Auszug aus einem entstehenden Roman von Carola Gruber
Carola Gruber, geb. 1983 in Bonn, lebt als Autorin, Journalistin und Dozentin für Kreatives Schreiben in München. Gruber studierte Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus sowie Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in Berlin, Hildesheim und Montreal. An der Ludwig-Maximilians-Universität in München promovierte sie im Fachbereich Neuere Deutsche Literatur. Zuletzt war sie Stadtschreiberin von Regensburg (2015) und von Rottweil (2015). Nach ihrem Prosadebüt Alles an seinem Platz (2008) erschien der Kurzgeschichtenband Stoffelhoppels Untergang (2012). Ihr aktuelles Romanprojekt Alles über Zebras wird mit einem Literaturstipendium des Freistaats Bayern gefördert. Wir veröffentlichen einen Auszug aus dem entstehenden Roman.
*
Ankunft
Du schiebst den Wagen durch den Zoll. Du bist vorbereitet auf Nachfragen. Darauf, Laptop, Marmelade und Schokolade für die Frau des Chefredakteurs hervorzukramen, Fragen zu beantworten, Schokolade und Marmelade abzugeben.
Nichts.
Die Türen öffnen sich auf einen kurzen Gang. An einem Metallgeländer stehen Abholer. Du rollst den Wagen – langsam, als sei es womöglich ein Versehen, dass du nicht aufgehalten wirst, sondern hier bist, umgeben von Gesichtern, die du noch nie gesehen hast und deren Anblick dich daran erinnern, dass du auf einem fremden Kontinent bist. Du versuchst, die Langsamkeit wie Schreiten aussehen zu lassen, nicht wie Zögern oder Angst.
Jetzt ist es soweit, denkst du, du bist angekommen. Die Müdigkeit macht deine Gedanken träge und stolpern und doppelt. Dass du allein hier bist, denkst du, allein unter Fremden, und dass du dadurch, dass du diesen Zustand denkst, ihn wiederholst: Einmal passiert er dir, einmal stellst du ihn her, indem du ihn gedanklich abbildest, so dass du zweifach allein bist, und das aus Schlafmangel.
Du siehst dich nach dem Chefredakteur um. Ein Bild von ihm hast du im Internet gesehen. Doch die Männer hier sind älter oder jünger, ihr Haar hat eine andere Farbe, die Haut einen anderen Teint, die Gestalt ist schmächtiger oder korpulenter. Du bleibst stehen. Hat man dich vergessen?
Von links nähert sich eine Frau in schütterem Dunkelblond. Sie trägt eine anthrazitfarbene Weste. Auf Brusthöhe ist in Schwarz und Rot auf weißem Grund der Name der Zeitung gestickt. Das Kleidungsstück ist aufgeplustert – Luft und Futter. Wie eine Abenteuertouristin sieht die Frau darin aus. „Dorothea?“ fragt sie. Du nickst. Die Abenteurerin stellt sich als Karin vor. Du folgst ihr zum Auto.
Ein Land im Rest der Welt
Der Chefredakteur ist ein müde und überarbeitet wirkender Mann, etwas dicker als gesund. Er winkt dich zu sich in den Glaskasten, der an das Großraumbüro grenzt und von dem aus er die Mitarbeiter und ihre Monitore überblicken kann – er sitzt ihnen im Nacken, denkst du und fühlst dich nicht mehr aufnahmefähig. Du folgst der einladenden Geste und lässt dich auf einen der beiden Stühle sinken, die wie Skulpturen aus buntem Knetgummi aussehen. Die Tischplatte ist bedeckt mit Papierstapeln, einem Kalender, einer Schreibunterlage und einzelnen Zetteln darauf. Der Chef lächelt jovial, begrüßt dich im Land und verspricht dir eine „spannende, erlebnisreiche Zeit“. Die Wörter reiht er schnell aneinander, sichtlich bemüht, sich im laufenden Redaktionsbetrieb Zeit zu nehmen.
Er nennt ein paar Fakten, die du schon kennst: Namibia hat zweieinhalb Mal die Fläche von Deutschland bei 2,1 Millionen Einwohnern. „Wie Hamburg“, sagt er. Fünf Tageszeitungen gebe es im Land. Alle fünf erscheinen montags bis freitags.
„Wir machen klassischen Lokaljournalismus“, sagt er. Die deutschsprachige Zeitung ist Teil einer Holding, die auch eine englischsprachige und eine afrikaanssprachige Zeitung verlegt. Alle drei Zeitungen werden im Newsroom hinter dir produziert.
Er erklärt dir die Aufgaben: Politik International, Ver-mischtes – diese Seiten sollst du jeden Tag betreuen. Dazu die Kulturbeilage am Freitag. Er erläutert die Themensetzung anhand eines Posters an der Wand: SADC, Südafrikanische Entwicklungsgemeinschaft. Du hörst zu, dankbar dafür, dass der Chef nichts abfragt, weder die Nachbarländer noch die Mitgliedsstaaten der SADC: Südafrika, Angola, Botswana, Simbabwe, Mosambik, Kongo ... Du hast Mühe, die Augen offenzuhalten, es zuzulassen, dass sich neue Eindrücke den Weg in dein Gehirn bahnen.
„Erst Namibia, dann Südafrika und das südliche Afrika. Deutschland ist nur ein Land im Rest der Welt“, sagt der Chefredakteur.
[…]
Geschichtentausch
Ein Mensch wurde einmal falsch vom Flughafen abgeholt. Er erlebte eine andere Geschichte statt der eigenen: Die Dinge, die er erlebte, waren jemand anderem zugedacht. Sofort hätte dem falsch Abgeholten auffallen müssen, dass er versehentlich in eine fremde Geschichte geraten war. Doch er bemerkte den Fehler erst, als er bereits im Auto der Abholerin saß und die Savanne an ihm vorbeizog – sowie die falschen Straßenschilder. Ihm war es peinlich, dass er den Irrtum erst jetzt erkannte. Also schwieg er. Statt das Missverständnis aufzudecken, drückte er sich mit besonderer Überzeugung ins Polster des Beifahrersitzes, lachte besonders laut über die Witze, die man ihm auftischte, und nickte besonders verständig die Fakten ab, die man ihm erzählte – er fügte sich mustergültig in die Rolle, die ihm nicht zugedacht war. Der Neuankömmling passte sich so gut an, dass er mit der Zeit vergaß, dass er sich in eine fremde Geschichte gefügt hatte, dass jemand anderes ein Anrecht gehabt hätte, diese Dinge zu erleben, und dass er selbst, der falsch Abgeholte, eine andere Geschichte hätte erleben sollen.
Auszug aus einem entstehenden Roman von Carola Gruber>
Carola Gruber, geb. 1983 in Bonn, lebt als Autorin, Journalistin und Dozentin für Kreatives Schreiben in München. Gruber studierte Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus sowie Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in Berlin, Hildesheim und Montreal. An der Ludwig-Maximilians-Universität in München promovierte sie im Fachbereich Neuere Deutsche Literatur. Zuletzt war sie Stadtschreiberin von Regensburg (2015) und von Rottweil (2015). Nach ihrem Prosadebüt Alles an seinem Platz (2008) erschien der Kurzgeschichtenband Stoffelhoppels Untergang (2012). Ihr aktuelles Romanprojekt Alles über Zebras wird mit einem Literaturstipendium des Freistaats Bayern gefördert. Wir veröffentlichen einen Auszug aus dem entstehenden Roman.
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Ankunft
Du schiebst den Wagen durch den Zoll. Du bist vorbereitet auf Nachfragen. Darauf, Laptop, Marmelade und Schokolade für die Frau des Chefredakteurs hervorzukramen, Fragen zu beantworten, Schokolade und Marmelade abzugeben.
Nichts.
Die Türen öffnen sich auf einen kurzen Gang. An einem Metallgeländer stehen Abholer. Du rollst den Wagen – langsam, als sei es womöglich ein Versehen, dass du nicht aufgehalten wirst, sondern hier bist, umgeben von Gesichtern, die du noch nie gesehen hast und deren Anblick dich daran erinnern, dass du auf einem fremden Kontinent bist. Du versuchst, die Langsamkeit wie Schreiten aussehen zu lassen, nicht wie Zögern oder Angst.
Jetzt ist es soweit, denkst du, du bist angekommen. Die Müdigkeit macht deine Gedanken träge und stolpern und doppelt. Dass du allein hier bist, denkst du, allein unter Fremden, und dass du dadurch, dass du diesen Zustand denkst, ihn wiederholst: Einmal passiert er dir, einmal stellst du ihn her, indem du ihn gedanklich abbildest, so dass du zweifach allein bist, und das aus Schlafmangel.
Du siehst dich nach dem Chefredakteur um. Ein Bild von ihm hast du im Internet gesehen. Doch die Männer hier sind älter oder jünger, ihr Haar hat eine andere Farbe, die Haut einen anderen Teint, die Gestalt ist schmächtiger oder korpulenter. Du bleibst stehen. Hat man dich vergessen?
Von links nähert sich eine Frau in schütterem Dunkelblond. Sie trägt eine anthrazitfarbene Weste. Auf Brusthöhe ist in Schwarz und Rot auf weißem Grund der Name der Zeitung gestickt. Das Kleidungsstück ist aufgeplustert – Luft und Futter. Wie eine Abenteuertouristin sieht die Frau darin aus. „Dorothea?“ fragt sie. Du nickst. Die Abenteurerin stellt sich als Karin vor. Du folgst ihr zum Auto.
Ein Land im Rest der Welt
Der Chefredakteur ist ein müde und überarbeitet wirkender Mann, etwas dicker als gesund. Er winkt dich zu sich in den Glaskasten, der an das Großraumbüro grenzt und von dem aus er die Mitarbeiter und ihre Monitore überblicken kann – er sitzt ihnen im Nacken, denkst du und fühlst dich nicht mehr aufnahmefähig. Du folgst der einladenden Geste und lässt dich auf einen der beiden Stühle sinken, die wie Skulpturen aus buntem Knetgummi aussehen. Die Tischplatte ist bedeckt mit Papierstapeln, einem Kalender, einer Schreibunterlage und einzelnen Zetteln darauf. Der Chef lächelt jovial, begrüßt dich im Land und verspricht dir eine „spannende, erlebnisreiche Zeit“. Die Wörter reiht er schnell aneinander, sichtlich bemüht, sich im laufenden Redaktionsbetrieb Zeit zu nehmen.
Er nennt ein paar Fakten, die du schon kennst: Namibia hat zweieinhalb Mal die Fläche von Deutschland bei 2,1 Millionen Einwohnern. „Wie Hamburg“, sagt er. Fünf Tageszeitungen gebe es im Land. Alle fünf erscheinen montags bis freitags.
„Wir machen klassischen Lokaljournalismus“, sagt er. Die deutschsprachige Zeitung ist Teil einer Holding, die auch eine englischsprachige und eine afrikaanssprachige Zeitung verlegt. Alle drei Zeitungen werden im Newsroom hinter dir produziert.
Er erklärt dir die Aufgaben: Politik International, Ver-mischtes – diese Seiten sollst du jeden Tag betreuen. Dazu die Kulturbeilage am Freitag. Er erläutert die Themensetzung anhand eines Posters an der Wand: SADC, Südafrikanische Entwicklungsgemeinschaft. Du hörst zu, dankbar dafür, dass der Chef nichts abfragt, weder die Nachbarländer noch die Mitgliedsstaaten der SADC: Südafrika, Angola, Botswana, Simbabwe, Mosambik, Kongo ... Du hast Mühe, die Augen offenzuhalten, es zuzulassen, dass sich neue Eindrücke den Weg in dein Gehirn bahnen.
„Erst Namibia, dann Südafrika und das südliche Afrika. Deutschland ist nur ein Land im Rest der Welt“, sagt der Chefredakteur.
[…]
Geschichtentausch
Ein Mensch wurde einmal falsch vom Flughafen abgeholt. Er erlebte eine andere Geschichte statt der eigenen: Die Dinge, die er erlebte, waren jemand anderem zugedacht. Sofort hätte dem falsch Abgeholten auffallen müssen, dass er versehentlich in eine fremde Geschichte geraten war. Doch er bemerkte den Fehler erst, als er bereits im Auto der Abholerin saß und die Savanne an ihm vorbeizog – sowie die falschen Straßenschilder. Ihm war es peinlich, dass er den Irrtum erst jetzt erkannte. Also schwieg er. Statt das Missverständnis aufzudecken, drückte er sich mit besonderer Überzeugung ins Polster des Beifahrersitzes, lachte besonders laut über die Witze, die man ihm auftischte, und nickte besonders verständig die Fakten ab, die man ihm erzählte – er fügte sich mustergültig in die Rolle, die ihm nicht zugedacht war. Der Neuankömmling passte sich so gut an, dass er mit der Zeit vergaß, dass er sich in eine fremde Geschichte gefügt hatte, dass jemand anderes ein Anrecht gehabt hätte, diese Dinge zu erleben, und dass er selbst, der falsch Abgeholte, eine andere Geschichte hätte erleben sollen.