Ludwig Ganghofers historische Romane: „Die Watzmannkinder“ V (Das neue Wesen)

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Illustration des Watzmann-Massivs als Familie, Ansichtskarte, Verleger Fritz Mühlstein in Offenbach a.M. & J.B. Rottmayer in Berchtesgaden, um 1880

Die Sage vom einst grausamen König Waze oder Wazemann, der mit seiner Frau und seinen Kindern Furcht und Schrecken im Berchtesgadener Land verbreitete, wurde schon mehrfach in Nacherzählungen bearbeitet, unter anderem von Ludwig Bechstein. Ludwig Ganghofer nutzte Motive der Watzmannsage für seinen eigenen Roman Die Martinsklause und verband sie mit der historisch belegten ersten Besiedelung Berchtesgadens durch Augustiner-Chorherren zu Beginn des 12. Jahrhunderts.

Im Rahmen seiner vier Aufenthalte im Berchtesgadener Land in den 80er-Jahren des 19. Jahrhunderts fasste Ganghofer den Entschluss, die deutsche Geschichte aus der Sicht und im Interesse der jeweils unterdrückten Minderheiten – mikrokosmisch-geographisch und stellvertretend für die allgemeinen Verhältnisse – in sieben Werken (geplant waren neun) romanhaft zu erfassen. Dabei sollten durchgängig die Schicksale der Menschen im Spannungsfeld mit den sich entwickelnden feudalen Strukturen der jeweils vereinigten klerikalen und weltlichen Macht dargestellt werden: vom Anfang des Feudalstaats vom 12. bis 15. Jahrhundert (Romane 1-4) bis zum Ende des Feudalstaats vom 16. bis 18. Jahrhundert (Romane 5-7).

Nachfolgend in loser Serie werden die sieben Romane Ludwig Ganghofers im Literaturportal Bayern inhaltlich vorgestellt.

 

Historischer Romantitel: Das neue Wesen

Historienfolge: 16. Jahrhundert, 1524-1525

Herausgabefolge (Lfd. Nr.): 1902 (4)

Die ersten radikalen Auswirkungen der Reformation mit ihren umstürzlerischen Begleitumständen im Verlauf der nachfolgenden Bauernkriege bilden den zentralen Hintergrund dieses Romans. Innerhalb des 7-teiligen Romanzyklus von Ludwig Ganghofer ist er wohl als am stärksten politisch einzustufen. Ganghofer verknüpft den geschichtlichen Hintergrund vor 500 Jahren mit einer ansonsten freien Gestaltung, die er über die Beschreibung eines der maßgeblichen Führer der Bauernaufstände im süddeutschen Raum vornimmt. Der Titel Das neue Wesen bedeutet eine Art Doppelbotschaft von Revolution – eine sich daraus ergebende Hoffnung einerseits, eine Enttäuschung hinsichtlich des Wunsches der Menschen auf eine bessere Zukunft andererseits.

Der beschriebene Bauernaufstand beginnt am 25. Mai 1525 gegen den Erzbischof von Salzburg. Die damit einhergehende Reformationsbewegung zeigt auch Auswirkungen auf den Konflikt zwischen Berchtesgaden und seinem Nachbarn Salzburg. Zahlreiche Priester verlassen die Kirche im Salzburger Land, um sich der neuen Glaubensrichtung, dem „Neuen Wesen“, anzuschließen. Ein Domprediger von Salzburg, ein Augustinermönch und sogar der Beichtvater des Erzbischofs von Salzburg treten u.a. der lutherischen Lehre bei.

Die Saat der Reformation in Salzburg-Berchtesgaden geht jedoch erst richtig auf, als der Salzburger Erzbischof die Führung der Salzburger Salzminen an Unternehmer weiter verpachtet und dabei Bergleute aus dem fernen Sachsen eingestellt werden.

Joß Fritz, ein Bundschuh-Führer aus Schwaben, erscheint im Raum Salzburg. Die Geschichte dieses Romanhelden wird mit dem tatsächlichen Ereignis der Revolution in Salzburg und Berchtesgaden allerdings nur romanhaft verwoben, der Unterdrückungsmechanismus des Fürstbischofs wird im weiteren Verlauf nachhaltig in Gang gesetzt.

Rudolf Schiestl (1878-1931): Bauernhaufen 1525, Holzschnitt

Im Roman lässt Ganghofer nach der Hinrichtung eines zum Tode verurteilten Aufständischen die Hinterbliebene, die Braut Leni – und damit ausdrücklich eine Frau –, zur historischen Größe heranwachsen. Leni gibt alle ihre Besitztümer auf, um das „Neue Wesen“ zu unterstützen. Sie glaubt an Luther als einigende Kraft für das deutsche Volk, ebenso ihr Vater, der alte Bauer Witting. Ihr Bruder Juliander sieht allerdings dem Ausgang der beginnenden Revolution schon eher skeptisch entgegen.

Ludwig Ganghofer gelingt mit diesem Roman eine Ausdifferenzierung, die den tatsächlichen Entwicklungen sehr nahekommt. Bilden die Standpunkte der Reformation zunächst eine Rechtfertigungsebene der Bauernkriege, für die die Obrigkeit auch Luther verantwortlich macht, so beginnt Luther sich im Verlauf des Jahres 1525 von den aufständischen Bauern zu distanzieren – jedoch erst zu dem Zeitpunkt, als sich die Niederlage der Bauern längst abgezeichnet hat.

Ganghofer legt mit Das neue Wesen die vom Mittelalter zur Neuzeit wechselnden Zeitumstände, die nach der Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert zuerst die Reformation und später die Zeit der Aufklärung ermöglichen sollten, historisch beeindruckend dar.

Der Roman, der mit einem gedämpften Optimismus endet, lässt zudem die Frage nach der deutschen Einheit aufkommen.

 

Widmung

Die voranstehenden Ausführungen werden Alfred Hermann Fried, geb. 11. November 1864 in Wien, gest. 4. Mai 1921 in Wien, gewidmet. Fried war verheiratet mit Bertha Engel, der Schwester von Ludwig Ganghofers Ehefrau Katinka, geb. Engel. Alfred Hermann Fried war der große Vorkämpfer für den Frieden der Menschheit und auch langjähriger Mitarbeiter von Berta von Suttner. Am 10. Dezember 1911 erhielt er den Friedensnobelpreis. Vor dem Hintergrund der damaligen wie auch gegenwärtigen, friedensbedrohenden Weltgeschehnisse ist Fried mit seiner immerwährenden Friedensbotschaft bis heute aktuell.

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