Eine Fluchtgeschichte (5): aufgeschrieben von der Autorin Cornelia von Schelling

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© Max Kratzer

Im Vorfeld des Literaturfests München hat eine Reihe von Münchner Autorinnen und Autoren Flüchtlinge kennengelernt und gemeinsam mit ihnen ihre Fluchtgeschichten aufgeschrieben. Die Hoffnung im Gepäck hieß in der zweiten Festivalwoche die darauf aufbauende Veranstaltungsreihe des forum:autoren, und es ist zugleich der Titel einer Anthologie, die auf Anregung von REFUGIO München im Allitera Verlag erschienen ist. Darin finden sich Texte u.a. von Albert Ostermaier, Tilman Spengler, Friedrich Ani, Lena Gorelik, Doris Dörrie oder Dagmar Leupold. Die entstandenen Porträts, Reportagen, Interviews und Berichte wurden vom 23. bis 27.11.2015 im Lyrik Kabinett vorgestellt, meist auch mit Beteiligung der Geflüchteten. Wir publizieren einen Auszug aus dem Beitrag der Schriftstellerin Cornelia von Schelling, die auch Mitherausgeberin des Buches ist.

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Das Leben war nicht gut zu mir. Jetzt kann ich es endlich lieben

 

Als es passierte, war Ramadu acht Jahre alt.

Sie lebte seit der Trennung ihrer Eltern bei einer Tante in dem kleinen togoischen Dorf Kumondé. So hatte es ihr Vater bestimmt.

Eines Nachmittags schickte die Tante sie zur Nachbarin, sie solle sich bei ihr eine Pfanne ausleihen.

„Das wunderte mich, denn meine Tante besaß schon viele Pfannen. Aber ich sagte nichts, niemand widersprach meiner Tante. Also lief ich zur Nachbarin, die Tür ging auf, und ich spürte sofort, hier stimmt etwas nicht. Ich wollte weglaufen, doch die Nachbarin packte mich am Arm und zog mich ins Zimmer. Es war vollkommen dunkel, die Vorhänge waren zugezogen, mitten am Tag. Kaum schloss sich die Tür hinter mir, machte jemand ein Licht an. Jetzt sah ich die Frauen. Sie saßen auf dem Boden, es waren fünf. Sie schienen mich zu erwarten, jedenfalls begrüßten sie mich und lächelten mir zu. Dann sagte die Nachbarin, ich solle mich auf den Boden legen. Als ich nicht reagierte, standen alle Frauen auf einmal auf. Wie auf Befehl. Sie schlossen einen Kreis um mich und drückten mich nach unten.“

Ramadu ist heute 45 Jahre alt, sie wirkt stark. Perfekt geschminktes, tiefbraunes Gesicht, schulterlange Locken, warmer, aufmerksamer Blick. Man sieht ihr nicht an, was sie durchgemacht hat.

Ramadu spricht gut deutsch, mit einem leicht französischen Akzent. In Togo, bis 1960 französische Kolonie, ist die Amtssprache Französisch. Ramadu ist zugleich mit Tem aufgewachsen – einem der vielen Dialekte neben den Nationalsprachen Ewè, Kabyé und Kotokolí.

Während Ramadu von dem Nachmittag bei der Nachbarin erzählt, springt sie mehrmals vom Stuhl auf, atmet tief durch, schließt kurz die Augen. Dann setzt sie sich wieder und fährt fort.

„Es ging alles sehr schnell. Ich lag auf dem Rücken, vier Frauen hielten mich fest, oben an den Armen, unten an den Füßen, dann wurden meine Beine hochgezogen und auseinandergerissen. Die fünfte Frau presste ihren Fuß auf meinen Brustkorb, und die Nachbarin hielt meinen Kopf so fest, dass es weh tat. Ich gab keinen Laut von mir, das weiß ich noch. Wie gelähmt schaute ich in die harten, eiskalten Gesichter über mir. Die Frau am Fußende zerrte an meinem Rock. Da wusste ich, was sie vorhatten.“

Ramadu kann sich bis heute nicht erklären, wieso ihre Angst plötzlich weg war. Wie ausgelöscht. Stattdessen sprühten in ihrem Kopf die wildesten Funken, sagt sie, ihre Zunge löste sich, ihre Stimme war kräftig und fordernd.

„Lasst mich los! Ihr wisst, dass mich nur meine Tante zu Euch geschickt hat, nicht meine Mutter. Sie ist weit weg, und sie will nicht, dass ihre Tochter beschnitten wird. Das hat sie immer gesagt. Und wenn ihr es doch tut, sterbe ich. Und wenn ich dann wiedergeboren werde, komme ich zusammen mit meiner Mutter über euch und ihr werdet bis ans Ende eures Lebens verfolgt auf schreckliche Weise!“

Ramadu hatte Erwachsene darüber reden hören, dass Tote Lebende heimsuchen können und ihnen für immer den Frieden rauben. Mit scharfer kindlicher Intuition kämpfte sie gegen die mächtigen Beschneiderinnen an.

„Ich habe nicht geschrien, nicht gefleht. Als ob ich wusste, dass alle Mädchen schreien, erst vor Angst und dann vor Schmerzen, wenn die Rasierklinge in ihr Fleisch schneidet. Ich spürte, dass diese Frauen keine Barmherzigkeit kennen. Wer Beschneiderin wird, muss sich das Mitgefühl ganz und gar abgewöhnen. Ich war nur ein Kind, aber das erkannte ich instinktiv.“

Ramadu ist den Beschneiderinnen nicht geheuer. Dieses Mädchen ist anders als die anderen. Das jagt den abergläubischen Peinigerinnen Furcht ein. Sie halten inne, beraten sich kurz, lassen das Mädchen los und scheuchen es keifend aus dem Haus.

„Das ist der Tag, an dem ich mein Vertrauen verlor. In die anderen, in die Menschen. Aber nicht in mich. Ich hatte die Beschneiderinnen mit der Klugheit meines Herzens überlistet. Doch vermutlich um mich zu schützen, verschloss ich damals mein Herz und wurde sehr still.“

Seitdem Ramadu der Genitalverstümmelung entkommen war, ließ man sie in Ruhe. Sie ging zur Schule, besuchte dann und wann ihren Vater, die Geschwister, auch ihre Mutter. Mit 15 Jahren begann sie in einem Friseurgeschäft auszuhelfen, bereits mit 18 eröffnete sie ihren eigenen Salon im angrenzenden Burkina Faso. Eine junge Frau, der ihre Arbeit Freude machte. Doch der Vater schimpfte auf sie ein: Ein Friseurgeschäft sei nichts für eine achtbare muslimische Frau. Zu viele fragwürdige Mädchen in anzüglicher Kleidung. Stöckelschuhe, Schminke, lockere Gespräche. Ramadu soll Schneiderin werden. Weil sie nicht auf ihn hört, handelt der Vater. Auf seine Methode.