari ins Glas, dann drei Eiswürfel. »Echt«, sagt Jo, »stinksauer.« Er faltet die Hände auf dem Tresen, als wolle er beten. »Das verstehst du, oder?« »Ehrlich gesagt: nein«, sage ich und lege eine Orangenzeste auf die Eiswürfel. Ich schiebe Jo das Glas hin. »Da«, sage ich, »macht 9,50 Euro.« »Kann ich noch mal anschreiben lassen?«, fragt Jo. »Jaja«, sage ich und mache einen Strich auf seinem Deckel, der neben Philipps unterm Tresen liegt. Elf zu vier für Philipp. Jo zahlt wenigstens ab und zu, Philipp muss ich zwingen. Das mache ich etwa alle fünfzehn Drinks und dann sagt er so was wie: »Für deinen Bruder könntest du ruhig mal eine Ausnahme machen.« Und ich so was wie: »142,50 Euro sind mir etwa 132,50 Euro zu viel für eine Ausnahme.« Und dann gibt er mir einen Hunderter, sagt so was wie: »Den Rest kannst du behalten«, und grinst. Jo trinkt einen Schluck, dann rümpft er die Nase. »Bisschen bitter geworden, oder?«, sagt er. Ich nehme ein Glas in die Hand, um es zu polieren.
Zehn Uhr. »Hallo mein Mäuschen«, sagt Nils. »Gib mir doch bitte ein Bier.« Ich sage nichts, dabei könnte ich ja zumindest zurückgrüßen, wäre ja nicht verfänglich. Ich nehme ein Bier aus der Kühlschublade, öffne es und stelle es vor Nils auf den Tresen. »Danke«, sagt er und schiebt mir einen Fünfer rüber. Er trinkt einen Schluck. »Ist es zu bitter geworden?«, frage ich. Nils lacht. »Soll das ein Witz sein?« »So was Ähnliches«, sage ich und hole ihm sein Wechselgeld aus der Kasse. Nils hat keinen Deckel, aber er wird nach Nüssen fragen in drei, zwei, eins … »Hast du Nüsse da?«, fragt Nils.
Drei Brüder haben ist anstrengend. Drei Brüder und eine Bar haben ist noch anstrengender. Am anstrengendsten ist es aber, wenn man drei Brüder hat, die immer Streit haben (zwei gegen einen oder jeder gegen jeden oder einer mit einem anderen und der Dritte tut so, als ginge ihn das nichts an), und man eine Bar hat, in die alle drei Brüder trotzdem gehen wollen, weil es ja sehr praktisch ist, eine Schwester mit einer Bar zu haben. Damit die drei sich nicht absprechen, aber auch nicht begegnen müssen, hat jeder einen Slot bekommen. Philipp kommt, wenn er kommt, zwischen sechs und acht, Jo kommt, wenn er kommt, zwischen acht und zehn, und Nils kommt, wenn er kommt, zwischen zehn und zwölf. Alles nach Mitternacht ist Glücksspiel, da darf jeder kommen, wann er will, deswegen kommt da selten überhaupt einer von ihnen, außer, er ist sehr betrunken. Die festen Slots gelten immer und für jeden Tag, auch wenn nicht jeder von ihnen jeden Tag kommt. Wenn zwei von ihnen gerade gut miteinander sind, meistens, weil sie gemeinsam gegen den Dritten sind, dann sprechen sie sich manchmal ab und kommen zusammen im Slot eines der beiden, also zum Beispiel Philipp und Jo zwischen sechs und acht oder Nils und Philipp zwischen zehn und zwölf. Jo hat insgesamt den besten Slot, weil er in der Mitte liegt, und weil Jo dadurch, wenn er mit Philipp in Philipps Slot kommt, vier Stunden bleiben kann, und wenn er mit Nils verabredet ist, kann er auch vier Stunden bleiben. Wenn Philipp vier Stunden bleiben und Nils sehen will, aber gerade Ärger mit Jo hat, muss er kommen, wieder gehen und dann wiederkommen oder mit Nils kommen und dann noch zwei Stunden nach Mitternacht bleiben und hoffen, dass Jo dann nicht auch plötzlich auftaucht. Einmal, als Nils und Jo gerade Streit hatten und Philipp so getan hat, als hätte er mit all dem nichts zu tun, kam er um sechs und blieb bis Mitternacht und sprach ab acht zwei Stunden mit Jo und ab zehn zwei Stunden mit Nils und um halb zwölf war er sturzbetrunken und fing an, sich mit Nils zu streiten.
Mit Freunden oder ihren jeweils aktuellen Partnern kommen die drei schon längst nicht mehr, weil den Freunden und Partnern das alles viel zu anstrengend ist, und das ärgert mich, weil mir dadurch Kunden verloren gehen. Vor ein paar Monaten kam Nils’ Freund Amir mal um kurz vor acht, weil er mit mir darüber sprechen wollte, dass Nils so einen schlimmen Streit mit Jo habe und er nicht wisse, was er tun solle, und dann kam Jo um acht und ich habe die beiden zusammengesetzt, damit sie darüber sprechen können. Leider kam an diesem Abend um zehn auch Nils und wurde fuchsteufelswild, als er Amir und Jo zusammensitzen saß, und es kam zu einer fürchterlichen Szene, in der Nils erst Amir vorwarf, nicht loyal zu sein, und dann Jo, er mache sich an seinen Freund ran, woraufhin Jo furchtbar beleidigt war, dass Nils ihn anscheinend für einen Schwulen halte, und Nils und Amir dann beleidigt waren, dass Jo Schwulsein anscheinend für etwas Negatives halte, und dann habe ich meinen Kollegen Samuel gebeten, die drei vor die Tür zu setzen, obwohl alle anderen Gäste das Ganze extrem amüsant fanden. Meine Bar hat viele Stammgäste und die wissen natürlich schon, dass sich hier immer dieses Brüdergedöns abspielt. In einem Lonely-Planet-Thread zu Ausgeh-Empfehlungen in unserer Stadt gibt es sogar einen Eintrag, in dem ein Besucher mit einem Zwinker-Smiley erwähnt, dass die Tumbler Bar dafür berühmt sei, dass es dort diese drei Brüder gäbe, die immer … und so weiter. Mir persönlich wäre es ja lieber, wenn meine Bar dafür bekannt wäre, dass es dort diese guten Drinks gibt, aber man kann sich seine Brüder eben nicht aussuchen. Seine Drinks übrigens schon und, nur um das mal erwähnt zu haben: In meiner Bar hat man eine große Auswahl und die Drinks sind echt gut und nie, nie, niemals zu bitter!
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Nadja Schlüter, geboren 1986, hat an der Universität Bonn Komparatistik studiert. Sie lebt als Autorin und Journalistin in München und schreibt für jetzt, das junge Magazin der Süddeutschen Zeitung. »Einer hätte gereicht« ist ihr Prosadebüt. Am 17. März liest sie daraus beim Wortspiele Festival in München. Die zehn Erzählungen kreisen um das einzgartige, oft eigenartige Verhältnis von Geschwistern: Da ist die kauzige Frau, die ihren Bruder bisher gar nicht kannte und jetzt zu sehr mag. Ein junger Mann, der daran verzweifelt, dass er seinen Bruder viel zu gut kennt. Da sind die zwei Fremden im Zug, die spontan ein Geschwisterpaar spielen, um einen aufdringlichen Betrunkenen abzuwehren. Und wie wäre es eigentlich, wenn wir uns in der Zukunft den Bruder oder die Schwester selbst aussuchen könnten, statt sie einfach als Blutsverwandte vorgesetzt zu bekommen? Das Buch erscheint Ende März bei Voland & Quist. Wir publizieren den Beginn der ersten Erzählung.
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Die Schweiz
Sechs Uhr. »Ich sag dir mal was«, sagt Philipp und dann sagt er nichts mehr. Ich kippe Bourbon ins Glas und Zuckersirup, ein paar Tropfen Bitter und drei Eiswürfel. Ich sehe Philipp an, während ich rühre, er sieht mir zu und trommelt dabei mit den Fingern seiner linken Hand auf dem Tresen rum. »Du machst mich nervös«, sage ich. Philipp greift mit der rechten Hand seine linke, als gäbe es keine andere Möglichkeit mit dem Trommeln aufzuhören. Mir fällt auf, dass seine Geheimratsecken in den letzten Wochen gewachsen sind. Ich reibe die Innenseite einer Zitronenschale am Glasrand ab und schiebe Philipp das Glas hin. »Da«, sage ich. »Macht 9,50 Euro.« »Schreib’s an«, sagt Philipp und trinkt. Dann presst er die Lippen zusammen und schluckt übertrieben deutlich. »Bisschen bitter geworden«, sagt er. Ich mache einen Strich auf seinem Deckel.
Acht Uhr. »Ich bin so sauer«, sagt Jo und dann sagt er nichts mehr. Ich kippe Gin, Wermut und Campari ins Glas, dann drei Eiswürfel. »Echt«, sagt Jo, »stinksauer.« Er faltet die Hände auf dem Tresen, als wolle er beten. »Das verstehst du, oder?« »Ehrlich gesagt: nein«, sage ich und lege eine Orangenzeste auf die Eiswürfel. Ich schiebe Jo das Glas hin. »Da«, sage ich, »macht 9,50 Euro.« »Kann ich noch mal anschreiben lassen?«, fragt Jo. »Jaja«, sage ich und mache einen Strich auf seinem Deckel, der neben Philipps unterm Tresen liegt. Elf zu vier für Philipp. Jo zahlt wenigstens ab und zu, Philipp muss ich zwingen. Das mache ich etwa alle fünfzehn Drinks und dann sagt er so was wie: »Für deinen Bruder könntest du ruhig mal eine Ausnahme machen.« Und ich so was wie: »142,50 Euro sind mir etwa 132,50 Euro zu viel für eine Ausnahme.« Und dann gibt er mir einen Hunderter, sagt so was wie: »Den Rest kannst du behalten«, und grinst. Jo trinkt einen Schluck, dann rümpft er die Nase. »Bisschen bitter geworden, oder?«, sagt er. Ich nehme ein Glas in die Hand, um es zu polieren.
Zehn Uhr. »Hallo mein Mäuschen«, sagt Nils. »Gib mir doch bitte ein Bier.« Ich sage nichts, dabei könnte ich ja zumindest zurückgrüßen, wäre ja nicht verfänglich. Ich nehme ein Bier aus der Kühlschublade, öffne es und stelle es vor Nils auf den Tresen. »Danke«, sagt er und schiebt mir einen Fünfer rüber. Er trinkt einen Schluck. »Ist es zu bitter geworden?«, frage ich. Nils lacht. »Soll das ein Witz sein?« »So was Ähnliches«, sage ich und hole ihm sein Wechselgeld aus der Kasse. Nils hat keinen Deckel, aber er wird nach Nüssen fragen in drei, zwei, eins … »Hast du Nüsse da?«, fragt Nils.
Drei Brüder haben ist anstrengend. Drei Brüder und eine Bar haben ist noch anstrengender. Am anstrengendsten ist es aber, wenn man drei Brüder hat, die immer Streit haben (zwei gegen einen oder jeder gegen jeden oder einer mit einem anderen und der Dritte tut so, als ginge ihn das nichts an), und man eine Bar hat, in die alle drei Brüder trotzdem gehen wollen, weil es ja sehr praktisch ist, eine Schwester mit einer Bar zu haben. Damit die drei sich nicht absprechen, aber auch nicht begegnen müssen, hat jeder einen Slot bekommen. Philipp kommt, wenn er kommt, zwischen sechs und acht, Jo kommt, wenn er kommt, zwischen acht und zehn, und Nils kommt, wenn er kommt, zwischen zehn und zwölf. Alles nach Mitternacht ist Glücksspiel, da darf jeder kommen, wann er will, deswegen kommt da selten überhaupt einer von ihnen, außer, er ist sehr betrunken. Die festen Slots gelten immer und für jeden Tag, auch wenn nicht jeder von ihnen jeden Tag kommt. Wenn zwei von ihnen gerade gut miteinander sind, meistens, weil sie gemeinsam gegen den Dritten sind, dann sprechen sie sich manchmal ab und kommen zusammen im Slot eines der beiden, also zum Beispiel Philipp und Jo zwischen sechs und acht oder Nils und Philipp zwischen zehn und zwölf. Jo hat insgesamt den besten Slot, weil er in der Mitte liegt, und weil Jo dadurch, wenn er mit Philipp in Philipps Slot kommt, vier Stunden bleiben kann, und wenn er mit Nils verabredet ist, kann er auch vier Stunden bleiben. Wenn Philipp vier Stunden bleiben und Nils sehen will, aber gerade Ärger mit Jo hat, muss er kommen, wieder gehen und dann wiederkommen oder mit Nils kommen und dann noch zwei Stunden nach Mitternacht bleiben und hoffen, dass Jo dann nicht auch plötzlich auftaucht. Einmal, als Nils und Jo gerade Streit hatten und Philipp so getan hat, als hätte er mit all dem nichts zu tun, kam er um sechs und blieb bis Mitternacht und sprach ab acht zwei Stunden mit Jo und ab zehn zwei Stunden mit Nils und um halb zwölf war er sturzbetrunken und fing an, sich mit Nils zu streiten.
Mit Freunden oder ihren jeweils aktuellen Partnern kommen die drei schon längst nicht mehr, weil den Freunden und Partnern das alles viel zu anstrengend ist, und das ärgert mich, weil mir dadurch Kunden verloren gehen. Vor ein paar Monaten kam Nils’ Freund Amir mal um kurz vor acht, weil er mit mir darüber sprechen wollte, dass Nils so einen schlimmen Streit mit Jo habe und er nicht wisse, was er tun solle, und dann kam Jo um acht und ich habe die beiden zusammengesetzt, damit sie darüber sprechen können. Leider kam an diesem Abend um zehn auch Nils und wurde fuchsteufelswild, als er Amir und Jo zusammensitzen saß, und es kam zu einer fürchterlichen Szene, in der Nils erst Amir vorwarf, nicht loyal zu sein, und dann Jo, er mache sich an seinen Freund ran, woraufhin Jo furchtbar beleidigt war, dass Nils ihn anscheinend für einen Schwulen halte, und Nils und Amir dann beleidigt waren, dass Jo Schwulsein anscheinend für etwas Negatives halte, und dann habe ich meinen Kollegen Samuel gebeten, die drei vor die Tür zu setzen, obwohl alle anderen Gäste das Ganze extrem amüsant fanden. Meine Bar hat viele Stammgäste und die wissen natürlich schon, dass sich hier immer dieses Brüdergedöns abspielt. In einem Lonely-Planet-Thread zu Ausgeh-Empfehlungen in unserer Stadt gibt es sogar einen Eintrag, in dem ein Besucher mit einem Zwinker-Smiley erwähnt, dass die Tumbler Bar dafür berühmt sei, dass es dort diese drei Brüder gäbe, die immer … und so weiter. Mir persönlich wäre es ja lieber, wenn meine Bar dafür bekannt wäre, dass es dort diese guten Drinks gibt, aber man kann sich seine Brüder eben nicht aussuchen. Seine Drinks übrigens schon und, nur um das mal erwähnt zu haben: In meiner Bar hat man eine große Auswahl und die Drinks sind echt gut und nie, nie, niemals zu bitter!