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02.02.2017, 15:20 Uhr
Harald Beck
Text & Debatte
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Die Mythen der Physiker und James Joyce

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Joyce in Zürich, 1915

Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799), Mathematiker und erster deutscher Professor für Experimentalphysik im Zeitalter der Aufklärung, spricht als Kenner der Szene in seinen unerschöpflichen Sudelbüchern „Die Mythen der Physiker“ an. Und es leuchtet ein, dass sich wissenschaftliches Forschen in einer zwischen Mythen und Tatsachen fluktuierenden Dialektik entwickelt. Was allerdings den angesehenen Elementarteilchenforscher Harald Fritzsch geritten hat, in seinem 2005 publizierten Buch Das absolut Unveränderliche. Die letzten Rätsel der Physik, das Gerücht zu streuen, James Joyce habe die „quarks“ in Finnegans Wake den Marktfrauen in Freiburg im Breisgau zu verdanken, mag sich allenfalls aus dem fiktionalen Charakter seiner physikalischen Dialoge erschließen. Er lässt Newton, Einstein und einen fiktiven Adrian Haller auftreten, der erklärt:

Gell-Mann führte auch das Kunstwort Quarks ein, das er in dem Buch Finnegans Wake von James Joyce fand. Angeblich hat James Joyce dieses Wort während der Durchreise in Freiburg i. Br. gehört, vermutlich auf dem Marktplatz der Stadt von den Marktfrauen, die Quark anpriesen, und fand es so komisch, dass er es in seinem Buch verwendete.

Was bei Fritzsch noch als Quark-Mythe geäußert wird, gerinnt in Folge, z.B. in Wolfgang Osterhages Studium Generale Physik: Ein Rundflug von der klassischen bis zur modernen Physik, zum Tatsachenquark:

James Joyce befand sich auf einer Reise durch Freiburg im Breisgau. Auf dem Marktplatz boten die Bauersfrauen ihre Ware feil – auch Milchprodukte. Joyce klingelten die Ohren, als er immerzu den Ruf „Quark! Quark! Quark!“ vernahm, ohne den Sinn des Wortes recht zu verstehen. Später suchte er in seinem Buch Finnegan’s Wake nach einem Nonsense-Wort und inspiriert von seinen Erlebnissen in Freiburg formuliert er den Satz „Three quarks for Muster Mark“. Als Gell-Mann sich in der geistigen Tiefe des Standardmodells befand, brauchte er ein Wort für das neu zu postulierende Elementarteilchen. Zur selben Zeit las er eben in Finnegan’s Wake jenen Satz und hatte endlich die gesuchte Bezeichnung gefunden: „quark“.

Hier stimmt schlichtweg nichts, noch nicht einmal der Titel des Werks, der aus guten Gründen keinen Apostroph aufweist: Bitte einprägen: Finnegans Wake! Dann können auch noch weitere Finnegans auferweckt werden.

 

Quarks und kein Ende

Es ist unschwer zu ermitteln, dass Joyce, dessen Kenntnisse des deutschen Wortschatzes selbst einen Stefan Zweig tief beeindruckten, vier Jahre von 1915 bis 1919 in Zürich lebte und somit ausreichend Gelegenheit hatte, sich mit dem Sinn des Wortes Quark lange vor Finnegans Wake vertraut zu machen.

Es gibt auch keinen Beleg dafür, dass Joyce jemals durch Freiburg im Breisgau spazierte. Aber existieren nicht vier Postkarten aus Freiburg im Uechtland, die er im September 1938 aufgab? Könnte Joyce also nicht dort zu seiner angeblichen Milcheiweiß-Epiphanie gekommen sein? Die Antwort lautet kurz und bündig: Quark!

Joyce hatte sich erlaubt, bereits im Sommer 1923 in England mit ersten Skizzen zu Finnegans Wake zu beginnen, und eine davon fängt an wie folgt:

Over them winged ones screamed shrill glee: seahawk, seagull, curlew and plover, kestrel and capercailzie. All the birds of the sea they trolled out right bold when they smacked of the big kiss of Tristan with Isolde.

So sang seaswans:

Three quarks for Muster Mark

Seahawk, seagull, curlew, plover, kestrel and capercailzie, zu deutsch: Fischadler, Möwe, Regenpfeifer, Turmfalke und Auerhahn, nicht zu vergessen die etwas mysteriösen seaswans, also „sangen“ lautstark (trolled out right bold). Spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich die englischsprachige Vogelwelt entschlossen, unter anderem mit dem Wort „quark“ (im britischen Englisch gleichlautende Nebenform zu „quawk“) zu krächzen: Das Oxford English Dictionary bietet ein Beispiel aus dem Jahr 1864 an:

The sooty crow Flew up and gave a quark.

Lange vor aus dem Hut gezauberten Freiburger Marktfrauen waren es also des Englischen mächtige Vögel, die lauthals mit „quark“ auf sich aufmerksam machten.

Three quarks for Muster Mark – Schriftzug (c) Harald Beck

 

Sprachmächtige Vögel

Gerade in Finnegans Wake erzeugt erst der Kontext die Bedeutung seiner Teile. Die kaleidoskopisch changierenden Sätze und Worte darin können eben nicht „alles“ bedeuten. Es ist die Wechselwirkung der einzelnen Elemente, die Isotopieebenen entstehen lässt, die den Deutungsversuchen des Lesers mal mehr, mal weniger Bestätigung und Gewicht geben. Der vermeintliche „Nonsense“ hat durchaus Sinn, auch wenn er sich nicht festnageln lässt. (Die Analogie zu den Elementarteilchen ist geradezu aufdringlich.)

Was weder Fritzsch noch seine mythenverfestigenden Nachfolger wissen konnten, war, dass Gell-Mann in Finnegans Wake nur eine Bestätigung für eine Lautfolge fand, die er für die neuen Hadronen-Bausteine bereits gewählt hatte. In einem Brief an Robert Burchfield, den damaligen Herausgeber des Oxford English Dictionary vom 27. Juni 1978 teilte er mit: „I employed the sound ‘quork’ for several weeks in 1963 before noticing ‘quark’ in Finnegans Wake“.

Bleibt festzuhalten, dass die Relevanz von Milchprodukten im flatterhaften Kontext der „three quarks“ verschwindend gering ist, so gering, dass der deutsche Quark in der neuesten Auflage von Roland McHughs unverzichtbaren Annotations to Finnegans Wake ersatzlos gestrichen wurde.

Nebenbei bemerkt: Das aus der Milch durch Zugabe von Lab oder durch bakterielle Bildung von Milchsäure ausgefällte Milcheiweiß tut sich schwer mit einem Plural. Drei Quarke für Marke gegen eine Isolde für Tristan? Das sind nicht die Milche der frommen Denkungsart.

Das Schlusswort gehört wieder dem Physiker Georg Christoph Lichtenberg: „und da ließ ich den Quark liegen“.