Der Simplicissimus wird 120. Harald Beck über die erste Nummer der berühmten satirischen Wochenzeitschrift
Am Samstag, dem 4. April 1896, also vor 120 Jahren, erschien die erste Nummer von Albert Langens Simplicissimus. Die vermeintlich strittige Antwort auf die Frage nach dem Erfinder des erfolgreichen Titels scheint durch einen „Notizbuch“-Eintrag in Maximilian Hardens Zukunft (Bd. 22, S. 136) vom 15. Januar 1898 geklärt:
Vor ein paar Jahren besuchte mich ein junger Verlagsbuchhändler, Herr Albert Langen aus Paris [...] er wollte nun meine Ansicht über den von ihm schon lange gehegten Plan hören, in Deutschland ein illustrirtes Blatt nach dem Muster des Gil Blas Illustré zu schaffen. [...] Fraglich war nur, ob es gelingen würde, in Deutschland die schreibenden und zeichnenden Mitarbeiter zu finden, die ein solches Blatt braucht: da Herr Langen, der an Forain, Steinlen, Chèret und Caran d’Ache den Blick geschärft hatte, über diesen Punkt aber sorglos war, rieth ich ihm zur Ausführung seines Planes und schlug für das neue Blatt den leicht dem Gedächtnis einzuprägenden Namen Simplicissimus vor, der mir geeignet schien, den deutschen Charakter der Zeitschrift zu zeigen und den Verleger von dem unnützen Unternehmen einer Nachahmung fremder Muster abzuschrecken.
Um Aufmerksamkeit für das „neue humoristische Wochenblatt“ zu wecken, hatte Langen im Januar 1896 unter anderem einen Preis von 600 Mark für ein originelles Werbeplakat ausgelobt, das dem Charakter des Heftes gerecht würde:
Es wird kein Witzblatt im engeren Sinne sein, sondern in seinem literarischen und illustrativen Theile hauptsächlich die humoristische und satirische Production pflegen und dabei stets auf dem Niveau wirklicher Kunst stehen. Unter Bevorzugung des heiteren Genres soll der „Simplicissimus“ ein Boden für Alles das werden, was heute in der Literatur und bildenden Kunst Bestes geleistet wird.
Die Annonce in der Wiener Neuen Freien Presse stellt ausdrücklich fest: „auch Oesterreicher können sich betheiligen“. Die unfreiwillige Ironie dieses Satzes sollte sich nur wenige Monate später herausstellen.
Ein Blatt, das eine ernstzunehmende „satirische Production“ anstrebte und sich nicht wie die Fliegenden Blätter auf meist biederes und anbiederndes Frotzeln verlegte, war in Deutschland ein Novum. Mit verständlichem Stolz also stellte Langen dem Vater seiner jungen Braut Dagny, Bjørnstjerne Bjørnson, und einigen Gästen noch im März die frisch gedruckte erste Nummer vor. Nicht alle Anwesenden waren gleichermaßen enthusiastisch: Mia Holm „nahm recht starkes Ärgernis an manchem, was sich ihr da bot, und fühlte sich bedrückt, weil sie auch ihren eignen Namen unter einem kleinen Prosabeitrag las“, ihr Sohn Korfiz aber, bald ein enger Mitarbeiter Langens, „fand die Nummer wundervoll“ und stellte weitblickend fest, „daß man sehr, sehr verschieden, aber anscheinend nicht gleichgültig lauwarm von der jungen Zeitschrift denken konnte.“
Am 26. März meldete das Börsenblatt, dass die neue „Illustrierte Wochenschrift“ mit einem tatsächlichen Verkauf von 300.000 Exemplaren starten würde. In der Vorbereitungsphase, als noch Otto Erich Hartleben für den Redakteursposten vorgesehen war, wurde prospektiven Mitarbeitern wie Dehmel, Holz, Lilliencron und Schnitzler gar mitgeteilt, dass die erste Nummer in einer Auflage von einer halben Million erscheinen würde. Langen hatte offensichtlich gehofft, dass der niedrige Preis von 10 Pfennigen dazu beitragen würde, eine derart weite Verbreitung zu erzielen. Den ursprünglich geplanten Termin für die Veröffentlichung der ersten Nummer, den 1. Januar 1896, aber sollte der erfahrene Konkurrent Georg Hirth mit seiner neuen Zeitschrift Die Jugend wahrnehmen, auf deren realistischeren Preis von 30 Pfennigen der Simplicissimus erst 10 Jahre später, dann aber mit spürbarem Erfolg umschwenkte. Trotz des niedrigen Preises und der Aufmerksamkeit, die das ungewöhnliche Format (38 x 27 cm) des achtseitigen Hefts auf sich zog, blieb der Verkauf der ersten Nummer drastisch hinter den Erwartungen zurück. Noch Ende des Jahres 1896 annoncierte der Verlag eine Luxus-Ausgabe des ersten Heftes zum Preis von 3 Mark.
Simplicissimus, 1. Jg. Nr. 8, 23. Mai 1896, Titelblatt
Der erste Simplicissimus wirkt in Bild und Text noch vergleichsweise harmlos und im Erscheinungsbild am Pariser Periodikum Gil Blas orientiert, auch wenn schon der Anfang von Wedekinds Erzählung Die Fürstin Russalka, der zudem das Titelblatt gewidmet war, reizwortbeladen wetterleuchtet: „Es wundert dich, wie ich dazu gekommen bin, Socialdemokratin zu werden und einen Socialistenführer zu heiraten?“
Das eröffnende anonyme Programmgedicht „Simplicissimus spricht“ ist wenig provokant; Kurzprosa und Gedichte, u.a. von Richard Dehmel und Theodor Wolff, die folgen, bieten dem Zensor keine Angriffspunkte. Gleiches gilt für Thomas Theodor Heines Hunderoman in sieben Bildern Wurst und Liebe, in dem allerdings schon eine noch graue Bulldogge einen verstohlenen ersten Auftritt hat. Mit Hermann Schlittgens Karikatur „König und Volk“ aber wird Satire greifbar. Die folgende Seite schließlich trägt den herausfordernden Titel „Huldigung“ über Herweghs Gedicht „1848“ und einem Herwegh gewidmeten Gedicht von Robert Eduard Prutz nebst der lapidaren Mitteilung, dass der Verlag den gesamten Nachlass Herweghs zur Veröffentlichung erworben hat. Dieser verbrecherisch starke Tobak stach zumindest dem k. und k. österreich-ungarischen Staatsanwalt Robert Hawlath in die empfindliche Wiener Nase.
Dass Thomas Theodor Heines rote Bulldogge, bald die Gallionsfigur des Blattes, in der achten Nummer auf die Titelseite des Simplicissimus stürmte, um ihr Bein gegen die Wiener Obrigkeit zu heben, war wohl ihm zu danken, wie diese Notiz in der Wiener Arbeiter-Zeitung vom 21. Mai 1896 kombinieren lässt:
„Simplicissimus“, eine seit kurzem in München erscheinende illustrirte Wochenschrift, die sich durch ihren frischen Ton und modernen Gehalt von den bisherigen Versuchen der „Jungen“ in der Malerei und Literatur vortheilhaft abhebt, hat nicht den Beifall des Herrn Hawlath erringen können. Die ersten Nummern wurden konfisziert, die erste Nummer wegen eines Gedichts von Herwegh aus dem Jahre 1848, und bald theilte sich die sittliche Entrüstung des Staatsanwalts dem Minister des Innern mit, worauf dem „Simplicissimus“ das Postdebit in Österreich entzogen wurde. Begründet wurde dieses Stück österreichischer Zensur mit der „aufrührerischen“ und „die Moral schädigenden Tendenz“ des „Simplicissimus“. Vergebens hat sich das Blatt von Politik ferngehalten und sich ausdrücklich bloß der Kunst gewidmet. Da es in ruhiger Betrachtung der Dinge, die sind, andere Gedichte und Erzählungen brachte, als in ein patriotisches Lesebuch für Gymnasiasten passen, ist es Herrn Hawlath aufrührerisch, und derselbe Staatsanwalt, der wöchentlich in Wien die ekelhaftesten, auf die Lüsternheit und Geilheit der blasirten männlichen und weiblichen Halbwelt spekulirenden „Witzblätter“ passiren läßt, fand die Moral des „Simplicissimus“ schädigend für den biederen österreichischen Unterthan.
Trotz – oder wegen? – dieser frühen Zensurattacke und noch folgenschwererer Majestätsbeleidigungen in späteren Jahren sollte sich Langens Prophezeiung in einer Annonce in der Wiener Montags-Post im November 1896 als bemerkenswert treffsicher erweisen:
Wie alles Neue, so wurde auch der Simplicissimus, einen kleinen gebildeten Leserkreis ausgeschlossen, eifrig im Publicum benörgelt. Nur zwei Parteien haben fest zu ihm gehalten: die Künstler und das Volk, das nach Bildung verlangt und für Aufklärung dankbar ist. Dieser erste und in Hinsicht auf das kurze Bestehen des Blattes durchschlagende Erfolg zeigt uns, dass die Idee ein billiges Kunst- und Kampfblatt zu schaffen ohne politische Tendenz, richtig war, und läßt uns ahnen, daß dieses Blatt in einigen Jahren das populärste und verbreiteste Blatt seiner Art in Deutschland sein wird.
Der Simplicissimus wird 120. Harald Beck über die erste Nummer der berühmten satirischen Wochenzeitschrift>
Am Samstag, dem 4. April 1896, also vor 120 Jahren, erschien die erste Nummer von Albert Langens Simplicissimus. Die vermeintlich strittige Antwort auf die Frage nach dem Erfinder des erfolgreichen Titels scheint durch einen „Notizbuch“-Eintrag in Maximilian Hardens Zukunft (Bd. 22, S. 136) vom 15. Januar 1898 geklärt:
Vor ein paar Jahren besuchte mich ein junger Verlagsbuchhändler, Herr Albert Langen aus Paris [...] er wollte nun meine Ansicht über den von ihm schon lange gehegten Plan hören, in Deutschland ein illustrirtes Blatt nach dem Muster des Gil Blas Illustré zu schaffen. [...] Fraglich war nur, ob es gelingen würde, in Deutschland die schreibenden und zeichnenden Mitarbeiter zu finden, die ein solches Blatt braucht: da Herr Langen, der an Forain, Steinlen, Chèret und Caran d’Ache den Blick geschärft hatte, über diesen Punkt aber sorglos war, rieth ich ihm zur Ausführung seines Planes und schlug für das neue Blatt den leicht dem Gedächtnis einzuprägenden Namen Simplicissimus vor, der mir geeignet schien, den deutschen Charakter der Zeitschrift zu zeigen und den Verleger von dem unnützen Unternehmen einer Nachahmung fremder Muster abzuschrecken.
Um Aufmerksamkeit für das „neue humoristische Wochenblatt“ zu wecken, hatte Langen im Januar 1896 unter anderem einen Preis von 600 Mark für ein originelles Werbeplakat ausgelobt, das dem Charakter des Heftes gerecht würde:
Es wird kein Witzblatt im engeren Sinne sein, sondern in seinem literarischen und illustrativen Theile hauptsächlich die humoristische und satirische Production pflegen und dabei stets auf dem Niveau wirklicher Kunst stehen. Unter Bevorzugung des heiteren Genres soll der „Simplicissimus“ ein Boden für Alles das werden, was heute in der Literatur und bildenden Kunst Bestes geleistet wird.
Die Annonce in der Wiener Neuen Freien Presse stellt ausdrücklich fest: „auch Oesterreicher können sich betheiligen“. Die unfreiwillige Ironie dieses Satzes sollte sich nur wenige Monate später herausstellen.
Ein Blatt, das eine ernstzunehmende „satirische Production“ anstrebte und sich nicht wie die Fliegenden Blätter auf meist biederes und anbiederndes Frotzeln verlegte, war in Deutschland ein Novum. Mit verständlichem Stolz also stellte Langen dem Vater seiner jungen Braut Dagny, Bjørnstjerne Bjørnson, und einigen Gästen noch im März die frisch gedruckte erste Nummer vor. Nicht alle Anwesenden waren gleichermaßen enthusiastisch: Mia Holm „nahm recht starkes Ärgernis an manchem, was sich ihr da bot, und fühlte sich bedrückt, weil sie auch ihren eignen Namen unter einem kleinen Prosabeitrag las“, ihr Sohn Korfiz aber, bald ein enger Mitarbeiter Langens, „fand die Nummer wundervoll“ und stellte weitblickend fest, „daß man sehr, sehr verschieden, aber anscheinend nicht gleichgültig lauwarm von der jungen Zeitschrift denken konnte.“
Am 26. März meldete das Börsenblatt, dass die neue „Illustrierte Wochenschrift“ mit einem tatsächlichen Verkauf von 300.000 Exemplaren starten würde. In der Vorbereitungsphase, als noch Otto Erich Hartleben für den Redakteursposten vorgesehen war, wurde prospektiven Mitarbeitern wie Dehmel, Holz, Lilliencron und Schnitzler gar mitgeteilt, dass die erste Nummer in einer Auflage von einer halben Million erscheinen würde. Langen hatte offensichtlich gehofft, dass der niedrige Preis von 10 Pfennigen dazu beitragen würde, eine derart weite Verbreitung zu erzielen. Den ursprünglich geplanten Termin für die Veröffentlichung der ersten Nummer, den 1. Januar 1896, aber sollte der erfahrene Konkurrent Georg Hirth mit seiner neuen Zeitschrift Die Jugend wahrnehmen, auf deren realistischeren Preis von 30 Pfennigen der Simplicissimus erst 10 Jahre später, dann aber mit spürbarem Erfolg umschwenkte. Trotz des niedrigen Preises und der Aufmerksamkeit, die das ungewöhnliche Format (38 x 27 cm) des achtseitigen Hefts auf sich zog, blieb der Verkauf der ersten Nummer drastisch hinter den Erwartungen zurück. Noch Ende des Jahres 1896 annoncierte der Verlag eine Luxus-Ausgabe des ersten Heftes zum Preis von 3 Mark.
Simplicissimus, 1. Jg. Nr. 8, 23. Mai 1896, Titelblatt
Der erste Simplicissimus wirkt in Bild und Text noch vergleichsweise harmlos und im Erscheinungsbild am Pariser Periodikum Gil Blas orientiert, auch wenn schon der Anfang von Wedekinds Erzählung Die Fürstin Russalka, der zudem das Titelblatt gewidmet war, reizwortbeladen wetterleuchtet: „Es wundert dich, wie ich dazu gekommen bin, Socialdemokratin zu werden und einen Socialistenführer zu heiraten?“
Das eröffnende anonyme Programmgedicht „Simplicissimus spricht“ ist wenig provokant; Kurzprosa und Gedichte, u.a. von Richard Dehmel und Theodor Wolff, die folgen, bieten dem Zensor keine Angriffspunkte. Gleiches gilt für Thomas Theodor Heines Hunderoman in sieben Bildern Wurst und Liebe, in dem allerdings schon eine noch graue Bulldogge einen verstohlenen ersten Auftritt hat. Mit Hermann Schlittgens Karikatur „König und Volk“ aber wird Satire greifbar. Die folgende Seite schließlich trägt den herausfordernden Titel „Huldigung“ über Herweghs Gedicht „1848“ und einem Herwegh gewidmeten Gedicht von Robert Eduard Prutz nebst der lapidaren Mitteilung, dass der Verlag den gesamten Nachlass Herweghs zur Veröffentlichung erworben hat. Dieser verbrecherisch starke Tobak stach zumindest dem k. und k. österreich-ungarischen Staatsanwalt Robert Hawlath in die empfindliche Wiener Nase.
Dass Thomas Theodor Heines rote Bulldogge, bald die Gallionsfigur des Blattes, in der achten Nummer auf die Titelseite des Simplicissimus stürmte, um ihr Bein gegen die Wiener Obrigkeit zu heben, war wohl ihm zu danken, wie diese Notiz in der Wiener Arbeiter-Zeitung vom 21. Mai 1896 kombinieren lässt:
„Simplicissimus“, eine seit kurzem in München erscheinende illustrirte Wochenschrift, die sich durch ihren frischen Ton und modernen Gehalt von den bisherigen Versuchen der „Jungen“ in der Malerei und Literatur vortheilhaft abhebt, hat nicht den Beifall des Herrn Hawlath erringen können. Die ersten Nummern wurden konfisziert, die erste Nummer wegen eines Gedichts von Herwegh aus dem Jahre 1848, und bald theilte sich die sittliche Entrüstung des Staatsanwalts dem Minister des Innern mit, worauf dem „Simplicissimus“ das Postdebit in Österreich entzogen wurde. Begründet wurde dieses Stück österreichischer Zensur mit der „aufrührerischen“ und „die Moral schädigenden Tendenz“ des „Simplicissimus“. Vergebens hat sich das Blatt von Politik ferngehalten und sich ausdrücklich bloß der Kunst gewidmet. Da es in ruhiger Betrachtung der Dinge, die sind, andere Gedichte und Erzählungen brachte, als in ein patriotisches Lesebuch für Gymnasiasten passen, ist es Herrn Hawlath aufrührerisch, und derselbe Staatsanwalt, der wöchentlich in Wien die ekelhaftesten, auf die Lüsternheit und Geilheit der blasirten männlichen und weiblichen Halbwelt spekulirenden „Witzblätter“ passiren läßt, fand die Moral des „Simplicissimus“ schädigend für den biederen österreichischen Unterthan.
Trotz – oder wegen? – dieser frühen Zensurattacke und noch folgenschwererer Majestätsbeleidigungen in späteren Jahren sollte sich Langens Prophezeiung in einer Annonce in der Wiener Montags-Post im November 1896 als bemerkenswert treffsicher erweisen:
Wie alles Neue, so wurde auch der Simplicissimus, einen kleinen gebildeten Leserkreis ausgeschlossen, eifrig im Publicum benörgelt. Nur zwei Parteien haben fest zu ihm gehalten: die Künstler und das Volk, das nach Bildung verlangt und für Aufklärung dankbar ist. Dieser erste und in Hinsicht auf das kurze Bestehen des Blattes durchschlagende Erfolg zeigt uns, dass die Idee ein billiges Kunst- und Kampfblatt zu schaffen ohne politische Tendenz, richtig war, und läßt uns ahnen, daß dieses Blatt in einigen Jahren das populärste und verbreiteste Blatt seiner Art in Deutschland sein wird.