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Nora Gomringer sendet Post aus Nippon

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Meiko-Spaziergänge. Nora Gomringer und Mädchen in traditionellen Kimonos besuchen Tempelanlagen und machen Selfies. © aviso

Nora Eugenie Gomringer, Schriftstellerin und Direktorin des Internationalen Künstlerhauses Villa Concordia in Bamberg, bereist derzeit Japan als Stipendiatin des Goethe Instituts. Für die Zeitschrift aviso des Bayerischen Staatsministeriums für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst hat die Autorin einen Beitrag über ihre Zeit im Land des Lächelns verfasst.

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Seit dem 17. September bin ich in Kyoto und habe meine Wohnung im Goethe Institut am Entenfluss bezogen. Mit fünf anderen Stipendiaten, die sich in ihrer künstlerischen Arbeit dem Spannungsfeld Fernost-West annehmen und sich entweder um das Männlichkeitsbild des modernen Japaners oder uralte Handwerkskunst bemühen, teile ich mir ein Stockwerk in der Villa Kamogawa. Mit dem Leipziger Schlagzeuger Philipp Scholz bin ich hier, um den japanischen Jazz kennen zu lernen und an verschiedenen Orten aufzutreten. Auch die Bamberger Symphoniker kommen auf ihrer Korea- und Japan-Tour hier vorbei und der Bundespräsident ist für Mitte November angekündigt. Als Stipendiatin hat man eben auch ein paar Pflichten.

 

Bittergurken im Salat und Plankton auf dem Reis

In den ersten Tagen, da sich der Schlafrhythmus noch einpendelt, habe ich vor allem das abendliche und nächtliche Kyoto durchwandert. Das kann man gut, denn die Kriminalitätsrate ist niedrig und die Bürgersteige ab 23 Uhr hochgeklappt. So eine europäische Langnase wie ich streift durch die Straßen mit Linksverkehr und keiner einzigen Zigarettenkippe auf dem Gehweg – nahezu – ungesehen umher. Jeder Block bietet mindestens einen 7eleven-Laden, in dem man sich rund um die Uhr ernähren kann. Manchmal stehe ich lange vor den Packungen und versuche, aus den fremden Zeichen Sinn zu machen, denn das Bild darauf zeigt allzu Grausiges. Für 20.000 Yen etwa kann man auf dem Markt eingeschweißte kleine Seegurken (das sind Tiere!) zum Snack erstehen. Schön sind die Gemüseabteilungen in den Supermärkten fremder Länder. Ich habe die Bittergurke (die ist wirklich ein Gemüse) ja schon in mehreren China-Läden in Deutschland bewundert, hier aber habe ich zum ersten Mal zugelangt und eine in meinen Kühlschrank einziehen lassen. Sie wird auch Leprabirne genannt. Alle diese Namen verschleiern ihre heilsame medizinische Wirkung auf Magen, Darm und Nieren und auch ihren passablen Geschmack, wenn man sich im Internet durch die Zubereitungsempfehlungen gelesen hat. Aufschneiden, ordentlich salzen, stehen lassen und nach einer Weile Salz und daran gebundene Bitterstoffe abwaschen. Dann kleinschneiden und sautieren oder roh in den Salat. Kleine frittierte Fischlein, ein Wal würde sie ungerührt Plankton nennen, streut man sich auf den Reis, um ihn etwas gehaltvoller im Geschmack zu machen. Ein pochiertes Ei auf frischen, dicken Udon-Nudeln in Miso Suppe ergibt eine so sättigende und glücklich machende Speise, das man sich fragt, wie man ohne hat leben können. Ganze 36 Jahre lang.

Dass man in Japan älter wird als im Durchschnitt an anderen Orten der Welt, wurde just dieser Tage als statistische Uralt-Ente aufgedeckt. Man hält es in Japan mit dem Zensus etwas anders und wer seinen verstorbenen Liebsten nicht abmeldet, der erhält weiter dessen komfortable Rentenbezüge. Das ist ein Land für lustige Witwen, denke ich manchmal. So würde ich mich vielleicht für einen gemeinen Ehemann rächen, seinen Leichnam im Schrank in sehr scharfen Rettichsud einlegen (oder in Sake – beides konserviert!) und dann weiterkassieren und die Welt sehen!

 

(1) Glasschale mit Matcha-Sahne, roten Bohnen, Matcha-Eis. Muss man probieren. (2) Pikachus in Pachinkos. Mehrere Reihen kleiner gelber Pokemons in Spielautomaten. Für 100 Yen ist man dabei. (3) Ein winziger Garten mit Kiefer, Gräsern, Trittsteinen, dahinter ein Nadelöhr von einem Häuschen. Der Nadelmacher ist der Letzte seiner Art. © aviso

 

Tee heilt inneres Wund-Sein von der Welt

In die Welt hinein trägt Japan als große modische Food-nami – ok, das ist kein Wort, aber mein wöchentlicher Japanisch- Unterricht regt an zur Neubildungen – also eine Lebensmittel-Welle ist der fermentierte, grüne, pulverisierte Matcha-Tee.

Zeremoniell und on the go. Kalt und in Plastikflaschen, mit viel Milch gebrüht und wenn überhaupt mit wenig Zucker, aus Rosenblättern mit Salz versetzt, zum Gelee verfestigt. Tee heilt äußere Wunden und inneres Wund-Sein von der Welt. Am ehesten vereinigt all diese Fähigkeiten der Grüne Tee in sich, der zu feinem Pulver gemahlen, nicht nur intensiven Geschmack von Wiesenheu zu nussig-zart, verspielt und leicht honigsüß entfaltet, sondern Marvels Wutbürger Hulk ob seiner leuchtenden grünen Farbe vor Neid erblassen ließe. Wenn er so daherkommt, der grüne Tee, dann heißt er Matcha und von Schokowaffel KitKat über Sandkuchen und Eiscreme färbt er alles im Teint der Wicked Witch of the West. In Kyoto, der Stadt, die an zahlreichen japanische Traditionen festhält, gibt es das Matcha-Haus "Tsujiri", das sowohl grüne Nudeln als auch grünes Eis in allen Variationen serviert.

Mit meinen Mitstipendiaten machte ich mich auf kulinarische Mission und fand: Schmunzeln, Irritation und Erstaunen. Thomas Köner, Medienkünstler und mit Audio-und Video-Installationen sowie elektronischer Musik befasst, wollte Matcha-Eis probieren, Daniela Hoferer, Meisterin der Stickkünste und damit per Nadelspitze an die Oberfläche gebrachter Beobachtungen, und ich wagten uns in die "grüne Hölle", um Thomas zu begleiten. Wir fanden matchagefärbte Sahne, Matcha-Eisparfait, Matcha-Glibberwürfel, gelierte Reiskügelchen, geschälte Kastanien, grünen Lebkuchen und rote Bohnen in unseren Eisflöten.

Vorher wurde warmer Tee – zu unserer Überraschung vollmundig und eher bräunlich – gereicht. Die Pracht dieser Eisbecher ist im Ganzen mehr der Optik überlassen. Mir schmeckte meine seltsame Mischung gut, Daniela fand eben den Grad der Gemischtheit eine ziemliche Herausforderung und Thomas, der es gewohnt ist, multimedial zu jonglieren, hielt sich tapfer bei diesem wilden Tanz auf den Geschmacksrezeptoren. Ich musste immer wieder an das Bild japanischer Taiko-Trommelspieler denken, die mit kurzen Holzklöppeln auf ihre festverankerten Trommeln schlagen. So führte sich diese Speise – trotz aller geschmacklichen Milde und Vereinzelung – in mir auf. "Überfordernd" war daher mein Urteil, doch auch "köstlich amüsiert", schließlich hatten drei Langnasen sich alles Grün-Sein hinter den Ohren nun weggefuttert. Matcha, die Herrin der Teepulver, genieße ich täglich aufgeschäumt mit Sojamilch.

 

Alles bittet einen vorsichtig zu sein und wünscht Glück auf allen Wegen

Das Wetter kann einem zu schaffen machen. Es ist sehr heiß und dauerschwül, da es an manchen Tagen ohne Unterbrechung regnet. Alle versichern einem, das wäre eine Ausnahme, doch wenn man die unzähligen Regencapes und wunderschönen Regenschirme sieht, die es in edlen Department Stores gibt, ahnt man, dass das eine Wahrnehmungssache ist. Feucht ist es. Und der Entenfluss Kamogawa fliesst zum Teil angeschwollen zu einem reißenden Strom. Da ich noch nicht im Kaiserpalast war und auch eine richtige Tee- und Badehaus-Zeremonie ausstehen, kann ich nur berichten, was das Herumstreifen in einer anderen Welt mit sich bringt: Verlockungen für den Gaumen, darunter schwarzes Sesameis und fettiger Lachs; neue Aufmerksamkeiten gegenüber der Sprache und Geboten der Höflichkeit; und die Entdeckung der eigenen Toleranz für dauernde Beschallung. Jede Rolltreppe, jeder Lift, jeder Stand in der Drogerieabteilung hat versteckte Lautsprecher. Alles spricht mit einem, bittet einen vorsichtig zu sein, wünscht einen guten Tag, einen perfekten Teint und Glück auf allen Wegen.

Mit meiner Mitstipendiatin Daniela Hoferer, einer Stickkünstlerin aus Dresden, die sich mehrere Termine mit einer bekannten, hoch verehrten Stickmeisterin organisieren konnte, bin ich gestern umhergewandert und wir haben neben drei Shinto-Schreinen, eingebettet in die lebhaften Einkaufsarkaden und allerlei Tieren gewidmet, einen alten Nadelmacher aufgesucht. Diese besonderen Sticknadeln, die Seidengarn durch Kimonostoffe ziehen, sind von Hand gefertigt und einzigartig. Er, der Nadelmacher an der Sanjo dori (Sanjostraße) hat einen prächtigen kleinen Garten vor seinem Häuschen, selbst wie ein winziges Nadelöhr in dieser Welt. Und seine Auswahl ist so fein und zart, dass man nicht atmen möchte auf die Auslage, weil man fürchtet, die Ordnung durcheinander zu bringen. Und Ordnung, die ist wichtig, denn die von ihr ausgehende Harmonie ist ein Grundbedürfnis in Japan.

 

          

(1) Nora Gomringer mit hellem Helm. Das Foto zeigt die obere Gesichtshälfte. (2) Die Kalligraphiemappe mit dem Tablett und seinen verschiedenen Fächern für Pinsel, Tintenstein und Reibstein. Jedes Schulkind hat eine in Japan. (3) Kalligraphiestunde mit Stickkünstlerin Daniela Hoferer, Journalistin Eva-Maria Koskinen und Filmemacher Jonas Rothlaender. Die Stipendiaten sitzen an einem Holztisch und schreiben ein großes japanisches Schriftzeichen auf Papier. © aviso


Land der Leere und des Genusses

Bei allen Beobachtungen fürchte ich ständig, dass jedes Gefühl, das ich für Land und Leute entwickle, auf massiven Fehlannahmen meinerseits beruht. Japan ist widersprüchlich. Geburtsland der tausend Yokai-Geister und damit perfekten Vorlagen für die nun allseits gejagten Pokemons, Land der Meikos, Geishas, der Zehenschuhe und Holzsohlen-FlipFlops. Land der Ginko-Bäume und des Marderhundes Tanuki, der dickbäuchig und aus Keramik vor jeder Haustür seine Aufwartung macht. Land der Abstraktion und Fülle, der Leere und des Genusses. Hier kann jeder über das Essen sprechen und tut es gerne. Viel Geld wird für die Ernährung der Familie auSgegeben und wenn man essen geht, schont man den Geldbeutel bisweilen, weil die beschriebenen Suppen schon mit einem Teller satt und froh machen. Kleine Kinder sind hier schon Feinschmecker und es gibt wenig Radau bei abenteuerlichem Gemüse oder Innereien auf dem Speiseplan. Höchste Sensibilitäten und dann wieder Derbheiten, auch ziemlich spannenden japanischen Hip Hop im Gegensatz zu sehr seichtem – oft Englisch gesungenen – Pop Musik, gibt es und eigentlich immer viel zu viel, was einen vom Schreibtisch wegzerrt und sich einem vor dem Blick postiert.

Erst im ausgehenden 19. Jahrhundert kam es zu Westkontakten. Bis dahin war der gelebte Isolationismus nahe einer religiösen Auffassung. Viele spanische und portugiesische Seefahrer mussten bei Betreten japanischer Lande ihr Leben lassen, denn niemand ging aus dem Land, und niemand sollte kommen, das Gleichgewicht zu stören. Als dann Kaiser Meji feststellen musste, dass seine Welt dem Rest der Welt um Jahrhunderte hinterherhinkte, wurden Emissäre auSgesandt, die Erfahrungen und Wissen auf den Gebieten der Medizin, des Rechts, der modernen Lebensführung, Kleidung und der Politik zurückbrachten. In kürzester Zeit wurde Japan eine Weltmacht, die Krieg führen konnte und es tat und nachdem alles zerstört war, in nur 12 Jahren wieder auferstand und zur drittgrößten Wirtschaftsmacht aufgestiegen ist. Japan ist kein Land für das direkte Schau-mich-an, es ist für den Seitenblick, die Überlegung, die Struktur im Chaos, die unbedingte Schönheit. Warum-Fragen werden nicht geschätzt. Man versucht, Interesse in den Menschen zu wecken, damit sie selbst nachforschen und ein Warum keine Inbalace mehr herstellen kann. Man geht hier auf Nummer sicher. Deshalb schließe ich mit einem Porträt mit meinem persönlichen Erdbebenschutzhelm, den ich im Schrank nach meiner Anreise entdeckt habe. Erdbeben gibt es täglich, nur spricht man nicht darüber. Sie wissen jetzt auch, warum.

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