Ahmeed, mein libyscher Freund
An der Mittelmeerküste im Nordosten Tunesiens liegt der Ort Sousse, eine Stadt, deren Geschichte weit zurückreicht, bis in die Zeit der Phönizier. Wenn ich an Sousse denke, erscheint vor meinem inneren Auge die gewaltige, zwei Kilometer lange Stadtmauer, welche die Medina umgibt, und mir ist, als hörte ich die Musik von Tamer Hosny, des ägyptischen Musikers, der unter den Einheimischen in Sousse äußerst beliebt ist. Der Ort war wegen seiner weißen Strände und des kristallblauen Mittelmeeres lange Zeit ein begehrtes Urlaubsziel für Reisende aus aller Welt. Im Jahr 2010 war ich für zwei Wochen dort, in einem der Resorts des nahegelegenen Port El-Kantaoui, die damals noch gut besucht waren und einem bizarren Schmelztiegel glichen. Hier verbrachten Deutsche ihren Urlaub, Franzosen, Italiener, aber auch Russen, wohlhabende Marokkaner, Ägypter und Libyer. Die Abendveranstaltungen direkt neben den beiden Pools inmitten der freizügigen Hotelanlage waren meist gut besucht, auch wenn das Programm, das von jungen Leuten einer staatlichen tunesischen Theaterkompanie dargeboten wurde, reiner Klamauk war.
Ich weiß nicht mehr, wie es sich ergab, aber eines Abends lernte ich während einer dieser Darbietungen Ahmeed kennen, einen 35-jährigen Libyer. Er war leger gekleidet, sprach gutes Englisch, und seine Stimme hatte dabei einen angenehmen, freundlichen Klang. Da er dunkelhäutig war, vermutete ich, dass seine Vorfahren aus südlicheren Regionen des afrikanischen Kontinents nach Libyen eingewandert sein mussten. Er sah nicht so aus, wie ich mir zuvor einen typischen Libyer vorgestellt hatte. Aber was sind schon die Bilder, die man sich von Menschen und Ländern macht, die man nicht kennt?
Ahmeed und ich unterhielten uns über die Vorzüge des Hotels, über die Schönheit des Meeres, über das Wetter und andere allgemeine Themen, mit deren Hilfe man ein tiefsinniges Gespräch einleiten kann, sofern man das will. Er war begeistert, als ich erzählte, dass ich aus Bayern stamme, denn von München, dem Oktoberfest und dem FC Bayern hatte er schon viel gehört. Wir ließen die Politik beiseite und sprachen auch nicht über die Situation Libyens, wo damals noch Muammar al-Gaddafi mit harter Hand regierte. Aber wir waren uns einig darin, dass die Länder rund um das Mittelmeer dringend mehr Kooperation benötigten, wirtschaftlichen und kulturellen Austausch, und wir waren beide überzeugt davon, dass dies der beste Weg sei in eine gute gemeinsame Zukunft.
Am fünften oder sechsten Abend unserer Bekanntschaft stellte mir Ahmeed ein paar ältere Herren vor, auch Libyer, wobei mir nicht ganz klar wurde, ob er gemeinsam mit ihnen gereist war oder ob er sie selbst erst im Resort kennengelernt hatte. Sie sahen schon eher so aus, wie ich mir echte Libyer vorgestellt hatte: Sie trugen wallende, weiße Gewänder, gaben sich wortkarg, und ihre Gesichter schienen gegerbt von Sonne, Sand und Wind. Als wir gerade in einer Runde beisammen saßen und den herrlichen, frischen Pfefferminztee tranken, der es mir schon auf meinen früheren Reisen durch Marokko angetan hatte, gesellte sich noch ein Libyer zu uns, ein vielleicht 30-jähriger Mann namens Hassan. Er war schlank, braungebrannt, trug ein tarngrünes Poloshirt und ein Goldkettchen um den Hals. Mir fiel sofort ein gewisses Blitzen in seinen Augen auf, das mir unangenehm war. Der Fanatismus des Salafisten, wie ich heute weiß.
Schnell versuchte er, das Gespräch an sich zu reißen und in die von ihm gewünschte Richtung zu lenken. „Ah, aus Deutschland“, sagte er süffisant, als Ahmeed ihm meine Herkunft verriet. „Ich habe lange Zeit in Hildesheim gelebt“, erzählte er. „Ihr Deutsche habt leider noch nichts verstanden. Immer an der Seite Amerikas und der Zionisten.“ Ich sah Ahmeed entsetzt an, und er fiel Hassan schnell ins Wort. „No politics“, sagte er, und ich pflichtete ihm bei. An dieser Art Gespräch hatte ich keinerlei Interesse. Ahmeed und Hassan tauschten ein paar Worte auf Arabisch aus, die ich nicht verstand, aber sie klangen nicht sehr freundlich. Die älteren Libyer starrten in die Nacht, als ginge sie das alles nichts an. Sie kamen mir plötzlich wie Mumien vor in ihren weißen Gewändern, wie seltsame Sandfiguren aus der Wüste.
An diesem Abend ging ich zeitig schlafen, Ahmeed und ich verabschiedeten uns gewohnt herzlich, und mit einem Blick bestätigten wir uns unsere Meinung über Hassan. Am nächsten Morgen zog es mich früh schon an den Strand, es war ein herrlicher Tag, man hatte einen ungewöhnlich weiten Blick über das Meer, der Himmel war klar wie Glas und blau wie ein Diamant. Fast meinte ich, die zu Italien gehörende Insel Lampedusa zu erkennen, die nicht weit vor der tunesischen Küste liegt und damals in aller Munde war, weil beinahe jede Nacht Flüchtlinge versuchten, auf kleinen, meist völlig untauglichen Booten vom Festland aus dorthin zu gelangen, um sich auf das Gebiet der Europäischen Union zu flüchten. Einige der Boote sanken von Zeit zu Zeit, es kam immer wieder zu unfassbaren Tragödien mit vielen Opfern, Männern, Frauen und Kindern. Und diejenigen, die es schafften, wurden auf Lampedusa nicht gerade gastfreundlich empfangen, im Flüchtlingslager herrschten entsetzliche Zustände. Als ich darüber nachdachte, bekam ich ein schlechtes Gewissen, hier an diesem herrlichen Strand meinen Urlaub zu verbringen, während andere um ihre Zukunft und um ihr Leben kämpften. Aber hatten wir uns nicht längst alle an diese Widersprüche gewöhnt?
Um mich zu erfrischen, schwamm ich ein wenig im Meer, und dabei fing ich mir irgend etwas im rechten Ohr ein, ich konnte darauf mit einem Mal nichts mehr hören. Zunächst dachte ich, es handele sich nur um Meerwasser, aber das ganze Schütteln und Beugen brachte keine Besserung. Also versuchte ich, das Problem zu ignorieren, doch es wurde auch bis zum Abend nicht besser, es störte mich ungemein, mein Kopf fühlte sich an wie in Watte gepackt. Als ich Ahmeed traf und ihm davon erzählte, meinte er, das sei kein Problem, es gebe eine medizinische Station im Resort, und er führte mich dorthin. Nur eine einsame Schwester hatte gerade Dienst, sie sagte, sie würde einen Arzt aus der Stadt holen lassen. Das war mir unangenehm, wegen so einer Lappalie wollte ich niemanden eigens hierher bemühen, doch Ahmeed bestand darauf. Fünfzehn Minuten später war der Arzt da. Der überaus freundliche, ältere Herr spritzte mir eine Lösung ins Ohr, wartete einen Moment und sog dann mit einer Plastikspritze den Dreck aus meinem Gehörgang. Und siehe da: Es war ein herrliches Gefühl, wieder alles hören zu können, und ich dankte dem Arzt und Ahmeed für ihre Hilfe.
Stadtzentrum von Sousse mit Ribat
Mein Freund und ich gingen zurück auf den Platz, wo wir Hassan und die anderen Libyer antrafen. Hassan war sichtlich in Angriffslaune. Er erzählte völlig in Rage etwas von einem Zwischenfall in Tel Aviv, ein Palästinenser hatte einen israelischen Polizisten mit einem Messer attackiert, der Mann wurde erschossen. „Euch interessiert das nicht“, sagte Hassan zornig. „Die Palästinenser können aber nichts für euren Holocaust! Die Juden bestehlen und vergiften die Moslems, und die Amerikaner helfen ihnen dabei. Aber Israel wird untergehen, ihr werdet schon sehen.“ Ahmeed versuchte, Hassan in die Schranken zu weisen, doch der ließ eine hasserfüllte Tirade nach der anderen los. Die Szenerie wirkte surreal, die feuchtwarme Luft vom Meer und der sternenklare Himmel, die Theatergruppe mit ihrer Comedy Show und Hassan mit seinem siedenden Hass. Ich sagte Ahmeed, dass es für mich Zeit sei nach oben zu gehen, und er verstand sogleich und begleitete mich in die Hotellobby. „Ihr werdet schon sehen, die Juden werden nicht ungeschoren davonkommen“, rief Hassan uns auf Deutsch noch nach.
In der Lobby offenbarte mir Ahmeed, dass es leider sein letzter Abend im Resort sei. Er müsse überraschend aus familiären Gründen abreisen. Das versetzte mir einen Stich ins Herz, obwohl wir uns erst so kurz kannten. „Komm mich in Libyen besuchen, mein Freund“, sagte er. „Es ist ein wunderbares Land, voller alter Heiligtümer und archäologischer Schätze. Du kannst gut und sicher reisen, und ich werde dich begleiten. Du wirst zu Gast sein in meiner Familie in Bengasi.“ Er gab mir seine Mobilfunknummer, damit wir in Kontakt bleiben könnten. Ich dankte ihm herzlich für die Einladung und sagte, dass ich mir diese Reise sehr gut vorstellen könne. Ich sprach die Begegnung mit Hassan an, doch Ahmeed meinte, ich solle ihn schnell vergessen. Es gebe einige dumme Fanatiker wie ihn in Libyen, aber sie würden immer eine unbedeutende Minderheit bleiben.
Dann nahm Ahmeed ein kleines Päckchen aus seiner Tasche und überreichte es mir. „Das ist ein Geschenk für dich“, sagte er. „Öffne es!“ Erstaunt wickelte ich das Papier auf, und ein kleiner Teller kam zum Vorschein, in den arabische Schriftzeichen eingraviert waren. Ahmeed erklärte mir, was sie bedeuteten: „Hier steht: Meinem Freund Stefan im Jahr 2010.“ Ich war überwältigt und gerührt von Ahmeeds Freundlichkeit, und ich erwiderte seine Einladung und sagte, falls er die Möglichkeit zu einer Reise nach Deutschland habe, könne er jederzeit bei mir wohnen. Wir gaben uns die Hand und versprachen uns, in Kontakt zu bleiben. Sodann trennten wir uns.
Ohne Ahmeed mied ich die nächsten Abende den Platz, wo die Libyer saßen, und bald ging auch meine Zeit in Port El-Kantaoui zu Ende. Als ich wieder in Deutschland war, schickte ich Ahmeed eine SMS, doch ich erhielt keine Antwort. Kurze Zeit später begann mit der Revolution in Tunesien der Arabische Frühling, die Welle von Aufständen in der arabischen Welt, die alles verändern sollte. Auch in Libyen kam es zu Demonstrationen, Gaddafis Scharfschützen schossen in die Menge, es gab viele Tote, viel Blut wurde vergossen, bis der Diktator mithilfe französischer und amerikanischer Luftangriffe gestürzt werden konnte. Gaddafi floh und wurde schließlich in seinem Versteck in einer Betonröhre eines Kanals in seiner Heimatstadt Sirte entdeckt. Er endete auf so brutale Weise, wie er geherrscht hatte – durch einen Kopfschuss. Wieder versuchte ich Ahmeed zu erreichen, doch vergeblich.
Der Sturz Gaddafis führte nicht zu Frieden und Demokratie in Libyen. Eine Gesellschaft, die jahrzehntelang unter einer Diktatur gelebt hatte, stürzte in einen Abgrund aus Krieg, Vergewaltigung, Sklaverei und Terror. Regierungstruppen, Milizen und Islamisten gingen gnadenlos gegeneinander vor. Andere Kriege brachen aus, in Syrien und im Jemen, und die Probleme von Libyen gerieten darüber in Vergessenheit.
Von Ahmeed habe ich nie wieder etwas gehört. Aber ich denke oft an ihn. Wo mag er sein? Musste er sich für eine Seite entscheiden und zur Waffe greifen, musste er töten, um in dieser Welt des entfesselten Grauens zu überleben? Oder konnte er mit einem dieser Boote fliehen, über das so liebliche, aber lebensgefährliche Mittelmeer? Steht noch das Haus seiner Familie in Bengasi, wo er mich hatte beherbergen wollen? Lebt Ahmeed noch?
Auch an Hassan denke ich. Wer weiß, vielleicht hat er sich einer der zahlreichen Terrormilizen angeschlossen oder sogar dem „Islamischen Staat“. Womöglich hat er sein Poloshirt gegen eine Tarnjacke eingetauscht, hat sich ein Mädchen als Sexsklavin genommen oder anderen Menschen mit einem Säbel den Kopf abgeschnitten. Und beim Einschlafen ergötzt er sich jeden Abend an der Vorstellung, dass Israel und Amerika im Höllenschlund untergehen werden. Vielleicht ist es aber auch völlig anders, Menschen können sich ändern. Mit etwas Glück ist Hassan etwas widerfahren, was ihn abgebracht hat von seinem unseligen Hass. Vielleicht hat ihm das Schicksal etwas gezeigt, was ihn wieder Respekt vor dem Anderen und dem Leben gelehrt hat. Vielleicht hat er seine Meinung geändert. Auch wenn es nicht allzu wahrscheinlich ist – ausgeschlossen ist es nicht.
In Tunesien übernahmen nach der Revolution Islamisten die Macht. Sie versuchten, das öffentliche Leben nach ihren Vorstellungen umzukrempeln, der Traum von Freiheit drohte von einer gnadenlosen Ideologie erstickt zu werden. Doch die demokratischen Kräfte des Landes sind tapfer und stark. Sie jagten die Islamisten wieder aus dem Amt und erkämpften eine liberale Verfassung, die einzigartig ist in der arabischen Welt. Das gefällt nicht allen. Im Sommer 2015 verübte ein islamistischer Terrorist am Strand von Port El-Kantaoui ein Massaker und tötete 39 Menschen. Ich hätte zu dem Zeitpunkt auch dort liegen können, auf einer Liege am weißen Strand, mit einem Buch in der Hand. Auf den Fernsehbildern erkannte ich das Hotel.
Der in Weiden geborene Stefan Wirner lebt seit 1990 als Journalist und Autor in Berlin. Seit Januar 2012 arbeitet er als Redaktionsleiter der „drehscheibe“, des Magazins für Lokaljournalisten der Bundeszentrale für politische Bildung. Wirner schreibt Glossen für verschiedene Zeitungen und Artikel, u.a. für Amnesty International. Als Autor von drei „cut-up-Romanen“ (Verbrecher Verlag, Berlin) und Gedichten (Love to Go, 2011) ist Stefan Wirner belletristisch hervorgetreten. Als Lyriker sieht er sich in der Tradition des französischen surrealistischen Dichters René Char.
Ahmeed, mein libyscher Freund>
An der Mittelmeerküste im Nordosten Tunesiens liegt der Ort Sousse, eine Stadt, deren Geschichte weit zurückreicht, bis in die Zeit der Phönizier. Wenn ich an Sousse denke, erscheint vor meinem inneren Auge die gewaltige, zwei Kilometer lange Stadtmauer, welche die Medina umgibt, und mir ist, als hörte ich die Musik von Tamer Hosny, des ägyptischen Musikers, der unter den Einheimischen in Sousse äußerst beliebt ist. Der Ort war wegen seiner weißen Strände und des kristallblauen Mittelmeeres lange Zeit ein begehrtes Urlaubsziel für Reisende aus aller Welt. Im Jahr 2010 war ich für zwei Wochen dort, in einem der Resorts des nahegelegenen Port El-Kantaoui, die damals noch gut besucht waren und einem bizarren Schmelztiegel glichen. Hier verbrachten Deutsche ihren Urlaub, Franzosen, Italiener, aber auch Russen, wohlhabende Marokkaner, Ägypter und Libyer. Die Abendveranstaltungen direkt neben den beiden Pools inmitten der freizügigen Hotelanlage waren meist gut besucht, auch wenn das Programm, das von jungen Leuten einer staatlichen tunesischen Theaterkompanie dargeboten wurde, reiner Klamauk war.
Ich weiß nicht mehr, wie es sich ergab, aber eines Abends lernte ich während einer dieser Darbietungen Ahmeed kennen, einen 35-jährigen Libyer. Er war leger gekleidet, sprach gutes Englisch, und seine Stimme hatte dabei einen angenehmen, freundlichen Klang. Da er dunkelhäutig war, vermutete ich, dass seine Vorfahren aus südlicheren Regionen des afrikanischen Kontinents nach Libyen eingewandert sein mussten. Er sah nicht so aus, wie ich mir zuvor einen typischen Libyer vorgestellt hatte. Aber was sind schon die Bilder, die man sich von Menschen und Ländern macht, die man nicht kennt?
Ahmeed und ich unterhielten uns über die Vorzüge des Hotels, über die Schönheit des Meeres, über das Wetter und andere allgemeine Themen, mit deren Hilfe man ein tiefsinniges Gespräch einleiten kann, sofern man das will. Er war begeistert, als ich erzählte, dass ich aus Bayern stamme, denn von München, dem Oktoberfest und dem FC Bayern hatte er schon viel gehört. Wir ließen die Politik beiseite und sprachen auch nicht über die Situation Libyens, wo damals noch Muammar al-Gaddafi mit harter Hand regierte. Aber wir waren uns einig darin, dass die Länder rund um das Mittelmeer dringend mehr Kooperation benötigten, wirtschaftlichen und kulturellen Austausch, und wir waren beide überzeugt davon, dass dies der beste Weg sei in eine gute gemeinsame Zukunft.
Am fünften oder sechsten Abend unserer Bekanntschaft stellte mir Ahmeed ein paar ältere Herren vor, auch Libyer, wobei mir nicht ganz klar wurde, ob er gemeinsam mit ihnen gereist war oder ob er sie selbst erst im Resort kennengelernt hatte. Sie sahen schon eher so aus, wie ich mir echte Libyer vorgestellt hatte: Sie trugen wallende, weiße Gewänder, gaben sich wortkarg, und ihre Gesichter schienen gegerbt von Sonne, Sand und Wind. Als wir gerade in einer Runde beisammen saßen und den herrlichen, frischen Pfefferminztee tranken, der es mir schon auf meinen früheren Reisen durch Marokko angetan hatte, gesellte sich noch ein Libyer zu uns, ein vielleicht 30-jähriger Mann namens Hassan. Er war schlank, braungebrannt, trug ein tarngrünes Poloshirt und ein Goldkettchen um den Hals. Mir fiel sofort ein gewisses Blitzen in seinen Augen auf, das mir unangenehm war. Der Fanatismus des Salafisten, wie ich heute weiß.
Schnell versuchte er, das Gespräch an sich zu reißen und in die von ihm gewünschte Richtung zu lenken. „Ah, aus Deutschland“, sagte er süffisant, als Ahmeed ihm meine Herkunft verriet. „Ich habe lange Zeit in Hildesheim gelebt“, erzählte er. „Ihr Deutsche habt leider noch nichts verstanden. Immer an der Seite Amerikas und der Zionisten.“ Ich sah Ahmeed entsetzt an, und er fiel Hassan schnell ins Wort. „No politics“, sagte er, und ich pflichtete ihm bei. An dieser Art Gespräch hatte ich keinerlei Interesse. Ahmeed und Hassan tauschten ein paar Worte auf Arabisch aus, die ich nicht verstand, aber sie klangen nicht sehr freundlich. Die älteren Libyer starrten in die Nacht, als ginge sie das alles nichts an. Sie kamen mir plötzlich wie Mumien vor in ihren weißen Gewändern, wie seltsame Sandfiguren aus der Wüste.
An diesem Abend ging ich zeitig schlafen, Ahmeed und ich verabschiedeten uns gewohnt herzlich, und mit einem Blick bestätigten wir uns unsere Meinung über Hassan. Am nächsten Morgen zog es mich früh schon an den Strand, es war ein herrlicher Tag, man hatte einen ungewöhnlich weiten Blick über das Meer, der Himmel war klar wie Glas und blau wie ein Diamant. Fast meinte ich, die zu Italien gehörende Insel Lampedusa zu erkennen, die nicht weit vor der tunesischen Küste liegt und damals in aller Munde war, weil beinahe jede Nacht Flüchtlinge versuchten, auf kleinen, meist völlig untauglichen Booten vom Festland aus dorthin zu gelangen, um sich auf das Gebiet der Europäischen Union zu flüchten. Einige der Boote sanken von Zeit zu Zeit, es kam immer wieder zu unfassbaren Tragödien mit vielen Opfern, Männern, Frauen und Kindern. Und diejenigen, die es schafften, wurden auf Lampedusa nicht gerade gastfreundlich empfangen, im Flüchtlingslager herrschten entsetzliche Zustände. Als ich darüber nachdachte, bekam ich ein schlechtes Gewissen, hier an diesem herrlichen Strand meinen Urlaub zu verbringen, während andere um ihre Zukunft und um ihr Leben kämpften. Aber hatten wir uns nicht längst alle an diese Widersprüche gewöhnt?
Um mich zu erfrischen, schwamm ich ein wenig im Meer, und dabei fing ich mir irgend etwas im rechten Ohr ein, ich konnte darauf mit einem Mal nichts mehr hören. Zunächst dachte ich, es handele sich nur um Meerwasser, aber das ganze Schütteln und Beugen brachte keine Besserung. Also versuchte ich, das Problem zu ignorieren, doch es wurde auch bis zum Abend nicht besser, es störte mich ungemein, mein Kopf fühlte sich an wie in Watte gepackt. Als ich Ahmeed traf und ihm davon erzählte, meinte er, das sei kein Problem, es gebe eine medizinische Station im Resort, und er führte mich dorthin. Nur eine einsame Schwester hatte gerade Dienst, sie sagte, sie würde einen Arzt aus der Stadt holen lassen. Das war mir unangenehm, wegen so einer Lappalie wollte ich niemanden eigens hierher bemühen, doch Ahmeed bestand darauf. Fünfzehn Minuten später war der Arzt da. Der überaus freundliche, ältere Herr spritzte mir eine Lösung ins Ohr, wartete einen Moment und sog dann mit einer Plastikspritze den Dreck aus meinem Gehörgang. Und siehe da: Es war ein herrliches Gefühl, wieder alles hören zu können, und ich dankte dem Arzt und Ahmeed für ihre Hilfe.
Stadtzentrum von Sousse mit Ribat
Mein Freund und ich gingen zurück auf den Platz, wo wir Hassan und die anderen Libyer antrafen. Hassan war sichtlich in Angriffslaune. Er erzählte völlig in Rage etwas von einem Zwischenfall in Tel Aviv, ein Palästinenser hatte einen israelischen Polizisten mit einem Messer attackiert, der Mann wurde erschossen. „Euch interessiert das nicht“, sagte Hassan zornig. „Die Palästinenser können aber nichts für euren Holocaust! Die Juden bestehlen und vergiften die Moslems, und die Amerikaner helfen ihnen dabei. Aber Israel wird untergehen, ihr werdet schon sehen.“ Ahmeed versuchte, Hassan in die Schranken zu weisen, doch der ließ eine hasserfüllte Tirade nach der anderen los. Die Szenerie wirkte surreal, die feuchtwarme Luft vom Meer und der sternenklare Himmel, die Theatergruppe mit ihrer Comedy Show und Hassan mit seinem siedenden Hass. Ich sagte Ahmeed, dass es für mich Zeit sei nach oben zu gehen, und er verstand sogleich und begleitete mich in die Hotellobby. „Ihr werdet schon sehen, die Juden werden nicht ungeschoren davonkommen“, rief Hassan uns auf Deutsch noch nach.
In der Lobby offenbarte mir Ahmeed, dass es leider sein letzter Abend im Resort sei. Er müsse überraschend aus familiären Gründen abreisen. Das versetzte mir einen Stich ins Herz, obwohl wir uns erst so kurz kannten. „Komm mich in Libyen besuchen, mein Freund“, sagte er. „Es ist ein wunderbares Land, voller alter Heiligtümer und archäologischer Schätze. Du kannst gut und sicher reisen, und ich werde dich begleiten. Du wirst zu Gast sein in meiner Familie in Bengasi.“ Er gab mir seine Mobilfunknummer, damit wir in Kontakt bleiben könnten. Ich dankte ihm herzlich für die Einladung und sagte, dass ich mir diese Reise sehr gut vorstellen könne. Ich sprach die Begegnung mit Hassan an, doch Ahmeed meinte, ich solle ihn schnell vergessen. Es gebe einige dumme Fanatiker wie ihn in Libyen, aber sie würden immer eine unbedeutende Minderheit bleiben.
Dann nahm Ahmeed ein kleines Päckchen aus seiner Tasche und überreichte es mir. „Das ist ein Geschenk für dich“, sagte er. „Öffne es!“ Erstaunt wickelte ich das Papier auf, und ein kleiner Teller kam zum Vorschein, in den arabische Schriftzeichen eingraviert waren. Ahmeed erklärte mir, was sie bedeuteten: „Hier steht: Meinem Freund Stefan im Jahr 2010.“ Ich war überwältigt und gerührt von Ahmeeds Freundlichkeit, und ich erwiderte seine Einladung und sagte, falls er die Möglichkeit zu einer Reise nach Deutschland habe, könne er jederzeit bei mir wohnen. Wir gaben uns die Hand und versprachen uns, in Kontakt zu bleiben. Sodann trennten wir uns.
Ohne Ahmeed mied ich die nächsten Abende den Platz, wo die Libyer saßen, und bald ging auch meine Zeit in Port El-Kantaoui zu Ende. Als ich wieder in Deutschland war, schickte ich Ahmeed eine SMS, doch ich erhielt keine Antwort. Kurze Zeit später begann mit der Revolution in Tunesien der Arabische Frühling, die Welle von Aufständen in der arabischen Welt, die alles verändern sollte. Auch in Libyen kam es zu Demonstrationen, Gaddafis Scharfschützen schossen in die Menge, es gab viele Tote, viel Blut wurde vergossen, bis der Diktator mithilfe französischer und amerikanischer Luftangriffe gestürzt werden konnte. Gaddafi floh und wurde schließlich in seinem Versteck in einer Betonröhre eines Kanals in seiner Heimatstadt Sirte entdeckt. Er endete auf so brutale Weise, wie er geherrscht hatte – durch einen Kopfschuss. Wieder versuchte ich Ahmeed zu erreichen, doch vergeblich.
Der Sturz Gaddafis führte nicht zu Frieden und Demokratie in Libyen. Eine Gesellschaft, die jahrzehntelang unter einer Diktatur gelebt hatte, stürzte in einen Abgrund aus Krieg, Vergewaltigung, Sklaverei und Terror. Regierungstruppen, Milizen und Islamisten gingen gnadenlos gegeneinander vor. Andere Kriege brachen aus, in Syrien und im Jemen, und die Probleme von Libyen gerieten darüber in Vergessenheit.
Von Ahmeed habe ich nie wieder etwas gehört. Aber ich denke oft an ihn. Wo mag er sein? Musste er sich für eine Seite entscheiden und zur Waffe greifen, musste er töten, um in dieser Welt des entfesselten Grauens zu überleben? Oder konnte er mit einem dieser Boote fliehen, über das so liebliche, aber lebensgefährliche Mittelmeer? Steht noch das Haus seiner Familie in Bengasi, wo er mich hatte beherbergen wollen? Lebt Ahmeed noch?
Auch an Hassan denke ich. Wer weiß, vielleicht hat er sich einer der zahlreichen Terrormilizen angeschlossen oder sogar dem „Islamischen Staat“. Womöglich hat er sein Poloshirt gegen eine Tarnjacke eingetauscht, hat sich ein Mädchen als Sexsklavin genommen oder anderen Menschen mit einem Säbel den Kopf abgeschnitten. Und beim Einschlafen ergötzt er sich jeden Abend an der Vorstellung, dass Israel und Amerika im Höllenschlund untergehen werden. Vielleicht ist es aber auch völlig anders, Menschen können sich ändern. Mit etwas Glück ist Hassan etwas widerfahren, was ihn abgebracht hat von seinem unseligen Hass. Vielleicht hat ihm das Schicksal etwas gezeigt, was ihn wieder Respekt vor dem Anderen und dem Leben gelehrt hat. Vielleicht hat er seine Meinung geändert. Auch wenn es nicht allzu wahrscheinlich ist – ausgeschlossen ist es nicht.
In Tunesien übernahmen nach der Revolution Islamisten die Macht. Sie versuchten, das öffentliche Leben nach ihren Vorstellungen umzukrempeln, der Traum von Freiheit drohte von einer gnadenlosen Ideologie erstickt zu werden. Doch die demokratischen Kräfte des Landes sind tapfer und stark. Sie jagten die Islamisten wieder aus dem Amt und erkämpften eine liberale Verfassung, die einzigartig ist in der arabischen Welt. Das gefällt nicht allen. Im Sommer 2015 verübte ein islamistischer Terrorist am Strand von Port El-Kantaoui ein Massaker und tötete 39 Menschen. Ich hätte zu dem Zeitpunkt auch dort liegen können, auf einer Liege am weißen Strand, mit einem Buch in der Hand. Auf den Fernsehbildern erkannte ich das Hotel.
Der in Weiden geborene Stefan Wirner lebt seit 1990 als Journalist und Autor in Berlin. Seit Januar 2012 arbeitet er als Redaktionsleiter der „drehscheibe“, des Magazins für Lokaljournalisten der Bundeszentrale für politische Bildung. Wirner schreibt Glossen für verschiedene Zeitungen und Artikel, u.a. für Amnesty International. Als Autor von drei „cut-up-Romanen“ (Verbrecher Verlag, Berlin) und Gedichten (Love to Go, 2011) ist Stefan Wirner belletristisch hervorgetreten. Als Lyriker sieht er sich in der Tradition des französischen surrealistischen Dichters René Char.